Stefanie Kothe

Schutzengelstreik


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als ihre himmlische Alarmglocke schrillte. Marias Vater hatte nicht aufgepasst, weil er ein paar jungen Mädchen zeigen wollte, was für ein toller Hecht er mit Mitte dreißig noch war und hatte seine kleine Tochter nicht im Blick gehabt. Diese war auf die Rutsche geklettert, als ihr ganz oben auf einmal schwarz Augen wurde und sie einfach runter fiel. Kassandra hatte sie aufgefangen, kurz bevor sie den Boden berührte. Zum Glück war außer einer Gehirnerschütterung nichts passiert. Ein Schauer jagte über Kassandras Rücken. Nie wieder wollte sie so was erleben. Und dann gestern dieser Unfall.

       „Pass auf Maria, ich war bis jetzt dein Schutzengel. Demnächst wirst du einen neuen bekommen. Innerhalb der nächsten fünf Monaten, werde ich dir fünf meiner Kollegen vorstellen, von denen du, mein Chef und ich am Ende einen aussuchen, der dich in Zukunft beschützen wird. Du wirst die einzige sein, die uns sehen kann. Hast du das alles verstanden?“

       „Gehört ja, aber verstanden nicht wirklich. Dass ich dir zu anstrengend bin, kann ich gut verstehen, aber ich muss erst mal verdauen, dass es so was wie dich wirklich gibt. Ich dachte immer, ihr existiert nur in der Fantasie von irgendwelchen Autoren und Kindern. Woher weiß ich, wenn ich wach werde, dass du real bist und nicht nur ein Produkt meiner Fantasie?“

      „Ich werde an deinem Bett sitzen und auf dich warten, bis du ausgeschlafen hast. Danach pflege ich dich erst mal, sowohl körperlich als auch seelisch und wenn es dir wieder besser geht, wirst du den ersten Kandidaten kennenlernen. So viel kann ich dir schon verraten, sie heißt Diana. Ich lasse dich jetzt erst mal in Ruhe weiter schlafen und wir sehen uns dann nachher. Diesen Albtraum werde ich aber für diese Nacht verscheuchten, wenn du nichts dagegen hast.

      Als Maria einige Stunden später wach wurde, sah sie sich suchend um. Das war ein viel angenehmerer Traum gewesen als die alte Version. Sie räkelte sie in ihrem Bett und stöhnte vor Schmerzen auf. Mist, der Unfall war also real gewesen. Aber bedeutete das auch, dass der Rest von dem Traum real war. Sie öffnete vorsichtig die Augen. Nein, in ihrer Wohnung war niemand außer ihr und ihrer Katze. Da hörte sie ein Klappern aus der Küche.

       "Ich hoffe, dir hat der neue Traum besser gefallen." Maria schrie auf.

       „Kassandra? Dich gibt es wirklich? Das glaube ich nicht. Das kann nicht sein! Ich glaube, ich träume noch immer. Kneif mich mal.“ Kassandra verdrehte die Augen.

      „Ich darf dir nicht wehtun, sondern soll dich vor Schäden und Schmerzen schützen, aber wenn es dir hilft an mich zu glauben, beweg doch einfach mal deinen linken Fuß.“ Maria tat genau das und war die nächsten Sekunden damit beschäftigt, wieder zu Luft zu kommen. Wie konnte etwas nur so wehtun.

      „Kassandra?“ fragte sie vorsichtig, als der Schmerz langsam erträglicher wurde.

       „Ich wollte übermorgen eigentlich zu Freunden fahren, aber wie soll ich das machen, wenn ich mich noch nicht mal in meiner Wohnung frei bewegen kann?“ Kassandra sah sie mitfühlend an.

       „Ich weiß es leider auch nicht, aber wir werden sicher einen Weg finden. Heute ruhst du dich erst mal richtig aus und morgen üben wir Laufen. Ich weiß, wie wichtig der Ausflug für dich ist und, dass es dir gut tun wird. Aber ich helfe dir nur unter einer Bedingung.“ Maria sah ihren Schutzengel neugierig an.

       „Welcher?“

       „Ich komme mit. Ich möchte nicht, dass dir noch was passiert. OK?“, fragte Kassandra lächelnd. Maria nickte glücklich. Den Rest des Tages blieb sie brav im Bett und schlief sehr viel. Das Wochenende war ihr so wichtig, dass es ihr nichts ausmachte, den Tag im Bett zu verbringen. Sie war mit ihren Freundinnen zu einem Theaterbesuch verabredet und auch eine der Schauspielerinnen aus einem anderen Stück wollte da sein, die für sie inzwischen zu einer Freundin geworden war, der sie blind vertraute. Alleine für sie, würde sie trainieren bis zum Umfallen. Dass dies wortwörtlich zu verstehen war, wurde am nächsten Tag sichtbar. Immer wieder gab ihr Fuß den Schmerzen nach. Immer wieder kam sie zu Fall.

       „Kassandra, ich schaffe es einfach nicht. Mein Körper macht was er will“, stellte Maria am Nachmittag fest.

