Hans-Jürgen Setzer

Der meergrüne Tod


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Habe ich ihn überfordert?“

      „Das kann ich mir vorstellen“, sagte Leon.

      „Haben Sie Kinder, Herr Walters?“

      „Nein.“

      „Glauben Sie mir, dann fällt es schwer, das in der ganzen Tragweite nachzuvollziehen. Wenn mit Ihrem Kind etwas ist, das tut viel mehr weh, als wenn Sie selber etwas Schlimmes hätten. Na, jedenfalls kam dann natürlich raus, Julian hätte ADHS. Sie wissen, was das ist?“

      „Ja, ich denke schon: Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom.“

      „Genau, so nannte man das lange Zeit. Mir wurde dann auch sehr schnell ein Medikament empfohlen. Der Kinderpsychiater sagte, niemand hätte Schuld an diesem Problem. Es sei eine Stoffwechselstörung, wie zum Beispiel Diabetes. Mit dem Medikament würde alles besser. Ich sollte mir keine Sorgen machen. Also bekam Julian ein Medikament, das ganz neu auf dem Markt war und genau das Stoffwechselproblem beseitigen sollte: Infantocalm. Tatsächlich merkte ich, wie er ruhiger wurde und die Lehrer sagten ebenfalls, es wäre eine deutliche Besserung eingetreten. Er sei konzentrierter und störe nicht mehr den Unterricht.“

      „Ja, das wurde viele Jahre lang immer häufiger diagnostiziert und genau so behandelt, wie bei Ihrem Sohn, soweit ich das mitbekommen habe.“

      „Doch ganz geheuer war mir das nicht, meinem Kind ständig ein Medikament, nahe verwandt mit drogenähnlichen Substanzen, zu verabreichen. Ich wurde immer wieder unsicher. Als es dann in der Schule einigermaßen zu laufen schien, und er 15 Jahre war, beschloss ich: Jetzt reicht es. Wir versuchen es ohne Medikamente.“

      „Und hat es funktioniert?“, fragte Leon.

      „Es schien jedenfalls zunächst so. Wir gingen ganz langsam mit dem Infantocalm in der Dosis runter und setzten es dann ab. Julian blieb genauso, wie vorher. Bis ich dann vor Kurzem entdeckte, dass Julian …“ Wieder musste Jennifer Koch weinen und stockte. „Julian probierte alle möglichen Drogen aus und ich bekomme ihn nicht mehr davon weg. Wir haben seither riesigen Ärger miteinander. Er hängt immer mit denselben Kumpels ab und die hängen natürlich genauso in den Drogenproblemen drin. Er bräuchte einfach einen anderen Umgang. Ich habe mit seiner Klassenlehrerin gesprochen. Sie sagte mir, ihr sei aufgefallen, dass er in seiner Gefühlswelt für sein Alter viel zu kindlich geblieben sei. Konflikte mit den Klassenkameraden halte er kaum aus und er könne sich einfach nicht altersgemäß wehren, wirke dann hilflos, habe sogar häufiger geweint. Seine Lösungen sind offensichtlich die Drogen und seine Kumpels machen es genauso. Andere männliche Vorbilder hat er leider keine. Zu den Psychiatern habe ich inzwischen natürlich ebenfalls kein Vertrauen mehr. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.“

      „Okay, das ist ein ganz schöner Brocken, den Sie da zu schlucken hatten und haben.“

      „Das können Sie laut sagen.“

      „Was ich bisher nicht verstehe, ist, wie ich Ihnen helfen könnte.“ Leon schaute sie fragend an.

      „Die Drogen kriegen sie sogar in der Schule auf dem Pausenhof. Damit wird natürlich ein riesiges Geschäft gemacht. Niemand unternimmt etwas. Alle schauen nur hilflos zu. Ich habe eine Scheißwut und könnte kotzen, entschuldigen Sie den Ausdruck. Wenn Sie einen Artikel über die Drogen an den Schulen in Koblenz verfassen würden, dann müsste die Schule langsam aufwachen und etwas unternehmen oder die Polizei oder egal wer. Hauptsache die Drogen kommen weg. Wenigstens die nachfolgenden, jüngeren Kinder sollen nicht dasselbe durchmachen müssen.“

      „Alles klar, dann verstehe ich, was Sie meinen. Natürlich muss ich mir in der Sache erst einmal weitere Informationen beschaffen, recherchieren und kann nichts versprechen. Das scheint mir ein sehr heißes Eisen zu sein.“

      „Bitte, Herr Walters, glauben Sie mir, ich weiß nicht mehr weiter, sonst würde ich nicht die Presse um Hilfe bitten.“

      „Ich sehe, was ich machen kann. Sie hören von mir.“

      Sie tranken die letzten Reste ihres Kaffees aus und verabschiedeten sich.

