Dirk Harms

Bevor die Welle bricht


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Erfolg heute, Schatz. Ich hab noch Zeit und leg mich wieder hin“, entgegnete sie. „Für den nötigen Ernst fehlen mir noch mindestens zwei Liter Schlaf.“

      „Wie wäre es stattdessen mit einem Liter Kaffee?“, versuchte Lars es noch einmal. Lisas Antwort war ein langes Gähnen, gefolgt von einem Kopfschütteln. Sie deutete ein Winken an und schickte sich an, die Küche zu verlassen.

      Sein neidischer Blick blieb von ihr unbemerkt. Bald kann ich wieder ausschlafen, dachte Lars und schlürfte seinen Kaffee. Und Zucker werden wir auch zur Genüge haben. Er musste im Betrieb nur einen einwandfreien Start erwischen: Wenn er prima einschlug, würde er eine vernünftige berufliche Perspektive haben. Das Kadergespräch hatte ihn zuversichtlich gestimmt und seinen Ehrgeiz geweckt.

      Ein Shiguli folgte Lars, als der vor das Haus trat und sich in Bewegung setzte. Das Fahrzeug hielt Abstand und fuhr im Schritttempo. Er bemerkte es nach einer Weile und sah sich um. Der Wagen bog mit quietschenden Reifen in eine Seitenstraße ein. Was sucht so ein Bonzenauto hier, dachte er eben noch, wunderte sich aber nich lange, zumal es dann plötzlich verschwand. Hatte er sich getäuscht, oder war das eben ein Berliner Kennzeichen gewesen? Er entschied sich, dem keinerlei Bedeutung beizumessen.

      In diesem Moment kam sein Bus und hielt an der einhundert Meter entfernten Haltestelle, also nahm Lars die Beine in die Hand.

      „Ein Erwachsener nach Strandfelde!“ Der Busfahrer kassierte ihn ab, händigte ihm den Fahrschein aus und stutzte plötzlich.

      „Na? Hier kann man gut Urlaub machen, was?“

      „Jaja, stimmt schon. Aber ich wohne hier.“

      „Aha? Schon lange? Hab dich noch nie gesehen hier, Junge.“ Lars grinste. „Offiziell erst seit gestern. Bei Lisa – ähm, Frau Kowalski.“

      Hier in Dünow an der Küste des Sundhaffs kannte und grüßte man sich, hatte Lisa ihm erzählt. Fremde und Neuankömmlinge blieben hier nicht lange unentdeckt. Nur deshalb hatte Lars es nicht bei einem flüchtigen Gruß bewenden lassen.

      Der Busfahrer wurde einen Moment lang nachdenklich. „Tjaja, schlimme Sache das, mit dem Vater von ihr, war schon seltsam, damals. Wäre er nicht nach dem Unfall auf See ertrunken, man hätte meinen können, er sei in Brasilien geblieben. Von der Handelsflotte war ja niemand an der Rettungsaktion beteiligt, soweit ich mich erinnere.“

      „Frankreich. Die BÖHLEN sank vor Frankreich letztes Jahr“, korrigierte Lars. Lisa trauerte noch immer um ihren Vater Hans, auch ihre Mutter kämpfte oft mit den Tränen, wenn das Thema zur Sprache kam. Umso mehr wusste Lars es zu schätzen, dass sie ihre Tochter nun gehen ließ. Beide hatten ihm immer wieder von der Havarie des Tankers auf hoher See erzählt.

      Der Öltanker war auf dem Rückweg aus Venezuela vor der westfranzösischen Küste von der Fahrrinne abgekommen. Nachdem eine nächtliche Grundberührung dem Schiffsrumpf eine erhebliche Beschädigung zugefügt, der Kapitän die Fahrt aber dennoch fortgesetzt hatte, nahm die BÖHLEN Kurs zurück auf die offene See, weg von der nahegelegenen Küste. Schließlich war der schwer zu manövrierende Tanker leck geschlagen und am folgenden Tag gesunken. Presseberichten zufolge waren Hilfsangebote zumindest von einem französischen Schiff seitens der BÖHLEN unbeantwortet geblieben. Einerseits löste diese skandalöse Entscheidung Entsetzen und Fassungslosigkeit aus, andererseits lag die politische Argumentationsweise des Kapitäns und des geretteten ersten Offiziers zunächst auf der Hand: Keine Hilfe vom Klassenfeind! Ölteppich hin, Menschenleben her. Nebenbei spielte auch die Angst des Kapitäns vor Konsequenzen eine Rolle. Als endlich ein Hilfsangebot per Funk kam, bestand er darauf, kein Risiko zu übernehmen und stellte diesbezüglich unübliche finanzielle Bedingungen. Seine seltsamen Bestrebungen, das Risiko der Rettung nicht tragen zu müssen, verhinderten ein frühzeitiges Eingreifen letztlich. Erst nach dem Untergang des Tankers half die Besatzung jenes Schiffes, dem der Kapitän das Risiko aufhalsen wollte. Elf Offiziere konnten gerettet werden.

