nicht, da man aus seiner Sicht schon zu einer Zeit hätte da sein sollen, als man selber noch nicht einmal geladen hatte. Nicht nur die Lagerhaltung wird auf die Straße verlegt, auch der Zeitdruck entlädt sich dort – und nur dort; bei den Ladestellen hat jeder anscheinend alle Zeit der Welt. Kein Mensch interessiert sich dafür, wie die Termine eingehalten werden, das ist dann das Problem des Fahrers.
Wir fahren durchs Edertal; ich fahre, um die Strecke kennen zu lernen. Bis nach Marburg nur Landstraße, dazu landschaftlich äußerst reizvoll, fast schon erholsam. Ich halte mich weitgehend an das Tempolimit, auch weil ich erst einmal ein Gefühl für die 40 Tonnen bekommen muss; zudem sind Spanplatten mit äußerster Vorsicht zu genießen. Die Ladung ist zwar gut gesichert, aber wenn Spanplatten ins Rutschen geraten, hält sie auch der beste Gurt nicht mehr, die Dinger sind extrem glatt!
Mein „Dienst nach Vorschrift“ führt natürlich dazu, dass wir nicht um vier in Nidda sind, dafür werden wir kurz vor dem Ziel auch noch von der Polizei angehalten. BAG[4] ist auch dabei, großes Aufgebot. Die freuen sich schon über den schönen Fang kurz vor Feierabend, nach dem Motto, wer mit so einer alten Kiste unterwegs ist, kann nicht ganz „sauber“ sein.
Peter ist jedoch Profi und textet die Herren erst einmal gekonnt zu: die üblichen Sprüche wie „die deutschen Fahrer kassiert Ihr ab, an die Ausländer traut Ihr euch nicht ran, die müsst Ihr mal kontrollieren. Werdet schon sehen, was Ihr davon habt, wenn nur noch Russen fahren....“.
Die BAG-Beamten lassen sich davon jedoch wenig beeindrucken. Natürlich hat Peter recht, es interessiert nur niemanden. Spätestens seit dem Zusammenbruch des Ostblocks ist jegliche Fernfahrer-Romantik passé, die Branche reichlich verkommen. Die deutschen Fahrer liefern sich ein Rattenrennen, das sie nur verlieren können. Zwei Ostblockfahrer sind immer noch billiger als ein deutscher, da kann der sich noch so anstrengen. Peter ist einer derjenigen, der das Rennen aufgenommen hat, wie sich noch zeigen wird.
Seit große Speditionen aus dem Westen die ehemaligen Staatsbetriebe des Ostblocks[5] übernommen haben oder auf andere Weise ihre Flotte teilweise in den Osten ausgeflaggt haben, herrscht Krieg auf den Straßen. Die kleineren Westbetriebe versuchen durch Einsparungen bei Personal und Wartung konkurrenzfähig zu bleiben, zudem steigt der Druck durch immer rigidere Lenk- und Ruhezeitvorschriften. Auch hierbei profitieren die Spediteure, die zwei Fahrer auf den LKW setzen können, denn diese sind in der Lage, sich abzuwechseln und so wesentlich seltener von Zwangspausen betroffen.
(Mercedes NG von SOMAT Bulgaria in Österreich 1981)
Natürlich hat sich auch für die Ostfahrer viel verändert. Auch dort gelten heute die Gesetze der Marktwirtschaft.
Staatsspeditionen wie Deutrans, SOMAT, RO-Tir oder SovTransAuto hatten häufig nicht einmal einen ernsthaften Fahrauftrag, sondern kamen in erster Linie aus Spionagegründen in den Westen. Damals stand vor jeder größeren Kaserne, Militärflugplatz oder sonstiger Installation von strategischem Interesse ein Deutrans-Laster.
SovTransAuto-Fahrer aus der Sowjetunion waren oft tagelang „verschollen“, bevor sie an der Ladestelle auftauchten. Dabei wurden dann oft Pseudo-Ladungen übernommen. So fuhren Lastzüge der STA ständig Kartons voller halbfertiger Schuhe vom Frankfurter Flughafen in die Sowjetunion. Air India brachte jede Woche mehrere Jumbo-Ladungen nach Frankfurt. Dass das ganze keinen wirtschaftlich begründeten Hintergrund haben konnte, war offensichtlich.
Da wir heute ausnahmsweise zu zweit unterwegs sind und der Aushilfsfahrer relativ moderat gefahren ist, die Ladung auch nicht zu beanstanden ist, bleibt es bei einer Mängelkarte für ein loses Drucklufthorn am Kühlergrill und den üblichen Belehrungen.
Allerdings ist wieder eine halbe Stunde im Eimer. Mittlerweile hat Alfred schon ganz aufgeregt angerufen und versteht die Welt nicht mehr:
„Wie, von de Polizei angehalle worn? Die sin doch net ganz dicht! Macht, dass Ihr nach Nidda kommt.....!“
Alfred selbst hat in Nidda für einen anderen Fahrer geladen, der noch Urlaub hat und den Zug am nächsten Tag übernehmen soll. Er nimmt mich mit auf den Speditionshof, damit ich mir noch ein paar Sachen zu Hause holen kann. Er fährt sehr gemächlich, da er den Zug ja nur zu Hause abstellen will und nicht unter Zeitdruck zu einem Kunden unterwegs ist; wenn ich vorhin so lahmarschig gefahren wäre, wäre mir das Gespann Peter/Alfred wohl an den Hals gesprungen.
