Hannes van de Lay

Die Leben des Michael Kassel


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überrumpelt suchte ich nach einer Antwort. »Ich glaube schon«, sagte ich forsch und setzte mich ihm gegenüber.

      Ein breites Lächeln trat auf sein Gesicht und entschlossen schlug er das Buch zu, in dem er gelesen hatte.

      »Was ist das?«, fragte ich ihn und deutete auf die Lektüre.

      »Die berühmtesten Schachspiele der Großmeister«, erklärte er mir engagiert. »Ich war gerade dabei, ein Spiel zwischen Karpow und Kasparow nachzuspielen.«

      Ich sah ihn überrascht an. Dieser Junge schien mir außergewöhnlich.

      »Wollen wir ein Spiel machen?« Er sah mich erwartungs- voll an. »Bitte! Hier spielt keiner mit mir Schach und alleine macht es nicht so viel Spaß.«

      Er sah mich flehend an und ich nickte ihm lächelnd zu.

      »Von mir aus. Erwarte aber nicht zu viel von mir.«

      Zügig stellte er die Figuren in die Ausgangspositionen und das Spiel konnte beginnen. Ich war mir im Klaren, dass ich diese Partie wohl verlieren würde, da ich kaum wusste, wie die einzelnen Figuren gezogen wurden, geschweige denn in die Geheimnisse verschiedener Strategien eingeweiht war.

      Nach zwölf Zügen war ich schachmatt. Enttäuscht ließ ich mich in den Stuhl zurückfallen. Der Junge grinste.

      Meine Niederlage ärgerte mich nicht wirklich, denn das Leuchten in seinen Augen gab mir mehr als jeder Sieg.

      »Sie sollten sich das Buch einmal durchlesen!«, meinte er nachsichtig.

      »Vielleicht sollte ich das wirklich.« Ich beschäftigte mich ernsthaft mit diesem Gedanken. Denn so eine Schlappe wollte ich nicht unbedingt noch einmal einstecken müssen. Doch eines interessierte mich. »Wo hast du so spielen gelernt?«

      Seine Miene wurde ernster und mir schien, als schmerzte ihn die Erinnerung ein wenig. »Unser Heimleiter hat es mir beigebracht.«

      Zögernd ging ich darauf ein: »Du wohnst in einem Heim?«

      »Ich hab dort gewohnt, bis ich hierher kam.« Seine Augen starrten auf das Schachspiel und er begann mit dem schwarzen König einige Kreise auf dem Brett zu ziehen. Ich schwieg, denn er kämpfte offensichtlich damit, noch etwas sagen zu wollen. »Ich bin ein Waisenkind!« Er sah mich kurz an und führte den schwarzen König nachdenklich zwischen den restlichen Figuren hindurch. Das Ganze war ihm peinlich.

      »Na und?«, sagte ich.

      Er sah mich erstaunt an. Mein Blick war aufrichtig, meine Bemerkung ehrlich gemeint. Ich wusste in diesem Moment, dass auch er das erkannte.

      »Sie finden das nicht schlimm?« Er klang verlegen.

      »Was soll ich schlimm finden?«

      »Dass ich keine Eltern mehr habe!«

      »Natürlich ist das traurig, aber dafür brauchst du dich doch nicht zu schämen.« Ich ergriff seine Hand, die den König hielt, und drückte sie sanft.

      »Die meisten Leute benehmen sich komisch!«

      »Auf solche Leute brauchst du nicht zu achten. Was sie denken, ist nicht wichtig«

      »Ja«, brachte er leise hervor und ich fand, dass es für den Augenblick genug mit dem Kummer sei, und schubste ihn aufmunternd an.

      »Hey, wie sieht es aus, gibst du mir eine Revanche?«

      Sein Gesicht begann sich wieder etwas aufzuhellen und er stellte den König zurück an seinen Platz.

      Das Spiel dauerte zehn Züge. Schachmatt.

      Noch ein Spiel. Vierzehn Züge. Welch ein Fortschritt!

      Wir spielten den ganzen Morgen. Dann gab es Essen und wir machten eine Pause. Aber schon am frühen Nachmittag fand ich mich wieder bei ihm ein und wir spielten weiter. Es war eine willkommene Abwechslung für uns beide und ich war froh, dass ich mich nicht mit meinem Zimmergenossen zu befassen brauchte.

      Ich verlor jedes Spiel, doch das trübte meinen Spaß an der Sache in keiner Weise. Es tat einfach gut, etwas anderes zu tun, als nur durch die Gänge zu schleichen oder im Bett zu liegen und an die Decke zu starren. Außerdem war es ein gutes Gehirntraining und vielleicht würde es dazu beitragen, dass ich mich schneller erinnerte.

