gestanden und ihre Augen immer noch mit einem so unverwandten Blicke auf den Fremden geheftet, daß in manchen Momenten alle übrigen Gegenstände der sichtbaren Welt zu verschwinden und nur sie und ihn zurückzulassen schienen. Eine solche Begegnung würde ohne Zweifel noch weit entsetzlicher gewesen sein, als selbst deren jetzige Art, wo die heiße Mittagssonne auf ihr Gesicht herab brannte und ihre Schande beschien, mit dem scharlachroten Zeichen der Schmach auf der Brust und dem Sündenkinde auf ihren Armen, mit einem ganzen wie zu einem Feste herbeigekommenen Volke, welches die Züge angaffte, die nur in dem stillen Scheine des Kamins im glücklichen Schatten des Heimathauses oder unter einem Frauenschleier in der Kirche hätten sichtbar sein sollen. So entsetzlich es auch war, so wußte sie doch, daß sie einen Schutz an der Gegenwart dieser Tausende von Zeugen besaß. Es war besser, so dazustehen und so viele zwischen ihm und sich zu haben, als ihn, mit ihm allein, von Angesicht zu Angesicht zu begrüßen. Sie suchte sozusagen in der öffentlichen Schaustellung Zuflucht und fürchtete den Augenblick, wo ihr deren Schutz entzogen werden würde. In diese Gedanken versunken, hörte sie kaum, daß eine Stimme hinter ihr sprach, bis diese ihren Namen mehr als einmal in lautem, feierlichem, der ganzen Versammlung hörbarem Tone wiederholt hatte.
»Hört mich an, Esther Prynne!« sagte die Stimme.
Es ist bereits gesagt worden, daß gerade über dem Gerüst, auf welchem Esther Prynne stand, eine Art von Balkon oder offener Galerie an dem Versammlungshause angebracht war. Dies war der Ort, wo im Beisein des versammelten Magistrats und mit dem ganzen Pomp und Zeremoniell, wovon dergleichen öffentliche Vorgänge zu jener Zeit begleitet waren, Proklamationen erlassen zu werden pflegten. Hier saß, um die Szene, welche wir beschreiben, anzusehen, Gouverneur Bellingham selbst, mit einer Ehrenwache von vier Hellebarden tragenden Sergeanten um seinen Stuhl. Er hatte eine dunkle Feder an seinem Hut, einen gestickten Saum an seinem Mantel und darunter einen schwarzen Samtrock, und war ein Mann von vorgerückten Jahren, in dessen Gesicht schwere Erfahrungen ihre Furchen eingegraben hatten. Er war nicht übel zum Haupte und Vertreter einer Gemeinschaft geeignet, welche ihren Ursprung und Fortschritt sowie ihren gegenwärtigen Zustand nicht den Impulsen der Jugend, sondern der strengen gezügelten Energie der Mannesjahre und der finstern Klugheit des Alters verdankte, und gerade deshalb so viel bewirkte, weil sie sich so wenig einbildete und erhoffte. Die übrigen herausragenden Köpfe, welche den Gouverneur umgaben, zeichneten sich durch eine würdevolle Miene aus, wie sie einer Zeit angehörte, in der man die Formen der Obrigkeit in der Heiligkeit göttlicher Gesetze geborgen wußte. Sie waren ohne Zweifel gute, gerechte und weise Männer, aber es würde nicht leicht gewesen sein, unter der ganzen Menschenfamilie die gleiche Anzahl von weisen und tugendhaften Personen auszuwählen, die weniger geeignet gewesen wären, über ein irrendes Frauenherz zu Gericht zu sitzen und dessen Gewebe von Gutem und Bösem zu entwirren, als die streng aussehenden Männer, welchen Esther Prynne jetzt ihr Gesicht zuwendete. Sie schien in der Tat zu wissen, daß die Teilnahme, welche sie erwarten konnte, nur in dem größeren und wärmeren Herzen der Menge liege, denn als sie ihre Augen zu dem Balkon erhob, erbleichte das unglückliche Weib und bebte.
Die Stimme, die ihre Aufmerksamkeit verlangt hatte, war die des ehrwürdigen und berühmten John Wilson, ältesten Geistlichen von Boston, eines großen Gelehrten, wie die meisten seiner Standesgenossen in jener Zeit, und dabei eines Mannes von gütigem, freundlichem Geiste. Diese letzte Eigenschaft war jedoch weniger sorgfältig entwickelt worden als seine intellektuellen Gaben und, die Wahrheit zu gestehen, eher eine Sache der Beschämung als der Genugtuung für ihn. Da stand er nun mit dem Saum von grauen Locken um sein Käppchen, während seine grauen, an das umschattete Licht seines Studierzimmers gewöhnten Augen in dem unvermischten Sonnenschein blinzelten wie die von Esthers Kind. Er sah aus wie die dunkelgestochenen Porträts, welche wir vor alten Predigtbüchern sehen, und besaß ebensowenig Recht wie eines dieser Porträts hervorzutreten, wie er es jetzt tat, und sich in eine Frage menschlicher Schuld, Leidenschaft und Pein zu mischen.
