Йозеф Рот

Panoptikum


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      Der Polizeireporter Heinrich G

      Heinrich G., ein Polizeireporter, übte seinen Beruf schon seit mehr als zwanzig Jahren aus. Er war ein Mann von einem freundlichen, runden, heiteren Angesicht und einem behäbigen Körper. Er schien weder die Schnelligkeit zu besitzen, die sein Beruf erfordert, noch einen kritischen Sinn für die Erträglichkeit der Schrecken, über die er berichtete. Man hätte ihn etwa für den Direktor eines Puppentheaters halten können, auch für einen Schnellphotographen für verliebte Spaziergänger im Grünen, der flotten Nachlässigkeit wegen, mit der seine Hose in Querfalten auf die soliden Stiefel fiel, der sorglosen Willkür wegen, mit der ein breiter, windiger Schmetterling aus brauner Seide über dem kargen Ausschnitt der Weste flatterte, keine Krawatte mehr, sondern ein munteres Spielzeug der Lüfte. Die lächelnde Ruhe dieses Mannes lag über seinem Interesse für die blutigen Schauder der Kriminalistik wie ein heiterer Sommertag vor dem Eingang zu einer panoptikalen Schreckenskammer. Den harmlosen Freuden des Alltags schien sein Wesen zugewandt. Er schlenderte durch die Straßen, den Spazierstock in beiden Händen und beide Hände auf dem Rücken; dermaßen, daß es aussah, als erhielte er von rückwärts her die rundliche Wölbung seines Bauches. Oft blieb er vor den Schaufenstern stehn. Sein Blick suchte nicht die ausgestellten Gegenstände, sondern den Luftraum hinter der Scheibe, vielleicht aber auch sein eigenes Spiegelbild. Das Auge war verloren wie das eines Träumers, der zwecklos in den Himmel sieht. So ließ er sich von seinen vorübergehenden Freunden überraschen, deren er viele zählte. Es waren große, vierschrötige Männer mit viel zu kleinen, grünen Lodenhütchen auf glattrasierten Schädeln: Kriminalbeamte. Sie blieben stehen. Ihr Beruf hatte sie daran gewöhnt, die Menschen, mit denen sie in Verbindung treten wollten, zuerst zu beobachten und dann zu überraschen. Auch um einen Freund anzusprechen, legten sie ihre schwere Hand auf seine ahnungslose Schulter, als wollte ihr Mund schon »Im Namen des Gesetzes ...« sagen. Aber sie ließen nur ein mächtiges »Hallo!« erschallen. Heinrich G. wandte sich nicht um. Er wurde im Lauf des Tages so oft überrascht, seine rechte Schulter erhielt so viele freundschaftliche Schläge, sein Ohr vernahm so häufig das freundliche »Hallo«, daß er eher verwundert gewesen wäre, einmal eine Viertelstunde vor einem Schaufenster zu stehn, ohne angesprochen zu werden. Ohne seinen Blick von der Scheibe zu heben, sagte er, zu ihr gewandt: »Grüß Gott!« Der andere wartete. Erst eine geraume Weile später wurde er von Heinrich G. besehen und agnosziert: »Ah, das ist der Anton! Ich dachte, das wär' der Franz! Du hast aber genau dieselbe Hand. Eine Laune der Natur!« Hierauf setzten sich beide in Bewegung. Nach dem ersten Schritt zog Heinrich G. eine nackte Zigarre aus der linken oberen Westentasche. Er hielt die Zigarre ein wenig vor den Augen, drehte sie und sagte: »Delikate Havanna!« Dann schenkte er sie seinem Freund.

      Fast alle Kollegen trugen Aktentaschen und gingen mit eiligen Schritten über die Straße. Er allein schlenderte langsam dahin – und trug er gelegentlich eine Tasche, so waren keine Papiere und Zeitungen darin, sondern Lebensmittel, schöne blutige Fleischklumpen und herzerfrischende Möhrchen und flatternder Blättersalat. Denn er besuchte gerne die morgendlichen Märkte, von allen Händlern gegrüßt und freundlich mit einem Finger salutierend. Man brachte ihm alles entgegen. Er brauchte nicht zu wählen. Blieb er wortlos, einen Finger am Hutrand, die Zigarre zwischen den Lippen, vor einem Händler stehen, so wandte sich dieser um, ging zu seinen Körben, holte eine Ware hervor, packte sie ein und legte sie selbst in Heinrich G.'s Aktentasche. Heinrich G. zahlte. Alles spielte sich lautlos ab. Andere Kunden mußten warten.