      „Wie soll ich das jemals bis morgen hinbekommen? Mein Vater würde mich ja zum Bahnhof bringen, aber ich muss dann irgendwie in die Unterkunft kommen und von da ins Theater und abends wieder zurück und am nächsten Tag, wollen wir noch was unternehmen, weil dies das einzige Wochenende ist, an dem wir alle Zeit haben.“ Kassandra versuchte sie aufzumuntern.

      „Glaub an dich. Du kannst das. Bitte gib nicht auf. Dir ist das Wochenende so wichtig. Versuch es weiter. Komm, wir machen eine Pause und versuchen es dann noch mal. Und nimm endlich was gegen die Schmerzen. Es hat doch keinen Sinn, dass du dich selbst bestrafst, indem du darauf verzichtest.“ Maria gab sich geschlagen. Sie humpelte an ihr Medikamentenfach und nahm eine Tablette. Danach legte sie sich auf ihr Bett und schlief nach wenigen Sekunden ein. Kassandra gönnte ihr den Schlaf. Maria hatte stundenlang Laufen geübt und inzwischen ging es schon viel besser. Sie hielt sich kaum noch irgendwo fest, aber die Angst hinderte sie daran, diesen Fortschritt zu bemerken. Kassandra lächelte ihren Schützling liebevoll an. Selbstvertrauen war noch nie ihre Stärke gewesen. Daran würden sie noch arbeiten müssen.

      Mit der Hilfe von Kassandra und einigen Schmerzmitteln schaffte Maria es wirklich, bis zum nächsten Tag wieder zu laufen. Eigentlich wollte Maria erst Gehhilfen mitnehmen, aber mit ihrer verletzten Hand hätte sie diese nicht nutzen können. Die Fahrt brachte sie ohne Probleme hinter sich. Sie wollten bei einer ihrer Freundinnen übernachten. Die Person, die Maria an dem Tag am wichtigsten war, hatte ihr noch nicht sagen können, ob es klappen würde, dass sie auch kommen kann. Ihre Freunde hatten Zweifel, doch Maria nicht.

      „Glaubt mir, sie wird da sein, sonst hätte sie abgesagt.“ Als sie am Theater eintrafen, schaute sie wie so oft die letzten vier Stunden aufs Handy. Sie war seit zwei Stunden nicht online gewesen, also war sie auf dem Weg. Während die anderen sicher waren, dass sie nicht mehr kommen würde, lächelte sie in sich hinein. Kassandra stellte erstaunt fest, dass Maria in dem Fall totales Vertrauen hatte und hoffte inständig, dass dieses nicht enttäuscht wurde. Einige Minuten bevor das Theaterstück begann, wanderte Marias Blick noch einmal auf das Handy und da wusste sie, dass ihr Wunsch wahr werden würde. Genau pünktlich war sie online gewesen. Sie ging noch mal schnell ins Bad, weil die Schmerzen wieder stärker wurden und sie nicht wollte, dass ihre Freunde sahen, dass sie schon wieder eine Tablette brauchte. Es war schließlich schon die dritte an diesem Tag. Als sie aus dem Bad kam, grinsten ihre Freunde sie an.

       „Du hattest Recht, sie ist da, da beim Kartenverkauf.“ Maria hob eine Augenbraue.

       „Ja ne, ist klar. Los, wir sollten rein gehen, sonst verpassen wir noch die Show.“ In dem Moment ging die Tür auf und da stand sie wirklich. Maria brauchte einige Sekunden, bis sie es realisierte. Doch dann lächelte sie überglücklich und fiel ihr regelrecht in die Arme. In dem Moment klingelte es zum dritten Mal und sie musste sie wieder loslassen. Die Show war unglaublich toll und Maria und ihre Freunde kamen aus dem Lachen nicht mehr raus. Nach dem Stück sahen sich Maria und ihr "Engel in Menschengestalt" endlich wieder. Maria kuschelte sich in ihre Arme und genoss den Augenblick. Kassandra zog sich zurück. Diesen Moment wollte sie nicht stören. Sie wusste, dass Maria im wahrsten Sinne des Wortes, in sicheren Händen war. Maria fühlte sich das erste Mal seit dem Unfall wieder wirklich sicher. Ihr Engel ohne Flügel flüsterte:

       „Was machst du nur für Sachen?“ Maria kuschelte sich noch enger an sie und flüsterte zurück:

       „Ich hatte so verdammt viel Glück, dass hätte ganz anders ausgehen können.“ Kassandra sah, dass beide in dem Moment das Gleiche dachten.

       „Fast hätte es dieses Treffen nicht mehr gegeben und auch kein anderes mehr.“ Die beiden wollten sich gar nicht mehr loslassen, was der Engel auch genauso sagte. Das brachte Maria zum Lachen.

      „Gut, dann bleiben wir genau so stehen, aber in viereinhalb Wochen stehst du wieder hier auf der Bühne und da muss ich dich loslassen, denn da bekommen mich keine zehn Pferde rauf.“ Da ließ Marias Engel sie los und lachte auch.

      Die anderen wollten jetzt endlich Fotos machen. Maria hatte darauf so gar keine Lust.

       „Nein, ich sehe aus wie „Chucky die Mörderpuppe.“ Ein sanftes Lächeln von ihrem Engel, ein kleiner Dackelblick