logisch aufgebaute Argumentationskette zu entwickeln, ist in Kramers Gegenwart unmöglich. Nach dem ersten Halbsatz meint er bereits den kompletten Strang vorwegzuahnen und haut in Highspeed die vermeintliche Widerlegung raus, bei der er sich allerdings vokal völlig verfranzt, weil seine Zunge einfach dem Takt seiner Synapsenexplosionen nicht folgen kann.
Dessen ungeachtet lässt Kramer verbale Interventionen keineswegs zu; zur Not bringt er mich einfach zum Schweigen, indem er mir aus nächster Nähe ein langgezogenes „Thoeeeeeeeeeeelke!“ ins Ohr blökt. Die Älteren unter uns werden sich jetzt an die Fernsehsendung „Der große Preis“ erinnert fühlen, und sie liegen richtig. Ein von Loriot erfundener Zeichentrickhund namens Wum pflegte sein Herrchen Wim exakt so zu begrüßen – mit „Thoeeeeeeeeeeelke!“. Ich ertrage also Kramers Blöken gelassen, weil der hierarchich deutbare Subtext mir schmeichelt.
Draußen schneit inzwischen Hamburg zu. Bevor wir gehen, suche ich die karmesinrot getünchten Aurel-Toiletten auf. Walgesänge empfangen mich. Manche klingen so, wie man es von esoterischen Wohngemeinschaften oder weihrauchdurchwaberten Heilsteinläden kennt: irgendwie quiekend. Andere sind deutlich tieffrequenter und gemahnen unschön an Flatulenzen sehr großer Säugetiere. Für Toiletten ein kongenialer Sound. Und in seiner schier riechbaren Bräsigkeit ein erholsamer Ausgleich zu Kramers hibbeligem Silbenstakkato. Vorm Toiletteneingang passiert man übrigens bemalte Kirchenfenster, warum auch immer.
Der Faschingskrapfen
Ein leichter Hexenschuss plagt mich. Ich stakse durch Ottensen wie ein Brett auf zwei Beinen. Als ich erzähle, unter welchen Umständen mich das Missgeschick heimsuchte – nämlich bei der Pediküre –, beömmelt sich der Franke, als hätte ich ihm gerade den besten Blondinenwitz aller Zeiten erzählt. „Beim Zehennägelschneiden!“, bruhahaht er durchs Treppenhaus der Zeisehallen, „beim Zehennägelschneiden!“, und Frau Dagteller stimmt unbeeindruckt von meiner Immobilität illoyal ein.
Ich meinerseits wundere mich tagtäglich, wieso der Franke nicht selbst längst an gewissen Stellen irreparabel immobil geworden ist, zum Beispiel im Magendarmtrakt. Neulich kaufte er drei Faschingskrapfen, deren Ausmaße man unbedingt monströs nennen musste. Das Mittagessen lag zu diesem Zeitpunkt bereits hinter uns, welches der Franke genutzt hatte, um gleich mehrere Frikadellen zu verzehren; die großzügig darüber gekippte Bratensoße hatte ihn aus großen Fettaugen unablässig traurig angeschaut, bis zur letzten Sekunde.
All das ließ nur einen Schluss zu: Der Franke musste pappsatt gewesen sein, als er zum Konditorstand im Mercado schritt und gleichwohl drei Faschingskrapfen orderte. Ich und der ebenfalls anwesende Schwabe vermuteten, er wolle uns in einem Anfall untypischer Kollegialität kostenlos mit Nachtisch versorgen. Doch weit gefehlt. Hoffnungsvolle Andeutungen unsererseits wusste der Naturbursche nämlich dröhnend zu widerlegen. Sein Hohnlachen hallte schaurig durch die Ottenser Häusergassen.
Um uns endgültig im Staub zu zertreten, erklärte er, jene drei Faschingskrapfen seien sowieso nur ein fader Kompromiss. „Wenn es fünf im Sonderangebot gibt“, düpierte er uns final, „dann esse ich fünf!“ Er untermauerte dies mit Schwänken aus seiner Jugend, die nicht nur Faschingskrapfen betrafen. Früher, teilte er Unfassbares mit, habe er mit Vorliebe ein frisches Glas Nutella geöffnet, die obere Hälfte der Schokopaste auf lediglich zwei Brote verteilt und sich nach dem Verzehr des beklagenswerten Backwerks ganz und gar der unteren Hälfte Nutella gewidmet, indem er sie sich ratzeputz pur zuführte, mit einem Messer. „Lange vor Boris Becker!“ wollte er Bewunderung einfahren, doch er erntete nur stumpfes Neben-ihm-Hertrotten. Zum Glück fand ich im Bürokühlschrank noch eine Rippe meiner Schokolade, die Kramers Nachstellungen entgangen war.
Auch heute ergab sich Erzählenswertes nur mit Essensbezug, sogar erneut in Gegenwart des Franken und des Schwaben. Heute mittag nämlich bei „Heiß und fettig“ fiel ich schon wieder in pekuniärem Zusammenhang unangenehm auf. Ich wusste plötzlich mitten im Mahl nicht mehr, ob ich bereits bezahlt hatte. Und dann vergaß ich auch noch, die Sachlage vorm Wegstaksen abschließend aufzuklären, woraufhin mir eine Verkäuferin gestikulierend nachlief und ultimativ 7,40 Euro einforderte.
