Hans-Jürgen Setzer

Der meergrüne Tod


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wollen Sie mit dem Artikel denn bewirken?“, fragte der Kommissar.

      „Wir wollen versuchen darzustellen, wie Dealen an Schulen abläuft, was Eltern vorbeugend tun könnten und so weiter.“

      „Das klingt vernünftig. Also, zunächst einmal sollten Sie wissen, dass die typischen Dealer auf dem Schulhof gar nicht auffallen. Das mussten wir über einige Jahre erst einmal lernen. Wir suchten lange nach den Erwachsenen mit den bösen Absichten. Es sind jedoch Klassenkameraden oder die älteren Schüler, die den jüngeren Schülern den Blödsinn mit- und beibringen. Erschreckend, oder?“

      Leon musste innerlich schmunzeln. Schließlich hatte er mit einer einzigen Überlegung in wenigen Sekunden offensichtlich ein Rätsel gelöst, was die Polizei Jahre beschäftigt zu haben schien, jedenfalls, wenn die Aussage des Kommissars wörtlich zu nehmen war.

      „Natürlich stecken in der weiteren Kette die Erwachsenen, die Dealer, Großhändler und so weiter. Die wirklich dicken Fische laufen leider Gottes nicht einfach auf dem Schulhof herum.“

      „Ja, das dachte ich mir. Die machen sich die Hände sicher nicht schmutzig und sitzen schön im Warmen.“ Leon gab sich verständnisvoll.

      „Am besten gebe ich Ihnen einmal unsere ganzen Lehrfilme und unser Aufklärungsmaterial und natürlich die Pressemappe mit. Dann könnten Sie sich in aller Ruhe einlesen und falls weitere Fragen auftauchen, machen wir einen gemeinsamen Termin aus. Wie wäre das? Ist das ein Angebot?“

      „Ja, vielen Dank, Herr Oberkommissar. Das ist mehr, als ich heute erwartet habe. Das klingt sehr gut. Danke.“

      „Dann lasse ich Ihnen alles von meiner Kollegin zusammenstellen und Sie nehmen es gleich mit. Hier ist für alle Fälle meine Karte. Sie wissen ja: die Polizei, dein Freund und Helfer. Wenn Sie vielleicht einfach noch einen kurzen Moment vor der Tür Platz nehmen würden? Die Kollegin bringt es Ihnen gleich.“ Polizeioberkommissar Matthies lächelte freundlich und zufrieden.

      Die beiden verabschiedeten sich und nach etwa fünfzehn Minuten brachte eine hübsche, blonde Polizeibeamtin mit Pferdeschwanz das Material in einer Stofftasche und übergab es ihm.

      „Wow, das ging ja schnell, vielen Dank. Und, wie ich sehe, gibt es nicht nur Freunde und Helfer, sondern auch sehr nette Freundinnen und Helferinnen.“

      „Jep, wir sind auf dem Vormarsch und haben sogar bald die Mehrheit“, sagte sie etwas burschikos, dabei lächelte sie verschmitzt und verschwand gleich wieder.

      „Schade, mit der wäre ich gerne mal die eine oder andere Streife gefahren“, dachte Leon neidisch.

      Er betrachtete das Paket und merkte, dass nun einige Schreibtischarbeit auf ihn zukommen würde. Nur, irgendwie stand ihm heute nicht mehr der Sinn nach trockenem Aktenstudium. Er verließ das Präsidium und ging zurück zu seinem Wagen. Unterwegs überlegte er, ob er nicht Jennifer Koch und ihrem Sohn einen kleinen Besuch abstatten sollte, und fand diese Idee allemal besser als hinter dem Schreibtisch zu sitzen und zu lesen oder Filme über Drogen anzuschauen. Das könnte er immer noch machen. Also zückte er sein Handy, wählte die Nummer von Jennifer Koch und verabredete sich mit ihr.

      In der Höhle des Löwen-Babys

      Leon fuhr auf direktem Weg zur Wohnung der Familie Koch, denn Jennifer Koch zeigte sich am Telefon spontan bereit, mit ihm zu sprechen. Schon während des Telefonats waren ihr Druck und ihre Ungeduld spürbar. Er parkte direkt vor dem Haus im Schatten unter einem der Bäume der alleeartig angelegten Straße. Aus einem Mietshaus mit mindestens zehn Mietparteien rief sie schon aus dem dritten Stockwerk vom Balkon.

      „Ich mache Ihnen auf, Herr Walters.“

      Der Türsummer begrüßte ihn bereits und ließ die Tür aus dem Schloss gleiten. Leon konnte sich so die Suche auf den vielen Klingel- und Briefkastenschildern mit teilweise durchgestrichenen, überklebten oder gar nicht erst vorhandenen Namen ersparen. Das Treppenhaus war düster, schmutzig, voller Fahrräder und roch muffig. Leon ahnte bereits Schlimmes, als er sich die drei Stockwerke des Treppenhauses hochschleppte, denn einen Fahrstuhl gab es nicht.

