Thomas Riedel

Abrechnung in London


Скачать книгу

zu trauen, denn im Türrahmen stand der riesige Bursche, mit dem er erst vor wenigen Minuten eine handfeste Auseinandersetzung hatte.

      Im ersten Augenblick wusste er nicht was er davon halten sollte. Aber es stand außer Zweifel, dass es sich um den Mann handelte, den er, wenn auch nur ganz kurz, bei Licht gesehen hatte. Den wuchtigen Körper, mit dem kantigen, fast kahlen Kopf hatte er sich fest einprägt. Und auch das Pflaster an der Stirn war ohne Frage erst kürzlich aufgeklebt worden. Bradley fragte sich, was der Mann hier wollte, warum er wiederauftauchte? Jetzt, da Scotland Yard jede Sekunde eintreffen musste, nachdem er vorher so eilig geflüchtet war. War es denkbar, dass er das Anrücken der Fahrzeuge gar nicht bemerkt hatte?

      »Wie kommen Sie dazu hier einzudringen, Mr. Bradley? Und vor allem …?«, setzte er mit grollendem Tenor an, kam aber nicht weiter, denn die Tür ging auf und die Beamten der Mordkommission traten ein. Allen voran Chief Inspector Alexander Primes.

      Nur zu gern hätte Bradley gewusst, was der Mann ihn fragen wollte, und noch mehr hätte ihn interessiert, woher der Riese seinen Namen wusste.

      »Hallo, Mr. Dorsey! Chief Inspector Primes, Scotland Yard«, stellte sich Primes vor und tippte zum Gruß mit dem Finger leicht an seine Schläfe. Dann wandte er sich an Bradley. »Hallo, Colin! Schön dich mal wieder zu sehen. Du hast dich in letzter Zeit ein wenig rargemacht.«

      Bradley blieb fast die Spucke weg, als er so plötzlich erfuhr, wer der Riese war. Darauf hätte ich eigentlich auch selbst kommen können, schalt er sich. Ich frage mich nur, warum sich der Kerl mit mir geschlagen und dann so fluchtartig davongemacht hat? Die Leiche muss er ja gesehen haben. Und vor allem: Was wollte seine Frau in diesem Zimmer?

      »Ich bin zutiefst erschüttert über das, was sich in meinem Haus ereignet hat, Chief Inspector«, brummte Dorsey reserviert, ohne dessen Gruß zu erwidern. »Ich kann es einfach nicht fassen.«

      »Ich möchte Sie bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten«, erklärte Primes ungerührt, »und zwar auf Ihrem Zimmer!« Er sah zu Bradley hinüber, der sofort verstand und mit einem Seitenblick auf die Couch wies, wo er die Tote gefunden hatte.

      »Wie kommen Sie dazu, mich in meinem eigenen Haus …«, begehrte Dorsey auf, wurde aber vom Chief Inspector direkt unterbrochen.

      »Folgen Sie meiner Anweisung! Ansonsten lasse ich Sie von meinen Männern wegen Behinderung festnehmen!«, knurrte Primes.

      Verärgert vor sich hin brummend, verließ Andrew Dorsey den Raum.

      Primes, Bradley und der Gerichtsmediziner standen eine Weile schweigend vor der Toten. Dann streifte sich der Arzt Gummihandschuhe über und begann mit einer ersten Untersuchung. Während einige Beamte des Yards die Durchsuchung des Zimmers übernahmen, zog Primes Bradley mit sich an den Tisch, wo sie sich setzten. Der Chief Inspector nahm sich eine Zigarette und hielt Bradley die Schachtel entgegen, der sich dankend eine herausfischte.

      »Jetzt weihe mich mal ein, Colin«, sagte er, nachdem er Bradley Feuer gegeben hatte. »Hier scheint allerhand passiert zu sein.«

      »Eine ganze Menge«, bestätigte Bradley nickend. Er nahm einen tiefen Zug, inhalierte und blies den Rauch zur Zimmerdecke. »Aber bevor ich dir darüber berichte, habe ich eine Frage: Es kommt mir so vor, als würdest du Dorsey gut kennen?«

      »Ich kenne ihn, weil er manchmal ein Gutachten als Psychiater in Gerichtsverfahren abgibt«, erklärte Primes. »Allerdings kann ich nicht gerade behaupten, dass ich ihn mögen würde. In meinen Augen verhält er sich recht selbstgefällig.«

      »Das beruhigt mich ein wenig«, grinste Bradley. »Dann hat ihm meine kleine Abreibung ja nicht geschadet.«

      »Dann hast du ihm also ...« Primes machte ebenfalls grinsend eine vielsagende Geste zur Stirn und spielte damit auf das Pflaster an, das Dorsey trug. Dann verdrehte er die Augen, als hätte er eine Flasche ›Galitzenstein‹ ausgetrunken. »Oh, du Unglückseliger!«, seufzte er und fügte mahnend hinzu: »Da kannst du dich auf etwas gefasst machen! Dorsey und der Kronanwalt Mitchell sind beste Freunde. Sie verkehren beide im ›Queen's Club‹ und haben einen gewissen Einfluss. Das kann dich ohne weiteres deine Zulassung kosten!«

      »Warum sollte es mal anders sein?«, erwiderte Bradley knurrend. Dann berichtete er ihm alles über das Zusammentreffen mit dem Psychiater.