Die süddeutsche Fraktion feixte im Hintergrund, während ich unter kleinlautem Entschuldigungsgemurmel die Rechnung beglich. „Zechpreller!“, blökte der Franke fröhlich durchs Mercado, „Zechpreller! Und das kommt natürlich nicht in deinem Blog vor, du Maulheld!“, ermunterte er mich zu dieser Blogpassage.
Der Aldi-Tag
Mittwochs ist Aldi-Tag. Dann flanieren wir nach dem Lunch immer noch durch die Filiale in der Bahrenfelder Straße. Wir tun nichts, wir wollen nur schielen (… der Kalauer war unverkneifbar …). Mal hier schauen, mal da, sich despektierliche Bemerkungen zuwerfen über vollsynthetische Jogginghosen, die sich beim Tragen derart statisch aufladen, dass du zu Hause damit den DVD-Player betreiben kannst, und dann einfach wieder gemessenen Schrittes den Laden verlassen. So läuft ein Aldi-Tag.
Flanieren bedeutet schließlich müßiges Umherschlendern, den schnöden Kaufakt sieht die Theorie nicht vor. Am Ende quetschen wir uns stets vorbei an der langen Mittwochsschlange, obwohl uns Aldi das vorsätzlich erschwert. In Kassenhöhe nämlich haben die Albrechtbrüder eine antiflanierend gemeinte Engstelle eingebaut, sodass wir in peinlichen Körperkontakt mit der manchmal nicht völlig repräsentablen Aldikundschaft geraten. Doch das nehmen wir in Kauf – hey, wir sind Flaneure!
Gestern war wieder Aldi-Tag. Dabei entspann sich eine Diskussion über das Wesen dieses allmittwochlichen Tuns, welches ich in Ermangelung eines vom Duden offerierten Nomens gern als Flanage bezeichne. Während der Franke der Auffassung ist, sie funktioniere völlig unabhängig vom Aldi-Angebot, da sie ja grundsätzlich als Konsumverweigerung angelegt sei, bin ich der Auffassung, die Flanage geriete umso genussvoller, je üppiger das Warensortiment sich geriert, dessen Kauf ich verweigere.
Wir kommen zu keinem allgemeingültigen Ergebnis. Beide Auffassungen jedoch stehen im Widerspruch zu den flehentlichen Appellen von Kanzlerin und Bundespräsident, zwecks Ankurbelung der Binnennachfrage endlich unsere Kaufverweigerung aufzugeben. Doch damit können wir leben. Flaneure sind keines Herrn Knechte, und das spöttische Lächeln im Vorübergehen ersetzt ihnen die schalen Pseudofreuden des Konsums.
Von der gefährlichen Aufladung vollsynthetischer Aldijogginghosen vermag ich übrigens nicht aus eigener Erfahrung zu berichten. Ausgerechnet der Aldimann an der Kasse warnte mich nämlich einst in konspirativem Ton davor, als ich einmal eine aufs Laufband gelegt hatte. Er habe sie, flüsterte er flackernden Blicks, selbst ausprobiert, es sei furchtbar, ganz furchtbar.
Wie man sieht, ist es gefährlich, der Flanage ohne Not zu entsagen.
Der historische Tag
Von allen höchst erstaunlichen Un- und Eigenarten des Franken ist die erstaunlichste sein immenses Esstempo. Gäbe es eine Formel 1 in dieser Disziplin und wäre sie ähnlich dotiert wie die, in der Fernando Alonso tätig ist, so bräuchte sich der Franke um sein Auskommen nie mehr zu sorgen. Und seine Nachfahren auch nicht.
Jahrelang schlug er uns beim Essen um Längen, immer und überall. Regelmäßig wurde er so zum Gegenstand unseres süffisanten Spotts, der sich aus Hilflosigkeit ebenso speiste wie aus blankem Entsetzen.
Worin genau seine überlegene Esstechnik besteht, wie er auf dieses immense Tempo kommt, das offenbar niemand inner- und außerhalb Ottensens mitzugehen in der Lage ist, wurde übrigens bis heute nicht richtig erforscht. Dabei ist der Ablauf praktisch immer gleich: Das Essen wird serviert (bis dahin hat der Franke meist schon den Inhalt zweier Brotkörbe intus, minus jener Bröckchen, die der Rest von uns ihm mühsam entwand), alle beginnen mit dem Verzehr, das Gespräch dreht sich um dies und das, der Franke macht hier eine Bemerkung und da eine (er klinkt sich also nicht aus, wie man vermuten könnte), und schwuppdiwupp legt er plötzlich das Besteck beiseite, während Frau Dagteller noch dabei ist, das zweite Salatblatt mit der Gabel anzuvisieren.
Man merkt einfach nicht, wie er das macht. Geräuschlos und ruhig saugt er in Sekunden zwei Nürnberger Rostbratwürste