      „Arme Socke“, dachte Leon. „Sie hat ganz schön was hinter sich.“

      Erste Recherchen

      Leon überlegte, wie er weiter verfahren könnte. Was gäbe es in diesem Fall überhaupt zu recherchieren? Von der Mutter hatte er im Internet einiges gesehen. Das Gleiche könnte er natürlich mit dem Sohn machen. Besser wäre es allerdings vermutlich, in der Nähe des Schulhofs einmal zu beobachten, wie sich die Dealer den Kindern näherten. Eventuell ließe sich über diese Personen mehr herausfinden, um ihnen später das Handwerk zu legen. Aber ganz ungefährlich wäre diese Aktion für ihn vermutlich nicht. Mit den meisten Dealern wäre bestimmt nicht gut Kirschen essen. Und, würde es überhaupt etwas bringen, die Dealer vor den Schultoren auffliegen zu lassen? Dann würden die höchstwahrscheinlich einfach an andere Orte ausweichen, so wie immer in der Vergangenheit. Und für jeden abgeschlagenen Hydra-Dealer-Kopf würden drei neue nachwachsen.

      Handelte es sich um eine Geschichte, die die Leser des Koblenzer Tageskuriers wirklich interessieren könnte? Nun ja, viele Leser hatten Kinder und für die meisten war es sicher somit das Wichtigste im Leben, dass es den eigenen Kindern gut ging. „Also, Leon, auf geht es. Mach was draus“, feuerte er sich in Gedanken selbst an.

      Leon fuhr in das nächstgelegene Internetcafé am Münzplatz, denn die Fahrt in die Redaktion lohnte sich für die kurze, notwendige Recherche kaum und von seinem Nachbarn, dem Sportreporter, hatte er für heute ohnehin genug. Er wollte nachsehen, was über Julian Koch im Internet zu lesen sein würde, und ob er eventuell sogar herausfinden könnte, welche Schule er besuchte.

      Natürlich war es für einen sechzehnjährigen Jungen aus dieser Generation genauso üblich, in allen gängigen Internetportalen vertreten zu sein. Leon erkannte ihn fast nicht wieder. Auf den Urlaubsbildern mit Mami auf den Malediven sah er noch brav aus. Inzwischen war er zu einem deutlich auffallenden Revoluzzer mutiert. Er ließ sich mit jungen Frauen ablichten, die man früher als Punkerinnen bezeichnet hätte. Die Damen trugen Lederklamotten, überall Piercings, klappernde Ringe, Ketten und Tattoos. Er kleidete sich passend dazu. Tattoos und Piercings hatte er allerdings noch keine. Dies stellte Leon mit Befriedigung fest. Schließlich handelte es sich um einen Jugendlichen, der dafür die Zustimmung der Eltern benötigte. Vielleicht funktionierte also ausnahmsweise irgendetwas in Richtung Jugendschutz.

      Für jeden Personalchef wären die Einträge ein gefundenes Fressen: Angegebene Hobbys waren „Saufen, huren, abhängen, grenzüberschreitende Erfahrungen“.

      Na, da hatte Leon natürlich so seine eigenen Vorstellungen, was mit grenzüberschreitenden Erfahrungen gemeint sein könnte.

      „Hm, irgendwie kommt wirklich alles mal wieder. Genau solche Typen gab es schon einmal. Verdammt, wo geht der Bengel nur zur Schule. Das wäre jetzt hilfreicher. Da, jaaa, Bingo: Astrid-Lindgren-Gesamtschule, Koblenz. Danke, Julian. Dann werde ich dir und deiner Penne mal einen Besuch abstatten.“

      Auch noch die andere Wange hinhalten?

      Leon ging zu Fuß vom Münzplatz zur Astrid-Lindgren-Gesamtschule. Sie lag einige Straßen weiter. Ein kleiner Fußmarsch würde ihm guttun und erschien ihm unauffälliger als mit seinem Dienstwagen dort vorzufahren. Plötzlich hielt ein kleiner Wagen mit quietschenden Bremsen direkt neben Leon.

      „Hey, Walters, haste ne Panne? Komm, ich nehm dich mit.“ Sein Kollege aus der Sportredaktion war heute so lästig wie eine Schmeißfliege und extrem hilfreich dabei, seine verdeckte Ermittlung auffliegen zu lassen.

      „Nein, danke, Herr Kollege, für das nette Angebot. Ich muss etwas zu Fuß erledigen. Fahr du mal allein zu deinen attraktiven Handballdamen, sonst versaue ich dir dort die Quote.“ Leon lächelte dem Kollegen zu und ging weiter. „Schon komisch. Wenn ich wirklich eine Panne hätte, könnte ich wahrscheinlich kreuz und quer durch Koblenz laufen, hätte schon Blasen an den Füßen und niemand würde mir helfen, aber heute?“ Er schüttelte mit dem Kopf.

      Da war sie schon: Die Astrid-Lindgren-Gesamtschule, wie er deutlich in