Erwin Leonhardi

Behauptung statt Wahrheit


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kalten Demiurgen und verlangte die Ausgliederung des AT aus der Bibel. Marcion lebte von 85 bis 160 n. Chr. und war der Sohn des Bischofs von Sinope. Von Beruf war er Seekaufmann. Im Jahr 144 gründete er eine eigene Glaubensgemeinschaft, die auf seiner Auffassung beruhte. Er fand schnell viele Anhänger, weswegen die Marcioniten binnen kurzer Zeit eine Großkirche bildeten. Es fehlte nicht viel und er hätte sich gegen die Traditionalisten durchgesetzt, die an der Einheit AT/NT festhielten. Letztendlich gelang es ihm nicht. Im Lehrbuch zur Kirchengeschichte wird er als der große Ketzer der Alten Kirche bezeichnet. Statt als bedeutender Kirchenlehrer geachtet zu werden, wurde er zum Erzketzer deklassiert. Manchmal kommen allerdings solche Persönlichkeiten lange nach ihrem Tod zu später Ehre, wenn sich nämlich irgendwann das Thema wieder in ihre Richtung bewegt.

      Harnack

      Den Fall Marcion behandelte der Kirchenhistoriker Adolf von Harnack, von 1822 bis 1942 Ordinarius an der theologischen Fakultät der heutigen Humboldt-Universität in Berlin. Zusätzlich war er Berater des Kaisers und des Reichskanzlers, sowie Gründungspräsident der heutigen Max-Planck-Gesellschaft. Er schrieb 1921 in seinem Buch über Marcion, Zitat: "... das AT im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.“ Harnack vertritt also auch die Meinung, das AT solle aus der Bibel entfernt werden.

      Slenczka

      Prof. Dr. Notger Slenczka hat im Rahmen seiner Professur für Systematische Theologie und Dogmatik in seinem Aufsatz "Die Kirche und das Alte Testament" die Diskussion geführt, ob das AT für die evangelische Kirche nicht sinnvoller als apokryphische Schrift außerhalb der Bibel verstanden werden solle. Das war im Jahr 2013. Der vom deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit und weiteren deutschen Theologen zwei Jahre nach der Veröffentlichung als Skandal betrachtete Denkansatz führte zu heftigen Diskussionen. Die dauern zwischen dem Berliner Theologie-Professor und einigen etablierten Kirchenfunktionären an. Slenczka vertritt öffentlich die Meinung, das AT müsse entkanonisiert werden, also aus der Bibel ausgeschlossen werden, denn es beschreibe einen Gott, der mit dem des NT nichts zu tun hat. Als Gott des Gemetzels bezeichnet er ihn. Prompt widerfahren ihm alle denkbaren Vorwürfe und Ehrabschneidungen bis hin zum Vorwurf des Anti-Judaismus. Die feine Gesellschaft, die geistlich die Kirche leitet, wird in ihrer Überheblichkeit Slenczka irgendwann auf ihre Art zu strafen versuchen.

      Interpretation statt Texttreue

      Nachweisbar beschränkt sich die Kirche auf einzelne Bibelstellen, die in jeden beliebigen passenden oder unpassenden Zusammenhang gestellt werden können und so jede beliebige gewünschte Aussage untermauern.

      Das kann man übrigens mit jedem literarischen Werk ab einem bestimmten Umfang an Anzahl von Wörtern und Sätzen so handhaben. Alles ist daraus mit einer gewissen Interpretationsfertigkeit zu entnehmen. Als Beispiel können die Werke von Leonardo da Vinci oder Nostradamus dienen. Sie zeigen ebenfalls die schon fast belustigend anmutenden Bemühungen, aus harmlosen unspezifischen Aussagen weltgültige Zukunftsvisionen herauszulesen. Den inhaltlichen Job machen immer die Exegeten, das Heer der Nachplapperer vermittelt danach den ideologisch vorgefertigten Wahrheitsersatz.

      Die Frage für die Exegeten heißt: Wie muss eine Textstelle interpretiert werden, damit sie in die Ideologie passt? Sie sollte aber lauten: Wird unsere Ideologie dem Text gerecht? Macht es Sinn, ihn heute noch zu verwenden, und falls ja: Wie können die damaligen geistigen Errungenschaften, natürlich im Kontext der damaligen Welt geschrieben, auf die heutigen Verhältnisse transponiert werden?

      Letzteres wird schwierig, denn geistige Errungenschaften, die heute noch irgendeinen Wert hätten, fehlen in der Bibel gänzlich. Das ist nicht verwunderlich. Man hat damals schlichtweg über alles so gut wie nichts gewusst. Deshalb mussten auch alle unerklärlichen Phänomene immer einem göttlichen Wunder zugeordnet werden.

