Friedrich Nietzsche Nietzsche

Jenseits von Gut und Böse: Zur Genealogie der Moral


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Recht schätzt. Vorausgesetzt, was voran steht, dass man den Begriff »Philosoph« nicht auf den Philosophen einengt, der Bücher schreibt – oder gar seine Philosophie in Bücher bringt! – Einen letzten Zug zum Bilde des freigeisterischen Philosophen bringt Stendhal bei, den ich um des deutschen Geschmacks willen nicht unterlassen will zu unterstreichen: – denn er geht wider den deutschen Geschmack. »Pour être bon philosophe«, sagt dieser letzte grosse Psycholog, »il faut être sec, clair, sans illusion. Un banquier, qui a fait fortune, a une partie du caractère requis pour faire des découvertes en philosophie, c'est-'á-dire pour voir clair dans ce qui est.«

      40. Alles, was tief ist, liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben sogar einen Hass auf Bild und Gleichniss. Sollte nicht erst der Gegensatz die rechte Verkleidung sein, in der die Scham eines Gottes einhergienge? Eine fragwürdige Frage: es wäre wunderlich, wenn nicht irgend ein Mystiker schon dergleichen bei sich gewagt hätte. Es giebt Vorgänge so zarter Art, dass man gut thut, sie durch eine Grobheit zu verschütten und unkenntlich zu machen; es giebt Handlungen der Liebe und einer ausschweifenden Grossmuth, hinter denen nichts räthlicher ist, als einen Stock zu nehmen und den Augenzeugen durchzuprügeln: damit trübt man dessen Gedächtniss. Mancher versteht sich darauf, das eigne Gedächtniss zu trüben und zu misshandeln, um wenigstens an diesem einzigen Mitwisser seine Rache zu haben: – die Scham ist erfinderisch. Es sind nicht die schlimmsten Dinge, deren man sich am schlimmsten schämt: es ist nicht nur Arglist hinter einer Maske, – es giebt so viel Güte in der List. Ich könnte mir denken, dass ein Mensch, der etwas Kostbares und Verletzliches zu bergen hätte, grob und rund wie ein grünes altes schwerbeschlagenes Weinfass durch's Leben rollte: die Feinheit seiner Scham will es so. Einem Menschen, der Tiefe in der Scham hat, begegnen auch seine Schicksale und zarten Entscheidungen auf Wegen, zu denen Wenige je gelangen, und um deren Vorhandensein seine Nächsten und Vertrautesten nicht wissen dürfen: seine Lebensgefahr verbirgt sich ihren Augen und ebenso seine wieder eroberte Lebens-Sicherheit. Ein solcher Verborgener, der aus Instinkt das Reden zum Schweigen und Verschweigen braucht und unerschöpflich ist in der Ausflucht vor Mittheilung, will es und fördert es, dass eine Maske von ihm an seiner Statt in den Herzen und Köpfen seiner Freunde herum wandelt; und gesetzt, er will es nicht, so werden ihm eines Tages die Augen darüber aufgehn, dass es trotzdem dort eine Maske von ihm giebt, – und dass es gut so ist. Jeder tiefe Geist braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske, Dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er giebt.

      41. Man muss sich selbst seine Proben geben, dafür dass man zur Unabhängigkeit und zum Befehlen bestimmt ist; und dies zur rechten Zeit. Man soll seinen Proben nicht aus dem Wege gehn, obgleich sie vielleicht das gefährlichste Spiel sind, das man spielen kann, und zuletzt nur Proben, die vor uns selber als Zeugen und vor keinem anderen Richter abgelegt werden. Nicht an einer Person hängen bleiben: und sei sie die geliebteste, – jede Person ist ein Gefängniss, auch ein Winkel. Nicht an einem Vaterlande hängen bleiben: und sei es das leidendste und hülfbedürftigste, – es ist schon weniger schwer, sein Herz von einem siegreichen Vaterlande los zu binden. Nicht an einem Mitleiden hängen bleiben: und gälte es höheren Menschen, in deren seltne Marter und Hülflosigkeit uns ein Zufall hat blicken lassen. Nicht an einer Wissenschaft hängen bleiben: und locke sie Einen mit den kostbarsten, anscheinend gerade uns aufgesparten Funden. Nicht an seiner eignen Loslösung hängen bleiben, an jener wollüstigen Ferne und Fremde des Vogels, der immer weiter in die Höhe flieht, um immer mehr unter sich zu sehn: – die Gefahr des Fliegenden. Nicht an unsern eignen Tugenden hängen bleiben und als Ganzes das Opfer irgend einer Einzelheit an uns werden, zum Beispiel unsrer »Gastfreundschaft«: wie es die Gefahr der Gefahren bei hochgearteten und reichen Seelen ist, welche verschwenderisch, fast gleichgültig mit sich selbst umgehn und die Tugend der Liberalität bis zum Laster treiben. Man muss wissen, sich zu bewahren: stärkste Probe der Unabhängigkeit.

      42. Eine neue Gattung von Philosophen kommt herauf: ich wage es, sie auf einen nicht ungefährlichen Namen zu taufen. So wie ich sie errathe, so wie sie sich errathen lassen – denn es gehört zu ihrer Art, irgend worin Räthsel bleiben zu wollen –, möchten diese Philosophen der Zukunft ein Recht, vielleicht auch ein Unrecht darauf haben, als Versucher bezeichnet zu werden. Dieser Name selbst ist zuletzt nur ein Versuch, und, wenn man will, eine Versuchung.

