Thomas Hölscher

Die Reise nach Ameland


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für einige Kursteilnehmerinnen bemüht und um halb sieben mit der S-Bahn nach Hause fahren wollen. Und dann war er in der großen Empfangshalle des Bahnhofs Michel begegnet.

      Und weil auch Michel dort nichts gesucht hatte, hatten sie anschließend beide nicht gewusst, was nun zu tun war. Gerade das hatte diesen Abend so einzigartig gemacht. Und weil auch noch keine Sprache zwischen ihnen stand, die ihr Zusammensein unzweideutig auf den Punkt bringen wollte, war für ein paar Stunden plötzlich alles möglich gewesen. Ihre späteren Treffen waren jedesmal bis auf die Minute genau geplant gewesen, weil er sich immer nur für kurze Zeit von seinen Zwängen hatte freilügen können.

      Sie hatten schon oft über diesen ersten Abend gelacht. Zunächst waren sie ziellos durch die Kaufhäuser gelaufen, und als diese um halb neun Uhr geschlossen hatten, waren sie durch mehrere Kneipen gezogen und schließlich bei McDonalds gelandet.

      Weißt du eigentlich, dass ich mich bisher immer geweigert habe, so ein Lokal auch nur zu betreten?, hatte Michel ihn lachend gefragt.

      Und warum bist du jetzt mitgekommen?

      Ich weiß es auch nicht.

      Irgendwann hatte Michel vorgeschlagen, zu seiner Wohnung nach Arnhem zu fahren, und nicht einmal die große Entfernung war an jenem Abend irgendein Problem gewesen.

      Auch der Anruf bei Lisa nicht.

      Wo bleibst du denn? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?

      Sei bitte nicht böse. Wir sitzen hier noch bei Schorsch zusammen und sind alle schon ziemlich abgestürzt. Also warte nicht auf mich, du weißt ja, ich habe morgen frei. Da war nicht einmal die Angst gewesen, Lisa könne sich durch einen Rückruf bei dem Kollegen aus Dortmund Gewissheit verschaffen.

      Auf der Fahrt hatten sie nicht ein Wort gesprochen. Erst als sie die Vororte von Arnhem erreicht hatten, hatte Michel auf das riesige Hochhaus gezeigt. In diesem kippenhok wohne ich. Wie heißt das eigentlich auf deutsch?

      Es war bereits weit nach Mitternacht gewesen, als sie endlich in Michels Wohnung angekommen waren. Und plötzlich kamen die Ereignisse des heutigen Tages zurück, tat die Vorstellung weh, dass es diese Wohnung nicht mehr geben sollte.

      Er sah sich wieder mit Michel auf der zu kurzen Couch sitzen, wieder würde der Fernsehapparat laufen, was ihn fürchterlich irritierte, wieder würde Michel den Apparat nur leiser stellen, und schließlich würde er bei laufendem Fernseher den Kopf auf den Schoß des jungen Mannes legen, die Beine über die Lehne der zu kurzen Couch baumeln lassen, bis sie schmerzten und reden, reden, reden. Von Lisa, von den Kindern und vor allem von sich selber.

      Michel hatte seinen Kopf mit beiden Händen festgehalten und wortlos zugehört, bis es nichts mehr zu erzählen gab.

      Und jetzt glaubst du, dass du der einzige Mensch auf der Welt bist mit diesem Problem, hatte Michel schließlich gesagt und ihn zum ersten Mal geküsst. Zu seiner grenzenlosen Überraschung hatte der junge Mann es sogar zugelassen, dass er sich immer fester gegen dessen Körper presste, seine Hände zunächst über dessen Knie, dann über die Innenseiten der Oberschenkel streichen ließ. Michel hatte es nicht nur zugelassen, und schließlich waren bei ihm alle Dämme gebrochen.

      Nach dem Orgasmus war augenblicklich die Welt zusammengestürzt.

      Ich will sofort nach Hause.

      Weshalb machst du dir jetzt Vorwürfe? Bleib doch hier.

      Keine Sekunde länger. Ich will sofort nach Hause.

      Du tust mir sehr weh.

      So, warum denn?

      Ik hou van jou.

      Während er sich angezogen hatte, hatte Michel ihn in den Arm genommen und fest an sich gedrückt. Ik hou van jou. Dieser Satz hatte Panik in ihm ausgelöst. Er hatte ihn nicht verstanden, aber sofort gewusst, dass Michel damit nur eines gemeint haben konnte. Etwas, das nicht den Tatsachen entsprechen durfte.

      Es ist aber so, hatte Michel noch einmal gesagt: Ich liebe dich.

      Das geht nicht.