      Seine Kollegen hatten bestimmte Bürostunden. Heinrich G. arbeitete unterwegs. Manchmal betrat er ein Kaffeehaus, salutierte, ging in die Telephonzelle, kramte aus der geräumigen Rocktasche ein paar zerknüllte Zettel hervor und telephonierte seiner Zeitung eine neue Schreckensnachricht. Sie bestand nur aus Rohmaterial, aus Namen, Daten, Fakten. Es waren Stichworte, keine Sätze. Ungefähr so lautete eine Meldung: »Heute, 26. April, Henriette Kralik ermordet aufgefunden, Polizei, Spur, Tagelöhner Richard Josef Haber, 32 Jahre, einmal Einbruch vorbestraft, abgeschafft, Aufenthalt ungesetzlich.« Er diktierte ein Dutzend Morde, Raubüberfälle, Einbrüche in Banken und Privathäuser, zündete die Zigarre wieder an und verließ das Kaffeehaus, einen Finger am Hutrand. Woher erfuhr er alle Grausamkeiten? Er entzog sie der Luft, in der sie gelegen waren, den Schaufenstern vielleicht, er entnahm sie dem »Hallo«, mit dem ihn seine Freunde begrüßten. Am Vormittag ging er zur Polizei. Der Posten vor dem Eingang salutierte und bekam von Heinrich G. eine Zigarre. In dem langen, halbdunklen Korridor, in dem die weißen Reihen der Türknöpfe aus Porzellan leuchteten, öffnete Heinrich G. eine Tür nach der andern, steckte den Kopf durch den Spalt, während gleichzeitig sein Stock, von der Linken am Rücken gehalten, ein paar lebhaftere Wedelbewegungen machte, als hätte er eine unmittelbare physiologische Beziehung zu der Zunge und den Lippen, die »Guten Morgen!« in die Büros hineinriefen. »Guten Morgen!«, kam es zurück. Die Tür schloß sich wieder, eine andere ging auf. Manchmal – es war nicht zu erkennen, aus welchen Gründen – trat Heinrich G. in eines der Zimmer und blieb ein paar Minuten. Pfeifend, mit gespitzten Lippen, die einen komischen kleinen, roten Fleck im Gesicht bildeten, trat er wieder in den Korridor. Das Liedchen, das er pfiff, ließ erkennen, daß er etwas Besonderes erfahren hatte. Er ging zur nächsten Tür, »Guten Morgen!« sagen. Dann stieg er in den zweiten Stock, unaufhörlich gegrüßt, unaufhörlich salutierend auf der Treppe, die von Auf- und Absteigenden bevölkert war. Im zweiten Stock, wo die Korridore etwas heller waren, wiederholte er seinen Morgengruß an den Türen. Durch einen anderen, rückwärtige Ausgang verließ er das Gebäude. Auch hier salutierte ein Posten. Und auch dieser bekam von Heinrich G. eine Zigarre.

      Zu einer späten Abendstunde, wenn die andern sich anschickten, nach Hause zu gehen, besuchte er die Redaktion. Er trat in sein Zimmer, das weit und kahl war, entzündete die Lampe, setzte sich an den Schreibtisch und zerknüllte den dicken Haufen von Papieren, die seit dem Morgen auf ihn gewartet hatten. Es waren Nachrichten von der Polizeikorrespondenz, die er alle schon kannte. Er kam von den Quellen, nichts Neues konnte er noch erfahren. Die Papiere beleidigten ihn fast. Längst hatte er alle Nachrichten »dem Blatt gegeben«, die sie enthalten mochten. Und wahrscheinlich enthielten sie nicht einmal alles, was er wußte. Der Tisch war leer. Das Tintenfaß trocken, die Federn rostig und zerbrochen. Heinrich G. schrieb nicht. Er brauchte nichts zu schreiben. Er saß vor seinem leeren Tisch, zog seine Schublade auf, entnahm ihr eine Handvoll »delikater Havannas«, schlug die Lade wieder zu und verließ das Zimmer. Wie er am Vormittag durch alle Türen der Polizei »Guten Morgen« gerufen hatte, so rief er jetzt durch alle Türen der Redaktion: »Guten Abend!« Die Redaktionsboten im Vorzimmer bekamen Havannas. Dann telephonierte Heinrich G. in ein Restaurant. Fünf Minuten später brachte ihm ein Kellner das Abendessen auf einer riesigen Platte. Es dampfte. Ein dichter, weißer Schaum rann über die Ränder des gläsernen Bierkrugs. Der Kellner bekam eine Havanna. Und nichts weiter geschah. Und nichts mehr habe ich zu erzählen. So, wie oben beschrieben, war Heinrich G., der Polizeireporter.

      Fräulein Larissa, der Modereporter

      Fräulein Larissa verfügte zwar über ein Pseudonym, aber anscheinend nicht über einen Familiennamen. Als hätten die Seltenheit und der fremde und schöne Klang ihres Vornamens Larissa von der bürgerlichen Pflicht befreit, noch einen anderen zu führen, oder als hätte sich dieser andere, weil er vielleicht zu simpel, geschämt, sich an die Seite eines Worts wie »Larissa« zu stellen.

      Sie war seit undenklichen Zeiten eine treue Mitarbeiterin des Blattes, die man aus Galanterie nicht eine »alte Mitarbeiterin« nennen konnte. Man sagte lieber: eine »langjährige«. In der Tat hatte die Galanterie ausnahmsweise nicht unrecht. Larissa war nicht mehr jung, aber sie blieb jugendlich. Ja, ihre Jugendlichkeit war keineswegs künstlich, sondern eher eine Art zweiter natürlicher Jugend, die mit der ersten die charakteristische anmutige Torheit gemein hatte. Ihr verdankte Larissa gelegentlich Bewegungen, Mißverständnisse, Aussprüche, rührende Manifestationen einer rührenden Ahnungslosigkeit, die den erwachsenen, ältlichen Menschen mit einem Schlag und nur für die Dauer einiger Sekunden in einen charmanten Backfisch verwandelten. Dann war Larissa wie ein junges Mädchen aus einer ganz fernen, verschollenen Zeit. Es war, als wäre sie vor langen Jahren in der Blüte ihrer Jugend gestorben und eben durch ein Wunder aus einem ewigen Schlaf erwacht, um ihre Jugend fortzusetzen. Sie war