Mein Kopf schmerzte nach dieser Bewegung ein wenig, beruhigte sich aber gleich wieder.
Dann wurde plötzlich die Tür geöffnet. Dr. Gajewski trat als Erster ein. Gefolgt von Schwester Judith, die einen Rollstuhl vor sich herschob.
Nun war es also soweit, dachte ich. Der aufregende Augenblick war gekommen. Endlich würde ich mich sehen oder das, was von mir übrig geblieben war. Verdammt, ich hatte einfach Angst.
»Nun, der Herr, sind Sie bereit?« Dr. Gajewski lächelte mich an, während er mit einer Handbewegung der Schwester anzeigte, wo sie den Rollstuhl hinstellen sollte.
»Von mir aus kann es losgehen«, antwortete ich ihm betont locker. Doch meine Stimme zitterte.
Sie entfernten die Schläuche der Magensonde und der Infusionsflaschen und halfen mir dann vorsichtig in den Rollstuhl. Die zwei Schritte bis zu meinem Gefährt fielen mir schwer. Ich spürte, wie meine Knie nach vier Monaten Ruhepause schmerzten und meine erschlafften Muskeln vergeblich versuchten das Gewicht meines Körpers zu halten.
Erschöpft sank ich in den Rollstuhl und ließ mich durch den Raum zur Waschecke chauffieren.
Dann nahm die Schwester den Spiegel von der Wand und stellte ihn hochkant auf das Waschbecken, damit ich mich im Sitzen sehen konnte.
Es war das erste Mal seit dem Erwachen, dass ich mich selbst sah.
Ein riesiger weißer Verband umhüllte meinen Kopf. Ich sah aus wie eine Mumie. Und ebenso geheimnisvoll, ja fast beängstigend starrten meine Augen in den Spiegel. Lauernd und durchdringend sahen sie mich an. Funkelnde, dunkelbraune Augen.
Mein Herz schlug schneller. Wovor hatte ich Angst? Es war lächerlich. Das war ich! Ich brauchte keine Angst zu haben!
Mein Blick glitt forschend über den Spiegel. Nun würde sich bald entscheiden, wie ich aussah. Würde sich ein von Narben zerfurchtes Monstergesicht oder das Bild einer Person zeigen, die sich womöglich wieder an sich selbst erinnerte? Vielleicht also die Antwort auf die Frage, wer ich war?
Dr. Gajewski begann den Verband zu lösen. Schicht für Schicht entfernte er von meinem Kopf. Gebannt starrte ich auf die Stellen, die der Verband freigab.
Schwarzes Haar kam zum Vorschein. Ich hatte also schwarzes Haar!
Es war kurz geschnitten und lag teils schweißverklebt am Kopf an, teils stand es ab, als Folge der Ablösung des Verbandes.
Dann fiel mir ein, dass ich mir diese Frage noch gar nicht gestellt hatte. Ich war wohl davon ausgegangen, dass die Haare beim Unfall verbrannt waren. Zum ersten Mal, seit ich vor dem Spiegel saß, brachte ich so etwas wie ein Lächeln zustande.
Der Doktor tat weiter seine Arbeit. Langsam aber stetig gab der abgelöste Verband immer mehr von meinem Gesicht frei.
Die Kinnpartie sah gut aus, als sie zum Vorschein kam. Es waren weder Narben, noch war eine Rötung zu sehen.
Ich hielt den Atem an, als die letzte Schicht, welche die Wangen bedeckte, abgenommen wurde.
Ja, ich hielt ihn sogar so lange an, bis der Doktor sich zu mir hinunterbeugte und mich im Spiegel ansah. Erst dann atmete ich aus.
»Nun?«, fragte er. Aber diese Frage war weit weg und schien aus einer ganz anderen Welt zu mir zu dringen.
Ich betrachtete mein Gesicht. Mein Gesicht? Ich erkannte es nicht, aber es war auch nicht entstellt, wie ich befürchtet hatte. Es sah ganz passabel aus. Der Chirurg hatte ganze Arbeit geleistet und in diesem Moment war ich glücklich.
Vorsichtig drehte ich meinen Kopf in die eine, dann in die andere Richtung. An beiden Kiefergelenken waren leichte Narben zu erkennen, jedoch standen sie in keinem Verhältnis zu den Schreckensbildern, die ich mir noch vor Minuten ausgemalt hatte.
Diese Narben würden sicher noch verblassen, so wie der Doktor es prophezeit hatte.
