Stefanie Kothe

Schutzengelstreik


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gab sie Flugstunden und zeigte ihnen, wie ein Schutzengel in gefährlichen Situationen schnell und vor allem richtig reagierte. Gleichzeitig war sie aber selbst verspielt wie ein Kind und für jeden Quatsch zu haben. Kassandra schwebte auf sie zu und erklärte ihr, dass der Chef sie sprechen möchte. Die kleinen Engelchen protestierten:

       „Nein Diana, du darfst nicht gehen. Wir wollen weiter spielen. Es ist doch gerade so lustig. Bitte bleib noch etwas.“ Diana lächelte ihre Kleinen liebevoll an:

       „Keine Sorge ihr Süßen, ich komme wieder, versprochen. Wenn der Chef mich sehen möchte, muss ich gehorchen. Auch große Schutzengel dürfen nicht immer machen was sie wollen. Ich komme so schnell wie möglich wieder zu euch.“

      Kassandra und Diana schwebten davon.

       „Kassandra, was will der Chef von mir? Bekomme ich einen neuen Schützling?“

       Kassandra lächelte. Sie war einiges älter als Diana und dennoch waren sie befreundet.

       „Ich glaube, dass möchte er dir selbst erklären. Wir müssen aber vorher noch Verena, Juno, Aurora und Johannes holen. Hast du eine Idee, wo die stecken könnten?“

       Diana überlegte kurz.

       „Also Verena ist sicher im Bad oder bei der Kosmetik“, vermutete sie grinsend.

       Kassandra sah sie tadelnd an.

       „Diana, es gehört sich nicht über andere zu lästern, auch wenn du Recht haben könntest.“

       Diana sah verunsichert zu Kassandra hoch. War sie jetzt sauer auf sie? Nein, ein Blick in die Augen verriet ihr, dass Kassandra nur mit Mühe ein Schmunzeln unterdrücken konnte. Sie fanden Verena tatsächlich im Bad an, wo sie, gerade damit beschäftigt war, ihre Flügel zu putzen.

       „Leute, ich habe keine Zeit zu plaudern, ich muss mich fertig machen, ich habe gleich ein Date.“

       Diana verdrehte genervt die Augen.

       „Mit wem denn? Ich dachte, du hast längst alle männlichen Kollegen durch.“

       Kassandra zog ihr ihren rechten Flügel über den Kopf.

       „Hör auf damit“, mahnte sie.

       Diana verzog das Gesicht.

       „Ist ja gut, bitte entschuldige Verena“, nuschelte Juno halbherzig.

       Verena sah sie von oben herab an:

       „Lass gut sein. Ich mache mich noch schnell fertig, dann können wir los.“

       Nach einer halben Ewigkeit hatte es Verena geschafft. Sie sah wunderschön aus.

       „Können wir dann endlich“, fragte Diana ungeduldig.

       „Nur weil du aussiehst wie gerade vom Spielplatz gekommen, müssen wir ja nicht alle so rumlaufen, oder? Was soll denn der Chef von dir denken?“

       Diana wollte schon zu einer Antwort ansetzen, aber ein Blick von Kassandra brachte sie zum Schweigen. Sie wusste, dass Kassandra keinen Streit mochte und ihr zuliebe sagte sie nichts. Sie überlegte wo sie Juno, Johannes und Aurora finden konnte. Diana überlegte das Gleiche und hatte eine spontane Idee.

       „Ich wette, Johannes ist in der Werkstatt. Er kann so tolle Sachen bauen und seine Erfindungen sind legendär.“

       Kassandra nickte. Was auch für ein Problem bestand, Johannes konnte sie alle lösen. Verena mochte ihn allerdings gar nicht, weil er sich weigerte mit ihr auszugehen. Sie konnte sich nicht erklären, was er gegen sie hatte.

      Als sie in der Werkstatt ankamen, schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln. Sie wollte gerade zu einer zuckersüßen Begrüßung ansetzen, doch Kassandra war schneller.

       „Hallo Johannes. Der Chef schickt mich. Ich soll dich zu ihm bringen.“

       Johannes strahlte sie an. Er mochte sie sehr. Er war damals bei ihr in der Ausbildung gewesen und alles, was er heute konnte und wusste, verdankte er ihr.

       „Klar, ich komme gleich. Ich wollte ihm sowieso meine neue Erfindung vorstellen, ich hole sie schnell.“ Zwei Minuten später kam er mit einem Gegenstand wieder, der aussah wie eine Fernbedienung.

