wurde. Die Großen der Erde (in Sta. Marta) sparten die Posten in dem alten Westlichen Staat für ihre nächsten und liebsten Anhänger auf: Neffen, Brüder, Gatten von Lieblingsschwestern, Busenfreunde, treue Gefolgsleute, oder für wichtige Parteigänger, vor denen sie vielleicht Angst hatten. Es war die gesegnete Provinz der großen Möglichkeiten und der höchsten Gehälter, denn die San Tomé-Mine hatte ihre eigene, nichtamtliche Gehaltsliste, deren einzelne Posten und Gesamtbetrag, in gemeinsamer Beratung von Charles Gould und Señior Avellanos festgesetzt, einem bedeutenden Geschäftsmann in den Vereinigten Staaten bekannt waren, der in jedem Monat etwa zwanzig Minuten lang den Angelegenheiten von Sulaco seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmete. Zugleich bildeten sich auch in jenem Teil der Republik, unter dem stärkenden Einfluß der San Tomé-Mine, in aller Stille neue materielle Interessen heraus. So galt es zum Beispiel in den politischen Kreisen der Hauptstadt als ausgemacht, daß die Stellung eines Finanzamtspräsidenten in Sulaco die Vorstufe zum Finanzministerium bildete und daß das gleiche auch für andere Ämter galt; andererseits war die Geschäftswelt der Republik dahin gelangt, die Westliche Provinz als das gelobte Land der Sicherheit anzusehen, besonders, wenn man es verstand, mit der Verwaltung der Mine auf guten Fuß zu kommen. »Charles Gould – ausgezeichneter Mensch! Unerläßlich nötig, sich seiner zu versichern, bevor Sie einen einzigen Schritt tun; versuchen Sie eine Empfehlung an ihn von Morago zu bekommen – dem Agenten des Königs von Sulaco, Sie wissen doch.«
Kein Wunder also, daß Sir John, als er aus Europa gekommen war, um das Feld für seine Eisenbahn zu ebnen, auf Schritt und Tritt auf den Namen (und sogar den Spitznamen) von Charles Gould gestoßen war.
Der Agent der San Tomé-Mine in Sta. Marta (Sir John fand ihn liebenswürdig und gut unterrichtet) hatte unbestreitbar so viel dazu getan, um die Präsidentenreise zustande zu bringen, daß Sir John zu glauben begann, es könnte etwas Wahres an den geflüsterten Gerüchten sein, die von einem ungeheuren, geheimen Einfluß der Gould-Konzession wissen wollten. Dies Geflüster lief unter anderm darauf hinaus, daß die San Tomé-Mine, zum Teil wenigstens, die letzte Revolution finanziert habe, in deren Folge Don Vincente Ribiera, ein Mann von Bildung und untadeligem Charakter, für fünf Jahre zum Diktator gewählt und von den besten Elementen im Staate mit einer allgemeinen Umgestaltung betraut worden war. Ernste, gut unterrichtete Leute schienen daran zu glauben und auf bessere Zeiten, auf die Wiederkehr von Treu und Glauben, Gesetz und Ordnung im öffentlichen Leben zu hoffen. Um so besser, dachte Sir John. Er arbeitete immer in großem Maßstab. Das Bauprojekt der Nationalen Zentralbahn umfaßte auch den Plan eines Darlehens an den Staat, sowie den einer geregelten Besiedelung der Westlichen Provinz. Treu und Glaube, Ordnung, Ehrlichkeit, Frieden waren für diesen mächtigen Aufschwung materieller Interessen dringend nötig. Jedermann, der sich dazu bekannte, hatte in Sir Johns Augen Bedeutung, besonders dann, wenn er imstande war, zu helfen. Der »König von Sulaco« hatte ihn nicht enttäuscht. Die örtlichen Schwierigkeiten waren, ganz wie es der Chefingenieur vorausgesagt hatte, vor Charles Goulds Vermittlung gewichen. Sir John war in Sulaco sehr gefeiert worden, fast so sehr wie der Präsident-Diktator, eine Tatsache, die vielleicht die sichtlich böse Laune erklären konnte, die General Montero bei dem Mittagsmahl an Bord der Juno zur Schau trug, knapp vor der Abreise des Präsidenten-Diktators und der vornehmen ausländischen Gäste in seinem Gefolge.
Der Eccellentissimo (»Die Hoffnung der ehrlichen Leute«, wie ihn Don José in einer öffentlichen Rede namens der Provinzialversammlung von Sulaco angeredet hatte) saß am Kopfende des langen Tisches; Kapitän Mitchell, geradezu glotzäugig und purpurrot im Gesicht wegen der Feierlichkeit dieses »historischen Ereignisses«, nahm als Vertreter der O. S. N. Gesellschaft in Sulaco das Fußende des Tisches ein; zu beiden Seiten saßen ihm zunächst der Kapitän des Schiffes und einige kleinere Beamte der Regierung. Diese heiteren, dunkelfarbenen Herren warfen vergnügte Seitenblicke auf die Champagnerflaschen, die hinter dem Rücken der Gäste in den Händen der Schiffsstewards zu knallen begannen. Der bernsteinfarbene Wein schäumte bis zum Rande der Gläser.
