Thomas Hölscher

Die Reise nach Ameland


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Ferner einen fest umrissenen Abschnitt in seinem Leben, klar und deutlich abgetrennt von allem, was vorher und nachher war. Ein pubertärer Ausrutscher eben, wie ihn Millionen anderer Männer auch erlebt hatten. Mit ein paar katholischen Gewissensbissen natürlich, aber ansonsten ohne jede Bedeutung und der Erinnerung nicht wert.

      So etwas kann es doch gar nicht geben, hatte Michel sofort widersprochen, einen Lebensabschnitt, der von allem abgeschnitten ist, was vorher und nachher war. Dazu hast du diese Zeit im nachhinein gemacht, weil sie dir nicht ins Konzept passte. Du kommst mir vor wie jemand, der für irgendeine Bewerbung seinen Lebenslauf fälscht, weil er ein halbes Jahr Arbeitslosigkeit nicht erklären kann oder will. Belügen kann man auf Dauer aber nur andere, sich selber nicht.

      Also hatte er sich wie ein vom Nikolaus gemaßregeltes Kind vorgenommen, von nun an ganz ehrlich zu sein, und anschließend festgestellt, dass es da kaum etwas zu erzählen gab. Und auch nun nahm er sich vor, sich noch einmal vorbehaltlos an diesen Klaus Ferner zu erinnern, nichts, aber auch gar nichts auszulassen, was dem Finden einer Wahrheit hinderlich sein könnte, die andere so ganz offensichtlich von ihm wie ein endlich abzulegendes Geständnis einforderten.

      Es gab für diese Zeit in seinem Gedächtnis einfach keine Story, die im Laufe der Zeit ein fester Bestandteil seines Lebenslaufs geworden wäre, die man bei Bedarf hervorkramen und zum Besten geben konnte, keine dramatische Entwicklung, auf die sich im Laufe der Zeit das gesamte Geschehen eines halben Jahres verdichtet hätte. Es gab gar keine Entwicklung. Eine Katastrophe gab es allerdings, aber auch die war letztlich nur eine von vielen Episoden, Eindrücken und Stimmungen, und wäre sie gleich zu Beginn eingetreten, dann hätte man sich den ganzen Rest getrost ersparen können.

      Das siehst du ganz falsch, hatte Michel gemeint, und das weißt du auch. Dieser Klaus war eine große Chance für dich. Du hättest dir einen großen Umweg ersparen können; aber du selber hast damals diese Entwicklung einfach nicht zugelassen.

      Meinst du mit Umweg etwa meine Frau und meine Kinder? Er war selber erstaunt gewesen, wie aggressiv er auf Michels Bemerkung reagiert hatte.

      Nach der Katastrophe hatte er Klaus nicht mehr wiedergesehen, ihre Trennung erweckte auch in der Erinnerung nur ein kaum zu ertragendes Gefühl von Scham, auf keinen Fall irgendeinen Schmerz über den Verlust, kein Gekränktsein, am ehesten noch Reue, und plötzlich faszinierte ihn die Frage, wie dieser Mann heute nach fast dreißig Jahren wohl aussehen würde, was er machte, ob er verheiratet war, Kinder hatte. Und wenn ja, ob für ihn die ganze Geschichte damals so wichtig war, dass er sie seiner Frau oder irgendjemandem sonst jemals erzählt hatte.

      Er konnte sich das nur schwer vorstellen. Dafür war dieser Klaus gar kein Typ gewesen. Dieser Menschenschlag tat einfach etwas, und dann behielt er das für sich. Solche Menschen hatten nie dieses weinerliche Mitteilungsbedürfnis, das für ihn selber gerade in der letzten Zeit so offensichtlich typisch war. Und obschon er augenblicklich wieder eine tiefsitzende Abneigung gegen diese Vorstellung verspürte, konnte er schließlich doch zugeben, dass das tatsächlich das bestimmende Moment in ihrer Beziehung gewesen war: Klaus war der Starke, der Überlegene, er selber war der Schwächling, der prinzipiell Unterlegene. Dass andere sie oft für Brüder gehalten hatten, hatte daran nie etwas ändern können. Für ihn war das so gewesen, und aus diesem masochistischen Verhältnis hatte er damals irgendein perverses Vergnügen ziehen können. Genau darin hatte die Faszination bestanden, die Klaus Ferner zumindest für kurze Zeit auf ihn hatte ausüben können. Heute war ihm das alles unverständlich, dachte er sofort, schon die Erinnerung daran geradezu peinlich.

      An seine Depressionen, die in eben diesem halben Jahr so unerträglich geworden waren, dass die Eltern ihn zu einer Psychiaterin geschickt hatten, konnte er sich mittlerweile allerdings wieder sehr gut erinnern. Aber auch dieser Arztbesuch war eigentlich nur noch als eine Art Lachnummer in seinem Gedächtnis gewesen. Es war wirklich wie im dümmsten Psychiaterwitz, hatte er zu Michel gesagt; diese Frau kann nur Psychiater geworden sein, weil sie selber dringend einen brauchte.