»Esther Prynne«, sagte der Geistliche, »ich habe mit meinem jungen Amtsbruder hier gerungen, unter dessen Lehre des göttlichen Wortes du zu sitzen das Vorrecht genossen hast –« hier legte Herr Wilson seine Hand auf die Schulter eines blassen jungen Mannes neben ihm – »ich habe, sage ich, diesen gottesfürchtigen jungen Mann zu überreden gesucht, daß er sich deiner annehmen möchte, um hier im Angesicht des Himmels und vor diesen rechtschaffenen und weisen Beamteten und dem ganzen Volke über die Schwärze und Bosheit deiner Sünde zu sprechen. Da er dein natürliches Temperament besser kennt als ich, so könnte er auch besser beurteilen, welche Gründe der Liebe oder der Furcht anzuführen seien, um über deine Hartnäckigkeit und Verstockung zu siegen, damit du nicht länger den Namen desjenigen verschweigen mögest, welcher dich zu diesem schweren Falle gelockt hat; aber er stellt mir mit der übermäßigen Weichheit eines jungen Mannes, obgleich er über seine Jahre hinaus weise ist, entgegen, daß es der Natur des Weibes Unrecht tun hieße, wenn man es zwinge, die Geheimnisse seines Herzens bei so hellem Tageslichte und in Gegenwart einer so großen Menge aufzudecken. Wahrlich, die Schmach liegt, wie ich ihn zu überzeugen suchte, in der Begehung der Sünde und nicht in deren Offenbarung. Ich frage Euch noch einmal, Bruder Dimmesdale, was sagt Ihr dazu? Mußt du es sein oder ich, der sich der Seele dieser armen Sünderin annimmt?«
Es erhob sich ein Gemurmel unter den ernsten würdevollen Männern auf dem Balkon, und Gouverneur Bellingham sprach dessen Bedeutung aus, indem er mit gebietender, wenn auch aus Achtung für den jungen Geistlichen, welchen er anredete, gemilderter Stimme sagte:
»Guter Master Dimmesdale, die Verantwortlichkeit für die Seele dieses Weibes ist in hohem Maße Eure Sache. Es geziemt Euch daher, solches zur Reue und als Beweis und Folge derselben zum Geständnis zu ermahnen.«
Diese direkte Anrede zog die Augen der ganzen versammelten Menge auf Ehrwürden Dimmesdale, einen jungen Geistlichen, der von einer der großen englischen Universitäten alle Gelehrsamkeit jener Zeit in unser wildes Waldland mitgebracht hatte. Seine Beredsamkeit und seine fromme Begeisterung hatten ihm bereits in seinem Berufe hohes Ansehen verschafft. Er war ein Mann von höchst auffallendem Äußern, mit weißer, hoher, fast überhängender Stirn, großen, braunen, melancholischen Augen und einem Munde, der, außer wenn er mit Gewalt zusammengepreßt war, leicht bebte und zugleich nervösen Gefühlsreichtum und eine ungeheure Selbstbeherrschung ausdrückte. Trotz seiner hohen Naturgaben und gelehrten Errungenschaften hatte der junge Geistliche ein besorgtes, erschrecktes, halb wie von Furcht erfülltes Aussehen, als ob er sich auf dem Pfade der menschlichen Existenz völlig verirrt und fremd fühlte und sich nur in seiner eigenen Abgeschiedenheit wohlfühlen könnte. Er wandelte daher, soweit es seine Pflichten gestatteten, auf schattigen Nebenwegen, und erhielt sich auf diese Art einfach und kindlich und trat, wenn es an der Zeit war, dann mit einer Frische und einem Duft und einer tauigen Reinheit des Gedankens hervor, welche, wie viele sagten, sie wie die Rede eines Engels berührten.
Solcher Art war der junge Mann, welchen der ehrwürdige Herr Wilson und der Gouverneur so offen vor das Publikum gezogen und ihm geboten hatten, vor aller Ohren über das selbst in seiner Befleckung so heilige Geheimnis einer Frauenseele zu sprechen. Die Schwierigkeit seiner Lage trieb ihm das Blut aus der Wange und ließ seine Lippen erbeben.
»Sprich zu dem Weibe, mein Bruder«, sagte Herr Wilson, »es ist von Wichtigkeit für ihre Seele und daher, wie der verehrte Gouverneur sagt, auch von Wichtigkeit für deine eigene, unter deren Obhut sich die ihre befindet. Ermahne sie, die Wahrheit zu gestehen.«
Ehrwürden Dimmesdale neigte, wie es schien, in stummem Gebete den Kopf und trat sodann vor.
»Esther Prynne«, sagte er, sich über den Balkon beugend und ihr fest in die Augen blickend, »du hörst, was dieser gute Mann sagt, und siehst die Verantwortlichkeit, in welche ich gestoßen werde. Wenn du fühlst, daß es zur Förderung deines Seelenfriedens beiträgt und daß deine irdische Strafe dadurch wirksamer wird, dir die Seligkeit zu erwerben, so gebiete ich dir, den Namen deines Sünden- und Leidensgenossen auszusprechen. Schweige nicht aus mißverstandenem Mitleid und zarter Rücksicht für ihn, denn glaube mir, Esther, daß es, wenn er auch von einem hohen Platze herabsteigen und dort auf deiner Bühne der Schmach neben dir stehen müßte, doch für ihn so besser wäre, als wenn er lebenslang ein sündiges Herz verbergen müßte. Was kann dein Schweigen für ihn tun, als ihn versuchen, ja gewissermaßen zwingen, seine Sünde durch Heuchelei zu vergrößern! Der