      „Guten Tag, Frau Koch“, sagte Leon etwas außer Puste zu der bereits in der offenen Tür wartenden Jennifer.

      „Schön, Sie zu sehen, Herr Walters. Kommen Sie doch herein.“ Sie öffnete die Tür und bat ihn mit einer Handbewegung in die gute Stube. Sie trug noch ihre Küchenschürze, nahm sie ab und legte sie im Vorbeigehen auf einen mit Kleidern bedeckten Stuhl.

      „Wir haben es ein wenig eng hier, jedoch für uns zwei reicht es. Klein, aber fein“, versuchte sie, die Lage zu entschuldigen.

      Leon war überrascht. Mit so viel Liebe hatte Jennifer Koch ihre kleine Wohnung eingerichtet, dass es von außen und vom Treppenhaus her wie ein Kontrast wirkte. Kurz musste er über diese Fähigkeit der meisten Frauen nachdenken, die dem Durchschnittsmann einfach abging. Alleinlebende Männer hatten ihre Wohnung meist sehr funktional, quadratisch, praktisch und gut eingerichtet. Jedenfalls erlebte dies Leon so.

      „Schön haben Sie es hier. Man sieht, wie viel Liebe Sie hier hineingesteckt haben.“

      „Danke, das ist nett von Ihnen. Mit dem kleinen Einkommen tue ich, was ich kann. Wollen wir hier im Wohnzimmer Platz nehmen?“

      „Gerne. Ich habe noch einige Fragen an Sie und dachte: Auge in Auge geht das besser als am Telefon.“

      „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Kaffee oder Tee oder lieber etwas Kaltes?“

      „Ein Wasser wäre nett. Ich bin seit Stunden durch die Stadt gelaufen.“

      „Kein Problem, bin gleich wieder da.“

      In der Küche hörte er Gläserklirren. Kurz darauf kam Jennifer Koch mit zwei Gläsern und einer Flasche Wasser zurück und goss Leon und sich ein Glas Wasser ein.

      „Danke.“ Leon nahm einen Schluck und lehnt sich im Sessel ein wenig zurück.

      „Was kann ich denn für Sie tun, Herr Walters?“, fragte sie ungeduldig und auch spürbar ein wenig nervös.

      „Es ist gar nicht so einfach, in der Schule an die entsprechenden ‚Zielpersonen’, wie wir sagen, heranzukommen. Ich müsste ein wenig mehr Informationen über Julian, seine Clique und sein Umfeld haben. Das würde mir die Arbeit vielleicht erleichtern“, erwiderte Leon und nahm einen Schluck Wasser.

      „Klar, gerne. Was wollen Sie wissen?“

      „Vielleicht erzählen Sie einfach ein wenig über die Kindheit von Julian, vor, während und nach der ADHS-Diagnose.“

      „Okay. Also, von Achims Unfall, dies alles hatte ich Ihnen ja bereits erzählt. Er war meist auf Montage, hatte gut verdient und so konnte ich mich ganz der Erziehung von Julian widmen. Wir haben viel miteinander unternommen und hatten viele Kontakte zu anderen Familien. Es ging uns gut, würde ich sagen. An die Abwesenheit von Achim hatten wir uns mittlerweile gewöhnt. Wir kannten es praktisch gar nicht anders. Julian entwickelte sich ganz normal und prächtig. Im Kindergarten gab es nie Probleme und auch nach der Einschulung lief es gut.“

      „Es fing wirklich alles erst nach dem Unfall an?“, fragte Leon interessiert und ein wenig erstaunt.

      „Ja, ich denke schon. Vorher ist mir jedenfalls nie etwas bei Julian aufgefallen. Natürlich waren wir als relativ junges Paar vielleicht nicht so abgesichert, wie es hätte sein sollen. Achim hatte ja nie Zeit. ‚Später’, hat er immer gesagt. Tja, und dazu kam es dann nicht mehr. Die Firma hatte eine kleine Lebensversicherung abgeschlossen und wir bekamen Witwen- und Waisenrente. Wirklich üppig ist das nicht, das kann ich Ihnen sagen. Die genossenschaftliche Unfallversicherung weigerte sich zu zahlen, weil sie darin eine grobe, selbst verschuldete Missachtung von Sicherheitsbestimmungen zu sehen glaubte. Damals haben wir erst richtig gemerkt, wie gut Achim vorher verdient hatte.“

      „Lassen Sie mich raten. Sie mussten sofort arbeiten gehen, um die Familie über Wasser zu halten?“

      „Genau so war es. Julian hatte also nicht