      Außer ein diskretes Traueranschreiben mit verlogener Lobhudelei für den treu ergebenen Hans Kowalski, der für sozialistische Errungenschaften sein Leben heldenhaft einsetzte, gab es für die Kowalskis fortan keine Auskünfte und kein Lebenszeichen mehr.

      Die Ermittlungen, wenn es denn welche gab, schienen unter allerhöchster Geheimhaltung vollzogen zu werden.

      Ausschließlich westliche Medien überschlugen sich damals mit Spekulationen, Vorwürfen und Berichten über den gigantischen Ölteppich, der den Fischern in Venezuela und Frankreich das Fischen für Jahre unmöglich machen sollte. Kein Westfernsehgucker kam an diesen anklagenden Nachrichten über kurz oder lang vorbei.

      Die wenigen Überlebenden mussten unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der Medien langwierige Befragungen über sich ergehen lassen.

      Es kursierten verleumderische Gerüchte, wie eine sozialistische Zeitungsmeldung eines Zentralorgans vom Jahresanfang 1977 betonte. Dabei sei der Versuch offensichtlich, in diffamierender Weise die Schuld dem Kapitän zu zuschieben.

      Über die Todesopfer erfuhr man nichts. Man blieb dabei, Lisas Vater sei niemals gefunden worden, aber die ganze Familie einschließlich Lars bezweifelte, dass jemals an der Unglücksstelle eine Suche in der Gewässerzone des Klassenfeindes stattgefunden hatte, abgesehen von der Rettungsaktion in den Stunden nach dem Unglück. Abertausende Liter Öl trieben jetzt im Meer - wie sollten da Bergungsarbeiten möglich gewesen sein? Für die Hinterbliebenen hinterließ diese Art und Weise eine schmerzliche Ungewissheit, getragen von einer Trauer, die sich nie wieder legen würde, so lange sie lebten.

      Die Umschreibung des Hauses gemäß dem Testament von Hans Kowalski auf seine Tochter Lisa erwies sich als problemlose Lappalie ohne Formalitäten. Aus gutem Grund, denn man wusste um das Schicksal der Familie Kowalski und fürchtete, es könne auch von anderen Hinterbliebenen Nachforschungen und unbequeme Fragen geben.

      Außerdem glaubten die notariellen Stellen, die Stasi, das Seefahrtsamt, und das Kombinat für Seeverkehr und Hafenwirtschaft, somit habe die Familie Kowalski den Tod ihres Oberhauptes endgültig akzeptiert und würden keine lästigen Fragen mehr stellen. Eine entsprechende Auflage lag als schriftliche Erklärung in dreifacher Ausfertigung an jenem Tag für die neue Hauseigentümerin zur Unterschrift bereit.

      Lisa unterschrieb bereitwillig, wusste aber, dass das für sie nicht verbindlich zählte. So eine lächerliche Unterschrift bedeutete gar nichts.

      Jetzt, wo Lars über das alles so nachdachte, während er auf dem Weg nach Strandfelde zu seiner neuen Arbeitsstelle die Landschaft vor dem Busfenster vorbeigleiten sah, wurde ihm klar, dass Lisa und sein kleiner Schwager in spe Jonas ebenso wie Ingeborg seine Hilfe und Unterstützung brauchten. Er war nun der Mann in der Familie Kowalski. Wie auch immer, er würde er sich die größte Mühe geben.

      Die Straße führte unweit des alten Leuchtturmes entlang. Lars sah ihn durch das Busfenster und folgte dem wandernden Lichtkegel des Leuchtfeuers mit den Augen in Richtung Ostsee, soweit es die Morgendämmerung zuließ. Für einen Moment lang verspürte er Fernweh. Sein Chef, der Abteilungsleiter in der Finanzbuchhaltung eines Außenhandelsbetriebes, welcher dem Kombinat Schiffbau angeschlossen war, hatte ihm offenbart, er könne sogar Reisekader werden, wenn er sich dessen würdig erweise. Ohne Übertreibung seien Vertragsabschlüsse für Schiffe weltweit möglich, sogar im NSW. Über den fragenden Blick von Lars hatte Walter Klein sich herzlich amüsiert.

      „Sie haben noch viel zu lernen, Genosse. Das bedeutet nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet. Also es gibt auch dahin mitunter Dienstreisen, weil Absprachen zu treffen, Verhandlungen zu führen und Prozesse abzustimmen sind.“ Er hüstelte, drückte seine Zigarette in dem übervollen Aschenbecher auf demTisch aus, ohne sich hinzusetzen und knöpfte sein Jackett zu. „Entschuldige mich, ich habe jetzt einen Termin.“ Plötzlich duzte er Lars, da er eben wie er glaubte, als Kumpel zu ihm gesprochen hatte. Walter Klein wollte nicht der ständige einhundertprozentige Autoritätsmensch sein, für den ihn immer alle hielten, daher tat er so etwas öfter. Während sich die Kollegen untereinander ausnahmslos duzten, egal ob Genosse oder nicht, verkehrte er in der Chefetage, wo es offiziell keine Duzbrüderschaften geben durfte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er das geändert und