       „Was ist das“, fragte Diana. Jetzt war Johannes in seinem Element:

       „Das ist eine Zeitfernbedienung. Wenn ein Schützling in Gefahr schwebt, kann man damit die Zeit langsamer laufen lassen und so vielleicht schlimmeres verhindern. Wir können aber auch, wenn die Zeit für unseren Schützling abgelaufen ist, die Zeit schneller laufen lassen und so eventuelle Qualen minimieren.“

       Diana strahlte ihn an:

       „Was für eine tolle Idee. Johannes, du bist ein Genie.“ Johannes lächelte verlegen.

       „Danke für das Kompliment.“

      Anschließend fanden sie Juno am Eingang zum Himmelsreich. Dies war einer ihrer Lieblingsplätze. Es machte ihr Freude, die Neuankömmlinge zu begrüßen und zu trösten. Viele waren traurig oder verwirrt. Sie wollten noch nicht hier sein. Einige waren aber auch erleichtert. Das waren meist Menschen, die schwer krank gewesen waren, oder aber sehr unglücklich. Wenn die Menschen durch das Tor traten, waren sie befreit von Sorgen und Schmerzen. Einige wenige von ihnen leuchteten in dem Moment. Das waren diejenigen, die sich in kleine Schutzengel verwandelten und ein neues Leben mit dieser wichtigen Aufgabe beginnen durften. Alle anderen wurden auf die Erde zurückgeschickt und begannen ein neues Leben ganz von vorne.

       „Hallo Juno“, begrüßte Kassandra sie.

       „Hallo Kassandra. Es ist schön, dich zu sehen.“ Kassandra lächelte. In Junos Nähe fühlte sie sich immer entspannt. Nichts und niemand konnte sie aus der Ruhe bringen.

       „Juno, der Chef möchte euch sprechen, hast du etwas...!“

      „Da, schau mal“, unterbrach Juno sie. Kassandra sah zum Tor. Eine alte Frau humpelte gerade mit ihren Gehhilfen hindurch. Als sie in der Mitte des Tores war, leuchtete sie auf. Ein strahlend weißes Licht umhüllte sie, wie einen Schutzmantel. Plötzlich war es, als würde ihr Leben rückwärts laufen. Sie richtete sich auf, war wieder eine junge Frau und wurde zum kleinen Kind. Als sie aussah wie ein kleines vierjähriges Mädchen, wuchsen ihr Flügelchen aus dem Rücken. Dann war die Verwandlung beendet.

       "Es ist immer wieder so wunderschön das zu sehen", sagte Juno leise mit Tränen in den Augen. Kassandra schloss sie in ihre Arme.

      „Ja, das ist es. Lass sie uns in die Schule bringen und dann holen wir noch Aurora.“ Juno strahlt. Sie und Aurora waren zusammen in der Ausbildung gewesen und wie Schwestern aufgewachsen.

       „Weißt du, wo Aurora stecken könnte?“, hörte sie Kassandras Stimme an ihr Ohr dringen.

       „Ich vermute mal in der Bibliothek.“ Kassandra lachte:

      „Klar, da hätte ich auch selbst drauf kommen können.“ Aurora war schon zu Lebzeiten ein begeisterter Bücherwurm gewesen und hier oben führte sie die Protokolle über die Leben aller Menschen. Nebenbei schrieb sie auch Bücher. Es gab davon zwei Arten. Einmal jene, die nur für Engel bestimmt waren und dann die, die auch den Lebenden zur Verfügung standen. Unter zahlreichen Pseudonymen veröffentlichte sie immer wieder Bücher, die den Menschen Mut und Kraft gaben. Das Geld, welches sie als Autorin bekam, spendete sie für einen guten Zweck. Aurora sagte immer, dass sie nicht viel zum Leben braucht. Solange ein gutes Buch in der Nähe war, war ihre Welt in Ordnung.

      Als sie die riesige Bibliothek betraten, in der sich alle Bücher befanden, die jemals geschrieben worden waren, sahen sie Aurora sofort. Sie schwebte oben unter der Kuppel dieses großen Lesesaals und sortierte Bücher ein. Kassandra wollte nach ihr rufen, als Juno an ihr vorbei schoss und nach oben schwebte. Sie flog, so schnell sie konnte in Auroras Arme.

       „Juno? Was machst du hier? Ich freue mich so dich zu sehen.“

      „Kassandra ist mit uns unterwegs“, antwortete diese und deutete auf die Punkte am Boden, die aussahen wie schimmernde weiße Miniameisen. Zusammen flogen sie zu der kleinen Gruppe. „Juno hat mir schon gesagt, dass der Chef uns sehen möchte. Ich bin sehr gespannt. Ich musste noch schnell das Buch holen, das er bestellt hat. Wenn wir schon auf dem Weg