      Warum denn nicht?

      Es ist nicht so, wie du denkst.

      Michels völlig überraschtes Gesicht hatte ihn aggressiv werden lassen.

      Du musst dich vor den Spiegel stellen und es ganz laut sagen, hatte der junge Mann dann noch am gleichen Abend gemeint, und in dem Augenblick hatte er den ersten Streit mit Michel begonnen. Ich kann es nicht sagen, weil ich es nicht sagen will.

      Und so ist es noch heute, dachte er plötzlich. Ich will es nicht sagen, ich will es einfach nicht. Die eigene Sprache, die man beherrschte wie die Fähigkeit, zu laufen oder Treppen zu steigen, war ihm in den vergangenen Wochen immer suspekter geworden.

      Es ist doch ganz normal, dass du Angst davor hast.

      Ich habe aber keine Angst davor.

      Warum sagst du es dann nicht?

      Weil es so nicht stimmt. Das ist doch auch nur ein Wort, ein Vorurteil, eine Schublade der Gesellschaft, und es bedeutet nicht das, was mit mir los ist.

      Und wie nennst du das, was mit dir los ist? Bei dieser Frage hatte er zum ersten Mal geglaubt, zumindest für Sekunden dieses überlegene Grinsen in Michels Gesicht entdeckt zu haben, und er hatte nichts gesagt.

      Ich mach mir Sorgen um dich.

      Das brauchst du nicht. Dazu besteht kein Grund.

      Doch.

      Es goss mittlerweile wieder in Strömen, so dass selbst die weißen Fahrbahnmarkierungen oft nicht mehr sichtbar waren. Der Regen und der Kanal auf der rechten Fahrbahnseite vermittelten ihm den Eindruck, durch eine gigantische Wasserwüste zu fahren, und fast wäre er an dem Hinweisschild in Richtung Schagen vorbeigefahren. Als er die Geschwindigkeit abrupt verringerte, hupte jemand hinter ihm mehrfach. Es klang gereizt, und wütend zeigte er den beiden im Regen verschwimmenden Scheinwerfern den Vogel.

      Als dann plötzlich das Ortsschild von Schagen auftauchte, erschrak er fast. Hätte ihm heute morgen jemand gesagt, dass er am heutigen Tag noch nach Schagen fahren würde, er hätte nur gelacht. Schagen? Wo liegt das denn? Was soll ich da überhaupt?

      Und wie nennst du das, was da mit dir los ist? Genau diese Frage hatte auch Lisa ihm heute morgen gestellt, und auch da war er aggressiv geworden.

      Er lachte resigniert. Wie nennst du das, was mit dir los ist! Das war doch völlig egal! Wichtig war nur die Realität, und die blieb immer die gleiche, aussichtslos und unfassbar, ganz gleichgültig, welche Worte man sich dafür ausdachte: Er war ein verheirateter Mann, hatte eine Frau und drei Kinder und ging mit einem Schwulen ins Bett. Und er war heute einfach weggegangen von zu Hause, ohne genau sagen zu können, weshalb eigentlich.

      Weshalb eigentlich? Das hatte er Lisa heute morgen schließlich doch noch unmissverständlich beigebracht: Ich bin schwul, hatte er gesagt und war sich dabei vorgekommen wie ein drittklassiger Schauspieler an einem Provinztheater. Nein, ich habe keine homosexuellen Tendenzen in mir, war er Lisas Einwänden mit auswendig gelernten Worten begegnet. Ich bin schwul, und das musst du einfach einsehen.

      Lisa hatte es nicht geglaubt. Sie hatte es einfach nicht geglaubt. Wenn es eine andere Frau wäre, hatte sie fassungslos gesagt, dann täte das zwar weh, aber ich könnte wenigstens etwas damit anfangen. Aber so? Ich glaube, du weißt selber nicht, was du da sagst.

      Kurz hinter dem Ortsschild hielt er den Wagen direkt vor einem Stadtplan an einer Bushaltestelle an, deren Glasscheiben ringsum ganz offensichtlich mutwillig zerstört worden waren. Im strömenden Regen blickte er anschließend auf das verwirrende Labyrinth aus Wegen, Straßen, Ortsteilen. Die Namen sagten ihm nichts. Gar nichts.

      Nach kurzer Zeit war seine Kleidung völlig durchnässt, und er hatte nur noch einen Wunsch: endlich nach Hause fahren zu können.

      Dann kam ihm schlagartig noch zu Bewusstsein, dass es nun auch zu spät war, um in irgendeinem Geschäft noch Alkohol zu kaufen, ohne den er die letzten Wochen nicht hatte leben können. Den er gegen den Widerstand des