größer war, als die meisten Hütten insgesamt weiter unten. Der Begriff ‚Hütte’ war bei sechshundert Quadratmetern Wohnfläche eigentlich längst nicht mehr angebracht.
Aber das Beste war, dass das Anwesen von unten nicht zu sehen war. Nur wenige Einheimische wussten überhaupt, dass es dort oben auf dreitausenddreihundert Meter Höhe kurz unter dem Gipfel des Piz Julier, perfekt und unauffällig zwischen die Felsen gebaut, diese Berghütte gab.
Kim erinnerte sich jetzt, knapp zwanzig Jahre später noch sehr gut daran, dass sie sich damals ohne weiteres hatte vorstellen können, ihr halbes Leben in ‚Almost Heaven’ zu verbringen und beinahe war es auch so gekommen.
3
Piz Julier, 29. Januar 2010
Der Helikopter hatte Kim kurz nach vierzehn Uhr direkt von der Schule abgeholt, keine Ungewöhnlichkeit in ihrem Internat, das zu diesem Zweck gleich zwei Hubschrauberlandeplätze angelegt hatte.
Jetzt flogen sie auf zweitausendfünfhundert Meter Höhe durch die Täler auf den Engadin zu. Kim bewunderte die schneebedeckten Berge und freute sich ungemein auf die drei Tage ganz alleine in der Berghütte. Sie war seit dem Spätsommer nicht mehr dort oben gewesen und vermisste die Einsamkeit der Engadiner Bergwelt.
Die letzten Tage waren sehr anstrengend gewesen, zum einen die Vielzahl an Klausuren kurz vor dem Halbjahreszeugnis der zehnten Klasse, zum anderen die vielen übernervösen und zickigen Mitschüler, die es mal wieder bis zur letzten Sekunde hinausgeschoben hatten, sich auf die Arbeiten vorzubereiten, und dann am Prüfungsmorgen jeden, der sich nicht rechtzeitig retten konnte, mit unzähligen dummen Fragen belästigten. Der übliche Stress also, und die zehnte Klasse hatte es wirklich in sich, da jeder für die Oberstufe gut gewappnet dastehen wollte. Daher waren die Halbjahreszeugnisse hier um vieles wichtiger als in den Stufen darunter.
Kim bemerkte, dass der Helikopter erst sehr steil anstieg und sich anschließend senkte. Dann sah sie auch schon ‚Almost Heaven’ ein paar Dutzend Meter unter ihnen. Von oben konnte man den Bau zwar besser erkennen als von unten, trotzdem hatte es der Architekt erstaunlich gut hinbekommen, die Hütte so unauffällig wie möglich in die Berglandschaft zu integrieren. Ein erstaunlicher Anblick, jedes Mal.
„Wir sind da“, sagte Peter, der Pilot an Bord. Er hatte, wie immer, bereits am Vortag dafür gesorgt, dass das gesamte Gebäude unter ihnen für Kim lauschig warm sein würde. „Willst du noch ein paar Runden über den Berg drehen und dir die Gegend anschauen, Kimberly?“ fragte er auf Schweizerdeutsch. Er wusste nach zehn Jahren als Privatpilot der Familie sehr genau, wie sehr Kim die Umgebung hier mochte.
„Nein danke, Peter, lieb von Ihnen, aber gehen Sie ruhig schon runter“, antwortete Kim in akzentfreiem Hochdeutsch. Sie war immer schon der Meinung gewesen, dass Dialekte, selbst, wenn sie den Status als offizielle Sprache hatten, nicht mehr zeitgemäß waren. Die Menschheit liebte es eben, sich das Leben zu verkomplizieren. Direkte, einfache und effiziente Kommunikation hielt Kim für den wichtigsten Eckpfeiler des gesellschaftlichen Miteinanders, sogar noch vor Respekt und Liebe, die ohne effektive Kommunikation gar nicht erst aufkommen konnten. Daher verstand sie es absolut nicht, warum viele Völker immer noch versuchten, ihre altertümlichen Dialekte und Sprachen zu kultivieren, sodass selbst ihre Landsleute aus anderen Regionen sie oft nicht verstanden.
Kim verabschiedete sich nach der Landung von Peter, den sie immer schon sehr gemocht hatte, schnappte sich ihre kleine Louis-Vuitton-Reisetasche und wandte sich ‚Almost Heaven’ zu, während der Hubschrauber rasch wieder abhob und am Horizont verschwand.
Einmal im Haus, griff sie sich sofort eine Tüte Chips und eine Dose Cola und sprang direkt über die Lehne auf eines der drei bequemen Ledersofas mitten im Wohnzimmer. Da lag noch ein Buch von Dante, das sie im vorigen Sommer angefangen und nicht ganz fertig gelesen hatte. Es war die ‚Hölle’, der erste und wohl auch spannendste Teil seiner weltbekannten ‚Göttlichen Komödie’.
Um 18.36 Uhr rief ihre Mutter auf dem Handy an.