      Der Chief Inspector hörte aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen, und blickte dann nachdenklich vor sich hin. »Eine wirklich komische Sache ist das«, meinte er, als Bradley geendet hatte. »Was könnte er hier gesucht haben? Dass er die Tote gesehen hat, darin stimme ich dir zu … Nur bin ich nicht davon überzeugt, dass er auch der Täter ist. Allerdings frage ich mich, wenn er selbst eine weiße Weste hat, warum er uns nicht von sich aus verständigt hat?«

      »Hier sehe ich auch nicht klar«, stimmte Bradley ihm zu und zog mit dem Taschentuch das Zigarettenetui hervor, das er zusammen mit der Zigarettenkippe auf dem Beistelltisch beim Telefon gefunden hatte.

      Primes warf einen Blick auf das Monogramm, öffnete das Etui, sah kurz hinein, klappte es wieder zu und steckte es in die Tasche.

      »Ich werde die Fingerabdrücke überprüfen lassen. Scheint als würde es Dorsey gehören und es entlastet ihn nicht gerade«, nickte er nachdenklich. »Jetzt berichte aber mal von Anfang an. Wie bist du überhaupt hierhergekommen?«

      Während Bradley diesem Wunsche nachkam und die Ereignisse der Reihe nach erzählte, lehnte sich Primes in seinem Sessel zurück und hielt die Augen halb geschlossen. So, wie es sein Vater, der legendäre Archibald Primes, früher oft gemacht hatte, erweckte er den Eindruck, als ob er schliefe, aber sein Gehör registrierte jede Einzelheit ganz genau, die ihm sein Freund mitteilte. »Hm«, brummte er, als Bradley schwieg. »Und du hast an der Toten kein Collier gesehen? Zumindest keines, wie es Mrs. Dorsey abhandengekommen war, und das du in ihrem Auftrag suchen solltest? Hast du das bewusste Schmuckstück gesehen? … Ich meine später, nachdem Mrs. Dorsey dir sagte, es hätte sich wieder angefunden?«

      Bradley schüttelte den Kopf. »Meine Auftraggeberin wurde böse, als ich die Schmuckkassette auch nur erwähnte. Das Collier kenne ich nur von der Beschreibung am Telefon her, als sie mich bat, danach zu suchen.«

      »Wenn die Herren einmal zu mir kommen würden?«, meldete sich plötzlich der Gerichtsmediziner, begleitet von einer auffordernden Geste mit der Hand. Dann richtete er sich auf, zog seine Handschuhe aus und packte sein Besteck in den Arztkoffer.

      »Und?«, fragte Primes und sah dabei auf das wächserne Gesicht der jungen Frau.

      »Gift!« entgegnete der Arzt und sah den Chief Inspector an. Dann fuhr er mit dem Finger hinter seine Brillengläser und wischte darüber. »Gift...! Aber keines der üblichen Symptome wie bei Veronal, Strychnin oder Zyankali. Das hier muss ein besonders aktives Toxin sein, ich schätze, ein organisches Gift, kein metallisches. Der Tod scheint binnen zwei bis drei Minuten eingetreten zu sein. Die Tat könnte zwei bis zweieinhalb Stunden zurückliegen. Genaueres kann ich erst nach der Autopsie der Leiche sagen«, berichtete der Arzt.

      »Können Sie mir schon sagen, wie das Gift verabreicht wurde?«, hakte Primes nach.

      Der Mediziner bückte sich, erfasste den Rand des hochgeschlossenen Kleides der Toten, nachdem er sich wieder den rechten Handschuh übergestreift hatte, und zog es vom Hals ein Stück abwärts. »Sehen Sie, hier? … Ein winziger Nadelstich! Die leichte Verfärbung, rührt eindeutig von einer subkutanen Injektion her.«

      Primes und Bradley machten sich darüber ihre eigenen Gedanken, während der Gerichtsmediziner das Kleid wieder emporzog und seinen Handschuh in die Tasche zurückwarf.

      »Den mysteriösen Anruf, der mich hergeführt hat, erhielt ich vor gut dreieinhalb Stunden «, bemerkte Bradley halblaut. »Der Mann könnte die Tat möglicherweise verübt haben. Zeit hatte er dazu jedenfalls genug.«

      »Ist ein Suizid denkbar, Doktor?«, erkundigte sich Primes, der ähnliche Gedanken hegte wie sein Freund.

      »Denkbar ist das gewiss, aber aus Erfahrung kann ich sagen, dass sich Betreffende eine bequemer erreichbare Stelle suchen … Zumeist den Arm