Ich fahre nach Hause und packe ein paar Klamotten zusammen und bringe dann Peters Zugmaschine zurück nach Nidda. „Peter der Dreckige“ (oder auf hessisch schlicht „de Dreckpeder“) hat sich seinen Namen wahrlich verdient. Die Fahrerkabine ähnelt mehr einer steinzeitlichen Höhle, mit Fellen und Essensresten überall. Ich bin froh, dass ich diese Mühle nicht übernehmen muss.
Peter’s Zugmaschine ist die stärkste im Fuhrpark, ein Mercedes 1948 mit Bullenfänger und allem möglichen Schnickschnack, nur leider völlig heruntergekommen. Aber 480 PS ohne Auflieger zu fahren ist schon was Feines, nachdem man sich den ganzen Tag mit einem 1735er und 40 Tonnen abgequält hat.
Es regnet, ich muss aufpassen, dass ich nicht übermütig werde und von der Straße fliege. An einer Steigungsstrecke gebe ich richtig Gas, der Laster macht einen Satz nach vorn und alle Straßenkarten, die der gute Peter in einem Kasten auf dem Armaturenbrett gesammelt hatte, kommen mir entgegen.
Gegen sechs bin ich wieder in Nidda. Peter hat inzwischen bei meiner Zugmaschine den zweiten Shuttle-Auflieger aufgesattelt. Seltsamerweise regt er sich ziemlich über das Chaos in seinem Laster auf. Ich hätte nicht gedacht, dass es überhaupt auffällt bei dem ohnehin herrschenden Durcheinander in der Hütte.
Ich lege eine neue Tachoscheibe ein und warte noch auf den Kollegen Dietrich, der in die gleiche Richtung fährt.
Es geht nach Bevern bei Höxter, wieder Spanplatten, wieder über 40 Tonnen. Ich komme zum ersten Mal in den Genuss der Kasseler Autobahn. Mit viel Gewicht und wenig PS ist die Fahrerei auf dieser extremen Berg- und Talbahn schon fast mit physischer Anstrengung verbunden. Schlimmer ist jedoch die psychische Belastung. Bergauf lernt man das EPS[6] schnell kennen, da man ständig am Schalten ist. Vor allem beim Wechsel in die kleine Gruppe vom fünften in den vierten Gang reagiert das EPS so träge, dass man sofort einen weiteren Gang runterschalten muss. Ich habe das Gefühl, stehen zu bleiben.
Die Kollegen mit bis zu 500 PS starken Maschinen vorzugsweise aus Skandinavien, die mit 20 Tonnen Stückgut oder Paketen durch die Welt gondeln, hängen mir im Kreuz. Bergab ist es mörderisch. Ohne Retarder, einer kaum spürbaren Motorbremse und voll beladen ist die Schmerzgrenze bei 30 km/h oft schon überschritten. Für die Kollegen scheine ich stehen zu bleiben, auch wenn ich es schon schneller laufen lasse, als zu verantworten ist. Ich stelle den Funk aus, um das Genörgel nicht länger mitanhören zu müssen.
Bis ich in Ostwestfalen bin, ist es schon nach 23 Uhr. Die Straßen sind breit und es herrscht wenig Verkehr. Ab jetzt wird professionell gefahren, im Schnitt 80 bis 90 auf der Landstraße, mit voller Beleuchtung. Die Zugmaschine hat zwei zusätzliche Lampen auf dem Dach, eingeschaltet sieht es aus wie Flakscheinwerfer im Erdkampf.
Zum Glück finde ich den Kunden ohne Probleme. Als ich endlich Feierabend mache, bin ich ca. 24 Stunden auf den Beinen gewesen, habe nichts gegessen, zwei Tachoscheiben vollgefahren, nach einem halben Tag bereits sämtliche Verkehrsregeln missachtet, die meinem zügigen Vorankommen im Wege standen; bin trotzdem „planmäßig“ zu spät gekommen. Ein Einstand nach Maß also. Um sechs Uhr geht es weiter.
Dienstag, 23.3., 06:00 Uhr
Ich habe direkt vor dem Werkstor geschlafen, immerhin ca. 5 Stunden. Das Abladen geht reibungslos, ich fahre entspannt nach Horn und beginne, die Shuttle-Ladung einzusammeln.
Dort vermisse ich auf einmal „meinen“ Staplerfahrer. Nachdem er begonnen hatte, meinen LKW zu beladen, erscheint er nach der letzten Fahrt ins Lager nicht mehr wie gewohnt und ist nun seit gut 20 Minuten nicht wieder aufgetaucht. Ich suche ihn überall, aber er ist nicht zu entdecken. Ich kehre resigniert zum LKW zurück und warte. Um 10 Uhr taucht er plötzlich wieder auf,