„Darling, bist du gut angekommen? Hast du heute schon die Nachrichten gehört?“
„Ja, mir geht es gut und nein, habe ich nicht, warum?“ antwortete Kim. Sie fand, dass Nachrichten allgemein überbewertet wurden, waren sie morgen doch sowieso schon Schnee von gestern. Allerdings klang ihre Mom sehr aufgeregt, was aber auch nicht unbedingt eine Seltenheit war.
„Es hat überall auf der Welt Aufstände, Revolutionen und sogar Putschversuche gegeben. In Europa, Amerika, Afrika, Asien und auch in Australien. Den ganzen Tag geht das nun schon so und wirkt fast schon konzertiert. Es gibt weltweit abertausende von Todesopfern. Ich bin so froh, dass du da oben jetzt in Sicherheit bist, denn selbst in der Schweiz gab es wohl schon Vorfälle. Die Rede ist von der größten Tragödie seit dem 2. Weltkrieg. Dein Vater kommt aus Krisenmeetings gar nicht mehr raus. Langsam machen wir uns wirklich Sorgen, was noch alles passieren kann.“
„Ihr seit dort doch bestimmt auch in Sicherheit, oder? Es gibt wohl keinen sichereren Ort auf der Welt als Davos Ende Januar, richtig?“ fragte Kim eher rhetorisch als wirklich besorgt. Dass die Welt am Abgrund war, wunderte sie eher weniger. Seit Herbst 2008, als die Finanzkrise sich in die deftigste Wirtschaftkrise seit Menschengedenken verwandelt hatte, war nichts mehr undenkbar. 2009 war dann alles nur noch schlimmer gekommen. Also war ein richtig großer Knall eigentlich schon längst zu erwarten gewesen. Der Kapitalismus auf Pump, vom kleinen Bürger angefangen bis hin zu all den großen Staaten, musste ja irgendwann an die Wand fahren. Als Schuldige und Helfer dabei sparte sie ihre eigene Familie bestimmt nicht aus, auch wenn sie es schon lange aufgegeben hatte, ihre Eltern damit zu konfrontieren. Es brachte sowieso nichts außer Stress im glücklichen Heim.
Letztendlich war Kim ja sehr froh darüber, das Privileg zu haben, ihr jetziges Leben zu führen und fast immer selbst die Wahl zu haben, welche Entscheidungen sie traf. Aber sie glaubte nicht an unendliches Wachstum. Diese Weisheit hatte Asien dem Westen voraus. Und sie war auch kein Fan von übermäßigen Schulden. Außerdem fand sie, dass man in dieser Welt den Wohlstand auf jeden Fall besser umverteilen musste. Wie das aber zu machen war, wusste sie allerdings selbst nicht.
„Ja, mach dir um uns keine Sorgen. Entspanne dich ein bisschen. Ich muss jetzt auflegen, es gibt gleich eine große Bridgerunde für alle Begleitpersonen vor dem Galadinner. Ich hoffe, dein Vater schafft es noch zum Abendessen. Wir telefonieren dann morgen früh. Küsschen, Darling“, entgegnete ihre Mom nun wieder im üblichen, etwas abgelenkten Ton.
„Mom, ich habe euch lieb.“ Kim trennte die Verbindung.
Anschließend entschloss sie sich, schon mal ihr Sony Notebook einzuschalten. Sie wollte aber noch ein bisschen an den Fitnessgeräten zu trainieren, fünfundvierzig Minuten auf dem Laufband joggen und sich danach ein wenig in die Sauna legen, bevor sie im Internet nachlesen würde, was ihre Mom da eigentlich gemeint hatte. Nach der abschließenden kalten Dusche döste sie allerdings auf dem Sofa ein und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Das Telefonat am frühen Abend sollte das letzte Mal sein, dass Kim mit ihrer Mutter gesprochen hatte.
4
Piz Julier, 30. Januar 2010
Kim wachte um kurz nach elf Uhr auf. Sie hatte nicht gut geschlafen und einen nimmer endenden Albtraum gehabt, in dem überall Menschen auf brutalste Weise von wilden Menschenmassen ermordet wurden. Natürlich, das Letzte, was sie gehört hatte, waren die schrecklichen Worte ihrer Mutter über die Geschehnisse des gestrigen Tages gewesen.
Eigenartig! Ihre Mom hätte eigentlich schon längst anrufen sollen. Sie liebte es, ihre Tochter an Wochenenden um neun Uhr morgens aus dem Bett zu holen.
Kim fing an, sich Sorgen zu machen und kramte ihr iPhone heraus. Sie hatte kein Netz, was so hoch in den Bergen durchaus mal vorkommen konnte.
Also, beschloss sie, nunmehr ihr Vorhaben vom Abend davor nachzuholen und ausnahmsweise die Nachrichten im Internet eingehend zu studieren. Ihr Sony Vaio war nicht mehr angeschaltet. Die Batterie musste über Nacht