Charles Gould hatte seinen Platz neben einem fremden Gesandten, der ihm in sorglosem Ton von Hetz- und Treibjagden erzählt hatte. Das wohlgenährte, blasse Gesicht, mit Einglas und hängendem, gelbem Schnurrbart, ließ im Gegensatz den Señor Administrador doppelt sonnverbrannt, noch flammender rot und hundertmal gespannter und schweigsamer lebendig erscheinen. Don José Avellanos saß an der Seite des andren ausländischen Diplomaten, eines dunklen Mannes von ruhig beobachtendem, selbstbewußtem Benehmen und deutlicher Zurückhaltung. Da für diesen Anlaß auf alle Etikette verzichtet worden war, so war General Montero der einzige in voller Uniform. Seine breite Brust schien durch einen Panzer aus Gold geschützt, so reich wirkte die Stickerei des Waffenrocks. Sir John hatte gleich zu Beginn seinen Platz am oberen Ende verlassen, um Frau Gould zur Nachbarin haben zu können.
Der große Finanzmann versuchte ihr seine Dankbarkeit für die Gastfreundschaft und die Anerkennung für ihres Gatten »ungeheuren Einfluß in diesem Landesteil« auszudrücken, als sie ihn durch ein leises »Still!« unterbrach. Der Präsident schickte sich zu einer kleinen Rede an.
Der Eccellentissimo hatte sich erhoben. Er sagte nur wenige Worte, die offenbar tief empfunden und vielleicht auch hauptsächlich für Avellanos – seinen alten Freund – bestimmt waren: über die Notwendigkeit, alle Kräfte aufzubieten, um dem Land zu dauernder Wohlfahrt zu verhelfen, das sich, wie er hoffte, nach diesem letzten Kampf zu immer reicherer Blüte entwickeln sollte.
Frau Gould hörte der weichen, etwas traurigen Stimme zu, betrachtete das runde, bebrillte Gesicht, den untersetzten, fast bis zur Bresthaftigkeit fetten Körper und bedachte dabei, daß dieser feinsinnige Mann, der, körperlich fast ein Krüppel, auf den Ruf seiner Mitbürger hin aus seiner stillen Zurückgezogenheit auf einem Schauplatz gefährlicher Kämpfe erschienen war – daß er also wohl ein Recht hatte, im Bewußtsein seines eigenen Opfers so zu sprechen. Und doch fühlte sie sich unbehaglich. Er gab mehr Gefühl als bindende Zusagen, dieser erste nicht militärische Staatsmann, den Costaguana je gekannt hatte, wie er nun, das Glas in der Hand, seine einfachen Worte von Ehrbarkeit, Frieden, Achtung vor dem Gesetz, politischer Überzeugungstreue im Auslande und daheim sprach – den Unterlagen nationaler Ehre.
Er setzte sich wieder. Während des achtungsvoll zustimmenden Gemurmels, das der Rede folgte, hob General Montero seine schweren, müden Augenlider und ließ seinen eigenartig stumpfen Blick über die Gesichter wandern. Der hinterwäldlerische Kriegsheld der Partei, obwohl insgeheim erschüttert von all dem Glanz und der Neuheit seiner Stellung (er war nie zuvor an Bord eines Schiffes gewesen und hatte das Meer höchstens von weitem gesehen), verstand gefühlsmäßig den Vorteil, den die mürrische, ungehobelte Art eines rauhen Kriegers ihm über all diese verfeinerten Blanco-Aristokraten gab. Aber warum sah ihn niemand an, fragte er sich ärgerlich. Er war sehr wohl imstande, Zeitungen zu lesen, und wußte, daß er die »größte kriegerische Heldentat der neueren Zeit« vollbracht hatte.
»Mein Gatte wünscht die Bahn«, sagte Frau Gould zu Sir John, inmitten des Gesummes der wiedererwachenden Gespräche. »Durch all dies wird die Zukunft nähergerückt, die wir für das Land ersehnen, für das Land, das, weiß Gott, lange genug in Schmerzen darauf gewartet hat. Aber ich will gestehen, daß ich neulich, als ich während einer nachmittägigen Spazierfahrt plötzlich einen Indianerjungen mit der roten Flagge einer Vermessungsabteilung aus dem Gehölz herausreiten sah, etwas wie einen Schlag empfand. Die Zukunft bedeutet Veränderung – völlige Veränderung. Und doch gibt es auch hier einfache und malerische Dinge, die man gerne erhalten sähe.«
Sir John hörte lächelnd zu. Doch nun war die Reihe an ihm, Frau Gould zum Schweigen zu mahnen.
»General Montero will reden«, flüsterte er und fügte unmittelbar in komischem Entsetzen hinzu: »Guter Gott! er will, scheint mir, gar meine Gesundheit ausbringen!«
General Montero hatte sich unter dem Rasseln seiner Säbelscheide und dem wilden Geglitzer seiner goldgestickten Brust erhoben; über dem Tischrand wurde die schwere Säbelkoppel an seiner Seite sichtbar; in seiner phantastischen Uniform, mit dem Stiernacken, der gegen das Ende abgeflachten Hakennase über dem blauschwarzen Schnurrbart, sah er wie ein verkleideter, finsterer Vaquero aus. Seine Stimme dröhnte merkwürdig ruhig und seelenlos. Er arbeitete sich stammelnd durch einige zusammenhanglose Sätze. Dann hob er plötzlich den großen Kopf zugleich mit der Stimme und schrie hinaus: