Betriebe zogen ihn besonders an. Ihre Verlassenheit ging ihm zu Herzen, wie der Anblick menschlichen Elends, dessen Ursachen so verschiedenartig und tiefgründig sind. Sie konnten wertlos gewesen, sie konnten aber auch nur mißverstanden worden sein. Seine künftige Frau entdeckte als erste und wohl auch einzige dieses geheime Empfinden, das die stark gefühlsmäßige, fast stumme Einstellung dieses Mannes auf die dingliche Welt beherrschte. Und sofort fand ihre Neigung zu ihm, die mit ausgebreiteten Fittichen wie einer der Vögel geruht hatte, die von ebener Fläche schwer auffliegen können, den erhabenen Punkt, von dem aus sie sich in die Himmel aufzuschwingen vermochte.
Sie hatten einander in Italien kennengelernt, wo die künftige Frau Gould mit einer alten, blassen Tante lebte, die lange Jahre zuvor einen ältlichen, verarmten italienischen Marchese geheiratet hatte. Sie trauerte nun um den Mann, der es verstanden hatte, sein Leben dem Kampf für die Unabhängigkeit und Einheit seines Landes zu weihen und in seiner Freigebigkeit so überschwenglich zu sein wie einer der Jüngsten, die für die gleiche Sache fielen; für die Sache, unter deren Überbleibsel auch der alte Giorgio Viola zählte – so wie nach einer siegreichen Seeschlacht eine zerbrochene Spiere unbeachtet davontreiben mag. Die Marchesa, nonnenhaft in ihren schwarzen Gewändern, mit dem weißen Band über der Stirne, fühlte ein stilles, abgeschiedenes Dasein in einem Winkel im ersten Stock des alten, verfallenen Palastes, dessen große, leere Hallen zu ebener Erde, unter gemalten Decken, Getreide, Hühner und sogar Vieh zusammen mit der ganzen Familie des Pächters beherbergten.
Die beiden jungen Leute hatten sich in Lucca getroffen. Nach diesem Zusammentreffen besuchte Charles Gould keine Minen mehr, obwohl sie einmal zusammen im Wagen zu ein paar Marmorbrüchen hinausfuhren, wo die Arbeit insofern an Bergbau erinnerte, als sie auch darin bestand, die wertvollen Rohstoffe der Erde zu entreißen. Charles Gould erschloß ihr sein Herz nicht in wohlgesetzter Rede. Er fuhr einfach mit seinem Denken und Tun in ihrer Gegenwart fort. Hierin liegt die wahre Aufrichtigkeit. Eine seiner häufigen Bemerkungen war: »Ich denke mir manchmal, daß der arme Vater eine falsche Ansicht über diese San-Tomé-Sache hat.« Und sie erörterten diese Ansicht lange und eingehend, als hätten sie über den halben Erdball weg einen Dritten damit beeinflussen können; in Wirklichkeit aber erörterten sie sie, weil sich die Liebe in jeden Gegenstand einzuschleichen und noch in weitentlegenen Gesprächen zu leben vermag. Aus diesem natürlichen Grund waren diese Gespräche der Frau Gould während ihrer Verlobungszeit lieb. Charles fürchtete, daß Herr Gould, der Vater, seine Kräfte vergeudete und mit den fortwährenden Anstrengungen, die Konzession loszuwerden, seine Gesundheit untergrub. »Ich glaube fast, daß dies nicht die rechte Art ist, in der die Sache angefaßt werden sollte«, grübelte er laut vor sich hin, wie im Selbstgespräch. Und wenn sie ein offenes Erstaunen darüber äußerte, daß ein Mann von Charakter seine Tatkraft an Winkelzüge und Durchstechereien wenden sollte, da pflegte Charles Gould mit verständnisvollem Eingehen auf ihre Verwunderung zu erwidern: »Du darfst nicht vergessen, daß er dort drüben geboren ist.«
Sie machte sich mit ihrem raschen Verstand daran, das auszudenken, und gab dann, vielleicht nicht ganz folgerichtig, eine Antwort, die er aber als durchaus vernünftig gelten ließ, weil sie es ja tatsächlich auch war: »Nun gut, und du? Auch du bist drüben geboren.«
Er war um die Entgegnung nicht verlegen:
»Das ist etwas andres. Ich bin zehn Jahre weg gewesen. Vater hat nie eine so lange Ruhepause gehabt; und es ist nun mehr als dreißig Jahre her.«
Sie war die erste, der gegenüber er die Lippen öffnete, nachdem er die Nachricht von seines Vaters Tod erhalten hatte.
»Es hat ihn getötet!« – sagte er.
Er war mit der Nachricht geradewegs aus der Stadt hinausgegangen, gerade vor sich hin, in der Mittagssonne, auf der weißen Straße, und seine Füße hatten ihn mit ihr zusammengeführt, in der Halle des verfallenen Palastes, einem prachtvollen, entblößten Raum, von dessen kahlen Wänden da und dort ein Damastfetzen, schwarz vor Altersmoder, niederhing. Die Einrichtung bestand in einem vergoldeten Armstuhl mit zerbrochener Lehne und einem achteckigen Säulenständer mit einer schweren Marmorvase darauf, die mit gemeißelten Masken und Blumengirlanden geschmückt und von oben bis unten zersprungen war. Charles Gould war über und über bedeckt mit dem weißen Staub der Straße, der auf seinen Schuhen, seinen Schultern und der Mütze mit zwei Schirmen lag. Darunter hervor lief ihm das Wasser übers Gesicht, und mit der Rechten umklammerte er einen dicken eichenen Knotenstock.
