Pier Becker

29. Januar 2010


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das Vorhandensein weiterer, ausführlicherer Experimente und deren akkurater Katalogisierung schließen. Ein Volltreffer für die Sowjets, falls diese Ergebnisse sich in den restlichen Akten befinden sollten.

      Igor hatte noch die Bilder des 27. Januar vor Augen. Unzählige regelrechte Käfige mit aberdutzenden von Versuchsopfern darin hatten sich in alle drei Dimensionen neben und in zweien der Labors gestapelt, die von den Nazis als gewöhnliche Lazarettbaracken getarnt worden waren. Viele der Opfer waren bereits tot gewesen, die meisten extrem unternährt, viele vergiftet und manche mit meist wirkungslosen Gegengiften behandelt worden. Andere waren brutalst verstümmelt worden, wieder andere stellenweise verbrannt, durch Einwirken von Feuer und Elektroschocks oder beides. Igor hatte sogar Geschöpfe entdeckt, die es eigentlich gar nicht geben durfte, Kreuzungen zwischen Mensch und Tier, skurrile Gestalten, zum Teil nicht lebensfähig- oder würdig.

      Die Nazis hatten es nicht mehr geschafft, ihre Versuchsergebnisse zu vernichten oder mitzunehmen, oder es hatte sie nicht mehr gekümmert. Zu diesem Zeitpunkt musste jedem halbwegs intelligenten Deutschen klar gewesen sein, dass dieser Krieg aussichtslos verloren war. Warum also sein Leben riskieren, um irgendwelche Akten oder Versuchsopfer zu beseitigen oder gar auf der Flucht mitzunehmen? Einige der Naziärzte waren sogar zurückgeblieben, in der Hoffnung, ihre zumindest für sie selbst lebenserfüllenden Studien unter sowjetischer Schirmherrschaft weiterverfolgen zu können. Manche davon waren in den ersten Minuten nach dem Einmarsch der Roten Armee regelrecht gelyncht worden, von wem genau, blieb unermittelt. Die wenigen deutschen Forscher, die ihrer gerechten Strafe fürs Erste entgangen waren, wurden bis zum heutigen Tage irgendwo festgehalten und verhört, wenn sie denn noch lebten. Stalin hielt nichts von Überläufern, und Igor machte sich daher keine sinnlosen Hoffnungen auf professionelle deutsche Unterstützung bei der Durchsicht der zwei Tonnen medizinischen Aktenmaterials, die er nun immer noch zur Hälfte vor sich hatte. Nachdem Igor Stalin darüber informiert hatte, dass die Deutschen alles penibel und haargenau dokumentiert hatten, hatte dieser die spurenlose Beseitigung der toten und noch lebenden Versuchsopfer befohlen. Er wollte keine Mitwisser, weder die Opfer selbst noch irgendwelche Rotarmisten, die Augenzeugen deren Abtransports hätten werden können. So war die Operation ‚Arche Noah’ lautlos von Statten gegangen. Keine Zeugen, keine Aufmerksamkeit, nichts, bis auf eben besagte zwei Tonnen Akten, die weiter nicht aufgefallen waren.

      Igor ging seit jenem Tag im Konzentrationslager ein Gedanke nicht mehr aus dem Kopf. Würde er als Arzt solche brutalen Versuche am Menschen mit seinem Gewissen verantworten können?

      Bisher hatte er noch nie an menschlichen Versuchsexemplaren experimentiert. Vor dem Krieg hatte er Schimpansen untersucht, seziert und versucht, sie mit Hunden zu kreuzen, meist ohne Erfolg und ohne jegliche für die Wissenschaft wichtige Erkenntnisse. Viele andere Experimente und Untersuchungen dieser Art waren damals ebenfalls fehlgeschlagen. Sein Wissen über die Genlehre war also meist nur theoretischer Natur und beruhte auf unzähligen Mutmaßungen.

      Nun erwartete man aber von ihm, alleinverantwortlich für die Weiterführung und den erfolgreichen Abschluss der genetischen Versuchsreihen der Nazis an Menschen zu zeichnen. Vielleicht war er bis vor ein paar Wochen wirklich noch zu naiv gewesen. Hatte er wirklich gedacht, sein großes Lebensziel sei mit der Sezierung und Kreuzung von Hunden und Affen zu erreichen? Waren die Deutschen nicht vielleicht deshalb allen anderen auch in diesem Fachgebiet so weit voraus, weil sie keine Skrupel hatten, wenige Einzelne, in ihren Augen Minderwertige, für ihr Allgemeinwohl zu opfern?

      Igor empfand Übelkeit bei dem Gedanken, dutzende Menschen zum Teil lebendig aufzuschneiden, zu untersuchen und dann wieder zusammenzuflicken, um sie schlussendlich mit neuartigen Genpräparaten fast sicher zu töten.

      Dann dachte er an seine verstorbenen Geschwister, seine Freundin Maria und all das Leid, dessen Zeuge er seit nunmehr fast vier Jahren geworden war und das diese schwerwiegende genetische Fehlprogrammierung des Menschen, wie er sie seit Jahren nunmehr nannte, ausgelöst hatte.

      In dieser Sekunde wusste Igor, was er zu tun hatte. Es musste ihm in nächster Zeit unbedingt gelingen, den genetischen Code des Menschen zu entschlüsseln. Dies war der einzige Weg zum Überleben der Menschheit. Die Zeit drang. Die Nazis hatten augenscheinlich exzellente Vorarbeit geleistet, und er war vom Schicksaal dazu auserwählt worden, eben diesen einzigartigen Schritt für die Menschheit zu vollenden. Und er würde sich dieser Verantwortung nicht entziehen.

      Drei Tage später sollte er endlich auf jene Akten stoßen, die bis ins letzte Detail dokumentierten, wie menschliche Chromosomen aufgebaut waren und wie man sie gezielt manipulieren und optimieren konnte. Der genetische Code des Menschen war am 20. Januar 1945 entschlüsselt worden. Verantwortlich gezeichnet dafür hatte Prof. Dr. Walter Streller, einer der sieben Tage später zusammen mit seinem gesamten Team gelynchten deutschen Ärzte.

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