      Mit einer sicheren Bewegung setzte Axel den Springer auf A 6. »Schachmatt!«, rief er aus und ich musste es nicht kontrollieren, denn sein Urteil war unumstößlich. Allmählich müde geworden von der geistigen Anstrengung rieb ich mir die Augen. Draußen war es schon dunkel.

      »Lass es für heute gut sein und uns morgen weiterspielen«, sagte ich zu ihm, hievte mich aus dem Stuhl und begann meine Glieder zu strecken, die vom langen Sitzen steif geworden waren.

      »Ganz bestimmt?«

      »Versprochen.«

      Immer noch etwas steif schlich ich zur Tür. »Bis morgen, Axel!«

      »Bis morgen, Herr...« Er stockte. »Entschuldigung!«

      Ich sah ihn lächelnd an. »Wofür? Es gibt keinen Grund.«

      Es war einen Moment still im Raum, dann verabschiedete ich mich noch einmal und verließ den Raum.

      Gedankenversunken ging ich den Flur entlang, bis ich zu einem der Balkone kam, die einem zumindest ein wenig das Gefühl vermittelten, nicht völlig eingesperrt zu sein. Ich trat hinaus an die frische Luft. Begierig sog ich sie ein. Dann sah ich auf die Lichter der Stadt. Sie leuchteten so intensiv, als seien es herabgefallene Sterne. Ich sehnte mich nach dem pulsierenden Leben, das dort unten vor sich ging, sehnte mich danach zu wissen, wohin ich gehörte.

      Ich stützte meine Arme auf das Geländer und verfiel in Melancholie. Irgendwo in der Ferne sah ich die Lichter eines Autos, die versuchten, eine einsame, dunkle Straße zu durchdringen. Der Fahrer in diesem Wagen wusste bestimmt, wohin er wollte. Er hatte ein klares Ziel. Viel- leicht war er gerade auf der Heimfahrt zu seiner Familie?

      Traurig sah ich den Lichtern nach, bis sie irgendwo draußen in der Dunkelheit verschwanden. Ich muss hier raus, sagte ich mir. Ich würde morgen mit Doktor Gajewski sprechen, nahm ich mir vor.

      Mit einem sehnsüchtigen Blick verabschiedete ich mich von den Lichtern der Stadt und trat wieder ein in das allabendliche Schweigen des St. Michael Hospitals.

      Mein Zimmergenosse war schon lange im Schlaf versunken und zersägte unzählige Bretter. Ich lag wach, wie so oft, und meine Gedanken kreisten um die Entlassung in das alltägliche Leben.

      Ich brauchte einen Namen, zumindest vorläufig, bis mir mein richtiger Name wieder einfiel. Ich ging im Kopf unzählige Namen durch und hoffte, dass der eine oder andere mir irgendetwas sagen würde, aber dem war nicht so. So begann ich schließlich nach einem Namen zu suchen, der in irgendeiner Weise zu mir passte. Ich brauchte nicht lange. Ich kam auf die Idee, mich Michael zu taufen in Anlehnung an den Namen des Hospitals, in dem ich mein neues Leben begonnen hatte. Mit dem Nachnamen war es schon ein wenig schwieriger, aber mein Gefühl und Verstand einigten sich auf Kassel, die Stadt, in der ich mich zumindest seit meinem Unfall aufhielt.

      Leise sprach ich meinen Namen aus: »Michael Kassel!« Es klang ganz plausibel und zum ersten Mal fühlte ich mich als eine wirkliche Person. Ich hätte nie geglaubt, dass zwei einfache Worte, ein alltäglicher Name, so viel Bedeutung haben könnten. Michael Kassel! Ich begann zu lächeln. Endlich war ich jemand. Auch wenn es nur ein fingierter Name war, so war es dennoch ein Fortschritt. Sollte mich nun jemand nach meinem Namen fragen, so konnte ich ihm zumindest antworten.

      »Michael Kassel!«, erklang meine Stimme aufs Neue.

      Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Ein Dialekt! Sprach ich einen Dialekt? Ich ärgerte mich, dass ich erst jetzt auf diese Idee kam. Sehr viele in diesem Krankenhaus sprachen hessisch. Sprach ich hessisch? Ich kramte weiter in meinem Gehirn. Was hatten wir noch anzubieten? Bayrisch, schwäbisch, sächsisch. Nein! Ich sprach keinen dieser Dialekte. Ich kam zu dem Schluss, dass ich ein reines Hochdeutsch sprach, was nicht unbedingt bedeuten musste, dass ich nicht doch aus einer dieser