Sie stand vor ihm, sehr bleich unter den Rosen auf ihrem großen Strohhut; in Handschuhen, einen hellen Sonnenschirm in der Hand, so wie sie im Begriff gewesen war, ihm bis an den Fuß des Hügels entgegenzugehen, wo drei Pappeln an der Mauer eines Weingartens standen.
»Es hat ihn getötet!« wiederholte er. »Er hätte noch viele Jahre vor sich haben müssen. Wir sind eine langlebige Familie.«
Sie war zu bestürzt, um irgend etwas sagen zu können; er sah mit starrem, forschendem Blick die gesprungene Marmorvase an, als hätte er beschlossen, sich ihre Form auf ewig einzuprägen. Erst als er plötzlich herumfuhr und zweimal hervorstammelte: »Ich bin zu dir gekommen... Ich bin geradewegs zu dir gekommen...«, ohne den Satz vollenden zu können – da erst kam ihr der ganze Jammer dieses einsamen, zerquälten Todes in Costaguana voll zum Bewußtsein. Er faßte ihre Hand, führte sie an die Lippen, und daraufhin ließ sie ihren Sonnenschirm fallen, streichelte ihm die Wangen, murmelte dazu »Armer Junge« und begann sich unter der niederhängenden Krempe ihres Hutes die Augen zu trocknen, sehr klein in ihrem einfachen, weißen Kleid, fast wie ein verlassenes Kind, weinend inmitten der verfallenen Größe des edlen Raumes; er aber, an ihrer Seite, war wieder in die unbewegliche Betrachtung der Marmorvase versunken.
Nachher machten sie sich zu einem langen Spaziergang auf, der schweigend verlief, bis Charles plötzlich ausrief:
»Ja! Wenn er's nur richtig angepackt hätte!«
Und dann blieben sie stehen. Überall lagen langgestreckte Schatten auf den Hügeln, auf den Straßen, auf den eingezäunten Olivengärten; die Schatten von Pappeln, breitästigen Kastanienbäumen, Bauernhöfen und Steinmauern; und durch die Luft zitterten dünne, flinke Glockenschläge, wie der klopfende Puls des Sonnenuntergangs. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, wie aus Überraschung darüber, daß er sie nicht mit dem gewohnten Ausdruck ansah. Der gewohnte Ausdruck war der unbedingter Anerkennung und Aufmerksamkeit. Er bezeugte dadurch ihre Macht, ohne an eigener Würde einzubüßen. Dieses schmächtige Mädchen mit den kleinen Füßen, kleinen Händen, dem kleinen Gesicht, auf dem so lieblich die schweren Haarflechten lasteten; mit dem ziemlich großen Mund, dessen Lippen sich in einer Art öffneten, die Offenheit und Großmut zu verkünden schien: dieses Mädchen hatte die verwöhnte Seele einer erfahrenen Frau. Vor allen Dingen und über alle Schmeicheleien hinaus wachte sie sorgsam über ihren Stolz auf den Mann ihrer Wahl. Der sah sie nun tatsächlich überhaupt nicht an; sein Ausdruck war gespannt und entrückt, wie ja nicht anders zu erwarten, bei einem Mann, der sich darin gefällt, am Kopf eines jungen Mädchens vorbei ins Leere zu starren.
»Nun ja. Es war unbillig. Sie haben ihm übel mitgespielt, dem armen alten Herrn. Oh, warum hat er mir nicht erlaubt, zu ihm zurückzukehren! Aber nun werde ich wohl wissen, wie ich die Sache anpacken muß.«
Nachdem er diese Worte mit ungeheuerer Selbstsicherheit gesprochen hatte, blickte er zu dem Mädchen nieder und wurde sofort eine Beute von Betrübnis, Unsicherheit und Angst.
Das einzige, was er nun zu wissen wünschte, sagte er, war, ob ihre Liebe stark genug wäre, ob sie den Mut haben würde, mit ihm weit weg zu gehen? Er legte ihr diese Frage mit angstzitternder Stimme vor, denn er war ein entschlossener Mann.
Ja, ihre Liebe war stark genug. Ja, sie wollte mit ihm mit. Und sofort hatte die künftige Gastgeberin aller Europäer in Sulaco das körperliche Gefühl, daß die Erde unter ihren Füßen wich, alles schwand, sogar noch die Glockentöne. Als ihre Füße wieder auf den Boden trafen, da läutete die Glocke im Tale immer noch. Das Mädchen griff sich mit den Händen ans Haar und sah schnell atmend die steinige Halde hinauf und hinunter. Die war erfreulich menschenleer. Unterdessen stieg Charles mit einem Fuß in einen trockenen, staubigen Graben und holte den aufgespannten Sonnenschirm herauf, der mit kriegerischem Lärm, wie von Trommelwirbeln, von ihnen weggehüpft war. Charles