Eine schwere Last war von mir gefallen. Zumindest sah meine äußere Gestalt wieder menschlich aus.
»Wie fühlen Sie sich?«
Dieses Mal drang die Stimme des Doktors deutlicher an mein Ohr.
»Es ist in Ordnung«, stammelte ich und betrachtete weiter mein Gesicht.
Der Arzt klopfte mir auf die Schulter und begann zu lächeln. Mir entging jedoch nicht sein Aufatmen.
»Ich muss zum nächsten Patienten, Schwester Judith wird sich um Sie kümmern!«
Ich beachtete ihn nicht weiter.
»Soll ich Sie zurück ins Bett bringen?« Schwester Judith ergriff den Rollstuhl.
»Nein, ich würde gerne noch etwas hier bleiben und mich ansehen.«
Dann begann ich zu lächeln und fuhr fort: »Ich habe mich schließlich vier Monate nicht gesehen und Sie wissen wohl, dass es kein eitleres Geschöpf auf Erden gibt als den Mann.«
Sie begann zu lachen. »Ich werde in zehn Minuten noch einmal nach Ihnen sehen.« Dann verschwand sie.
Ich war froh, dass ich die Welt nun schon etwas positiver wahrnehmen konnte, und glücklich darüber, dass ich in ein Gesicht blickte, das nicht entstellt war.
Doch fiel ein Schatten auf dieses momentane Glück: Ich hatte mich nicht wiedererkannt, wusste immer noch nicht, wer ich war. Daran würde ich noch arbeiten müssen, wenn sich irgendwann die Erinnerung wieder einfinden sollte. Würde sie sich wieder einfinden? Der Zweifel nagte in meinem Herzen. Stärker aber war an diesem Tag die Hoffnung.
2
Vier Wochen waren vergangen. Ich befand mich noch immer im Hospital.
Krankengymnastik stand auf dem Programm, denn meine erschlafften Muskeln benötigten Bewegung, um wieder voll funktionstüchtig zu werden.
Ich hatte keine Gewalt über meinen Körper. Jede kleinste Bewegung verlangte mir eine große Kraftanstrengung ab.
Es machte mir Angst, so hilflos zu sein.
Aber mit der Zeit gewannen meine Muskeln durch das Krafttraining und die Wassergymnastik, die zu dieser Bewegungstherapie gehörten, ihre frühere Leistungsfähigkeit zurück. Bald schon brauchte ich den Rollstuhl nicht mehr und konnte Krücken benutzen.
Es gab mir Mut, mich endlich fortbewegen zu können, ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, obwohl ich die Anwesenheit von Schwester Judith, die sich hauptsächlich um mich kümmerte, als sehr angenehm empfand. Sie hatte ein natürliches Wesen, das fast immer Freude am Leben ausstrahlte. Ich glaube, letztendlich war das wohl die erfolgreichste Therapie, die ich erfuhr, auch wenn sie nicht bewusst verordnet worden war.
Die Krücken stellte ich schon bald in die Ecke. Ich tat mich zwar noch ein wenig schwer, so ganz ohne Stütze, und bei einem Hundert-Meter-Lauf würde ich die Nase wohl kaum vorne haben, aber ich konnte mich endlich wieder ohne Hilfsmittel bewegen. Das gab mir Zuversicht. Ich würde mein Schicksal in die Hand nehmen.
Die Gewalt über meinen Körper hatte ich also wiedererlangt. Anders sah das mit meinen Erinnerungen aus. Über meinem Gehirn lag noch immer eine Art Nebel. Ich konnte weder zu dem Unfall noch zu meinem Leben vor dem Unfall durchdringen .
Von Dr. Gajewski hatte ich erfahren, dass der Fahrer des Wagens, in dem ich mich befand, ein Handelsvertreter aus Kassel gewesen war. Er war noch an der Unfallstelle verstorben. Bei mir fand man keine Papiere, die mich ausweisen konnten. Die Polizei, die der Frau des Handelsvertreter dessen Tod mitteilte, befragte sie auch, ob sie denn wüsste, wer mit in dem Wagen gesessen habe. Sie war davon ausgegangen, dass ihr Mann wie immer alleine unterwegs war.
Hier kam ich ins Grübeln. Ich hatte in dem Wagen eines Mannes gesessen, der normalerweise allein unterwegs war. Was hatte ich in dem Auto zu suchen? Und was noch wichtiger war: Wohin war ich unterwegs gewesen? Aber es sollte noch mysteriöser werden.
Während der Zeit, in der ich im Koma lag, hatte