      Sogenannte nicht-zivilisierte Naturvölker machen das heute noch so. Aber sie missionieren nicht, und sie behaupten nicht, die einzig gültige Wahrheit zu besitzen. Von denen kann man zumindest lernen, dass sie über eine durchaus praktische Einstellung verfügen, denn verständlicherweise gibt es wenig Hang zu theoretisieren, wenn man ständig im Überlebenskampf steht.

      Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der Regenbogen als Symbol für den ersten Bund der Israeliten mit Gott. Der Regenbogen war damals in Kleinasien selten und unerklärlich, also musste er göttlich sein. Heute ist das peinlich.

      Die Bibel vermittelt der heutigen Gesellschaft kaum etwas Nützliches, genau betrachtet sogar überwiegend Negatives. Die biblischen Werte sind gefährlich. Sie widersprechen fast allen Errungenschaften der gesamten westlichen Zivilisation seit der Zeit des Humanismus.

      Außer schwärmerischem Wortschwall, gepaart mit Belehrungen und den üblichen offenen und unterschwelligen Drohungen, ist auch von der modernen Kirche nichts zu hören, was die Menschheit weiter brächte in Richtung Solidarität, Toleranz, Weltfrieden und erträglichem Lebensstandard für Alle.

      Genau darin sollten die Kirchen ihren Auftrag sehen. Aber das passt nicht in die absolutistische Welt der Kirchenorganisationen. Bedingungsloser Gehorsam ist gefordert.

      In übervölkerten Gegenden der Welt den Ärmsten der armen Verhütungsmittel zu verbieten ist ein Verbrechen mindestens auf der Ebene von schwersten Kriegsverbrechen. Es ist multipler Mord an denen, die später deswegen verhungern müssen. Dafür gibt es keine Entschuldigung.

      Hier wird eine Pseudo-Moral vorgetäuscht. Nachweislich verfügen viele Schergen der Edikt-Erlasser in unerträglichem Maß selbst nicht über eine hohe Moral, wie wohl jeder weiß. Und die Tatsache, dass die bekannten sexuellen Übergriffe auf Anvertraute nicht konsequent verfolgt und geahndet werden, spricht für sich.

      Ist die Bibel nun Gottes Wort, oder nicht?

      Wenn ein Glaubender das AT als Gottes Wort bezeichnet, entwürdigt er den Gottesbegriff, an den er glaubt. So primitiv, wie das AT die Götter Elohim und Jahwe darstellt, können Götter nicht sein. Sie besitzen keine anbetungswürdigen Eigenschaften. Ihr Naturverständnis ist falsch. Die Personen, die sie in den Geschichten fördern, sind verwerfliche Charaktere.

      Offenbar hat der Schöpfergott so wenig Ahnung von seinen eigens geschaffenen Naturgesetzen, dass er eine grundfalsche Schöpfung beschreibt, die eindeutig vom babylonischen Weltbild abgeschrieben wurde. Nur mit extremem Wohlwollen ist darin eine Abart des ptolemäischen Weltbildes zu erahnen, das die Kirche bis Galileo mit brutalen Mitteln bis hin zur Todesstrafe verteidigte. Und doch hat Galileo den kirchlichen Irrtum bewiesen.

      Offensichtlich wird Gottes Wort nach der Methode "best fit" von den verschiedenen Glaubensrichtungen für ihre eigene Dogmatik verwendet. Die deren Ideologen zugrunde liegende Motivation kann eigentlich nur durch Fanatismus, Überheblichkeit, Dominanzwillen und eine gehörige Portion Wunschdenken erklärt werden.

      Die Ehrfurcht der Kirchenväter vor Gottes Wort hört früh auf. Sie haben schon im Urchristentum das normale Verständnis der Schrift in ihre passende Richtung gebeugt. Wer Gottes Wort in der Auslegung beherrscht, hat Macht über die anderen. Allein darin scheint das Ziel zu liegen.

      Die einzige logische Erklärung besteht darin, dass sie selbst nicht glauben, die Bibel sei ihres Gottes Wort.

      Aus normaler und vor allem aus wissenschaftlicher Betrachtungsweise ist es unverständlich, dass es Menschen gibt, die an Dinge glauben, für die es nicht den geringsten Hinweis auf Wahrheit oder Beweisbarkeit gibt, während sie gleichzeitig beliebig viele vorzeigbare Beispiele, die selbst dem völligen Laien einleuchtend erklärt werden können, als falsch abtun. Die Ursache kann nur eine religiös bedingte Einengung der Wahrnehmung sein, oder sogar eine Wahrnehmungsangst.