      Michel hatte diese Bemerkung überhaupt nicht witzig gefunden. Wenn ich mir vorstelle, andere Männer sind alles, nur weil sie hetero sind, und ich bin gar nichts, nur weil ich schwul bin, dann würde ich auch depressiv. Ich bin überzeugt davon, dass deine Depressionen nur eine Reaktion darauf waren, dass du dein Schwulsein auch damals schon nicht akzeptiert hast.

      Das hätte ich gar nicht gekonnt, weil ich damals nicht mal das Wort schwul kannte.

      Ach hör doch auf! Das glaube ich dir nicht. Ich glaube eher, du hast dieses Wort gar nicht kennen wollen. Statt dessen gehst du lieber zum Psychiater und lässt dir deine Beschwerden in einer Sprache erklären, die auch die Gesellschaft akzeptiert. Du bist natürlich nicht schwul, du bist nur exogen depressiv. Aber so etwas rächt sich auf Dauer. Und dann macht man halt mühevolle Umwege.

      Obschon die Initiative eigentlich immer von ihm selber ausgegangen war, hatte es ihn irgendwann maßlos wütend gemacht, dass sein eigenes Leben für Michel anscheinend so klein und so gewöhnlich war, dass der sich ganz offensichtlich immer anmaßen konnte, es mit einem Mal überblicken und die Fehler darin aufzeigen zu können. Er hatte begonnen, diese Art des Denkens zu hassen, das die Vergangenheit sezierte, die einzelnen Teile bewertete und neu zusammensetzte, um sie dann als plausible Erklärung der Gegenwart heranziehen zu können. Mit diesem Denken erreichte man immer nur eines: man hatte Recht. Wenn ich die Wahl hätte, mir einen Vortrag über die Gefahren der Scheiße anzuhören oder selber reinzutreten, hatte er Michel schließlich gesagt, dann würde ich immer selber reintreten.

      Ja eben, hatte der diese Vorlage sofort aufgegriffen. Darum steckst du ja jetzt auch so tief drin. Am meisten hatte ihn an jenem Tag geärgert, dass Michel sich anschließend mehrfach für diese Bemerkung entschuldigt hatte.

      In der Erinnerung an die Zeit mit Klaus Ferner waren nur Bilder gewesen, nebulös und unwichtig, die in den Gesprächen mit Michel zunächst zu kurzen Episoden, schließlich zu einer Geschichte zusammengewachsen waren, die man bei Bedarf hervorkramen konnte, wenn man denn das Bedürfnis verspürte, sie zu erzählen. In dem formlosen Erinnerungsbrei mit seiner ungeordneten Abfolge von Bildern, Stimmungen, Episoden waren den einzelnen Elementen neue Bedeutungen und Gewichtungen unterstellt worden, bis er selber nicht mehr hatte sagen können, was von alledem Realität und was bloße Interpretation gewesen war.

      Das eindringlichste Bild war die blaue, engsitzende Cordhose, die, obschon bereits erheblich verschlissen, Klaus Ferner anscheinend immer getragen hatte. Diese Hose saß mit weit gespreizten Beinen und locker auf einem Fahrradsattel. Einen eindeutigen Anfang konnte es in der Erinnerung schon deshalb nicht geben, weil da immer die Tatsache blieb, dass sie schon vorher jahrelang nebeneinander gewohnt hatten, ohne einander überhaupt wahrzunehmen.

      Es war tatsächlich so: wenn eine Geschichte denn irgendwo beginnen musste, dann musste sie mit dieser blauen Cordhose beginnen. Und mit dem Fahrrad, auf dem Klaus Ferner saß, ein Bein auf der Pedale, ein Bein lässig auf dem Sims des Reihenhauses über den Kellerfenstern abgestützt. Wenn man sich nun noch einen lauen Frühlingsabend vorstellte, machte es tatsächlich keine Mühe, sich Klaus Ferner ins Gedächtnis zurückzurufen. Es musste im Frühling gewesen sein, weil alles nur ein halbes Jahr gedauert und die Katastrophe im Herbst stattgefunden hatte. Über die welken Blätter und die von Kindern mit Stöcken von den Bäumen geworfenen Kastanien war er Klaus letztendlich mit dem schlechtesten Gewissen der Welt nachgelaufen, um sich zu entschuldigen, irgendetwas klarzustellen, wieder hinzubiegen, obschon doch ganz klar gewesen war, dass es vorbei war, aus und vorbei für alle Zeit.

      Auch nun wollte er, dass ihm die Erinnerung an diese Dinge eher lästig, der Mühe eigentlich gar nicht wert war, dramatisiert zu werden. Vor allem war da immer noch ein Punkt gewesen, den er auch Michel gegenüber nur in stark alkoholisiertem Zustand hatte zugeben können: er habe zwar diesen Klaus auf einen für ihn selber unerreichbaren Sockel gestellt, aber genau das sei ihm damals immer bewusst gewesen. Das, was dieser Junge für ihn bedeutet habe, sei seine eigene Gedankenkonstruktion gewesen, sein intimstes Geheimnis sozusagen. Fast wie ein Objekt sei der für ihn gewesen, an dem er seine eigenen Vorstellungen in der Realität habe ausprobieren wollen. Seinen Klaus Ferner habe es für andere nie gegeben, den habe es eigentlich überhaupt nicht gegeben, nur eben für ihn selber. Und in Wahrheit habe er sich Klaus Ferner immer haushoch überlegen gefühlt,