      43. Sind es neue Freunde der »Wahrheit«, diese kommenden Philosophen? Wahrscheinlich genug: denn alle Philosophen liebten bisher ihre Wahrheiten. Sicherlich aber werden es keine Dogmatiker sein. Es muss ihnen wider den Stolz gehn, auch wider den Geschmack, wenn ihre Wahrheit gar noch eine Wahrheit für Jedermann sein soll: was bisher der geheime Wunsch und Hintersinn aller dogmatischen Bestrebungen war. »Mein Urtheil ist mein Urtheil: dazu hat nicht leicht auch ein Anderer das Recht« – sagt vielleicht solch ein Philosoph der Zukunft. Man muss den schlechten Geschmack von sich abthun, mit Vielen übereinstimmen zu wollen. »Gut« ist nicht mehr gut, wenn der Nachbar es in den Mund nimmt. Und wie könnte es gar ein »Gemeingut« geben! Das Wort widerspricht sich selbst: was gemein sein kann, hat immer nur wenig Werth. Zuletzt muss es so stehn, wie es steht und immer stand: die grossen Dinge bleiben für die Grossen übrig, die Abgründe für die Tiefen, die Zartheiten und Schauder für die Feinen, und, im Ganzen und Kurzen, alles Seltene für die Seltenen.

      44. Brauche ich nach alledem noch eigens zu sagen, dass auch sie freie, sehr freie Geister sein werden, diese Philosophen der Zukunft, – so gewiss sie auch nicht bloss freie Geister sein werden, sondern etwas Mehreres, Höheres, Grösseres und Gründlich-Anderes, das nicht verkannt und verwechselt werden will? Aber, indem ich dies sage, fühle ich fast ebenso sehr gegen sie selbst, als gegen uns, die wir ihre Herolde und Vorläufer sind, wir freien Geister! – die Schuldigkeit, ein altes dummes Vorurtheil und Missverständniss von uns gemeinsam fortzublasen, welches allzulange wie ein Nebel den Begriff »freier Geist« undurchsichtig gemacht hat. In allen Ländern Europa's und ebenso in Amerika giebt es jetzt Etwas, das Missbrauch mit diesem Namen treibt, eine sehr enge, eingefangne, an Ketten gelegte Art von Geistern, welche ungefähr das Gegentheil von dem wollen, was in unsern Absichten und Instinkten liegt, – nicht zu reden davon, dass sie in Hinsicht auf jene heraufkommenden neuen Philosophen erst recht zugemachte Fenster und verriegelte Thüren sein müssen. Sie gehören, kurz und schlimm, unter die Nivellirer, diese fälschlich genannten »freien Geister« – als beredte und schreibfingrige Sklaven des demokratischen Geschmacks und seiner »modernen Ideen«: allesammt Menschen ohne Einsamkeit, ohne eigne Einsamkeit, plumpe brave Burschen, welchen weder Muth noch achtbare Sitte abgesprochen werden soll, nur dass sie eben unfrei und zum Lachen oberflächlich sind, vor Allem mit ihrem Grundhange, in den Formen der bisherigen alten Gesellschaft ungefähr die Ursache für alles menschliche Elend und Missrathen zu sehn: wobei die Wahrheit glücklich auf den Kopf zu stehn kommt! Was sie mit allen Kräften erstreben möchten, ist das allgemeine grüne Weide-Glück der Heerde, mit Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Erleichterung des Lebens für Jedermann; ihre beiden am reichlichsten abgesungnen Lieder und Lehren heissen »Gleichheit der Rechte« und »Mitgefühl für alles Leidende«, – und das Leiden selbst wird von ihnen als Etwas genommen, das man abschaffen muss. Wir Umgekehrten, die wir uns ein Auge und ein Gewissen für die Frage aufgemacht haben, wo und wie bisher die Pflanze »Mensch« am kräftigsten in die Höhe gewachsen ist, vermeinen, dass dies jedes Mal unter den umgekehrten Bedingungen geschehn ist, dass dazu die Gefährlichkeit seiner Lage erst in's Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungskraft (sein »Geist« –) unter langem Druck und Zwang sich in's Feine und Verwegene entwickeln, sein Lebens-Wille bis zum unbedingten Macht-Willen gesteigert werden musste: – wir vermeinen, dass Härte, Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der Gasse und im Herzen, Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei jeder Art, dass alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und Schlangenhafte am Menschen so gut zur Erhöhung der Species »Mensch« dient, als sein Gegensatz: – wir sagen sogar nicht einmal genug, wenn wir nur so viel sagen, und befinden uns jedenfalls, mit unserm Reden und Schweigen an dieser Stelle, am andern Ende aller modernen Ideologie und Heerden-Wünschbarkeit: als deren Antipoden vielleicht? Was Wunder, dass wir »freien Geister« nicht gerade die mittheilsamsten Geister sind? dass wir nicht in jedem Betrachte zu verrathen wünschen, wovon ein Geist sich frei machen kann und wohin er dann vielleicht getrieben wird? Und was es mit der gefährlichen Formel »jenseits von Gut und Böse« auf sich hat, mit der wir uns zum Mindesten vor Verwechslung