Nathaniel Hawthorne

Der scharlachrote Buchstabe


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– der vielleicht nicht den Mut hat, diesen selbst zu erfassen –, den bittern aber heilsamen Kelch verweigerst, welcher jetzt deinen Lippen geboten wird.«

      Die Stimme des jungen Pastors war bebend, lieblich, voll, tief und gebrochen. Das Gefühl, welches sie so offen kundgab, ließ sie mehr noch als die direkte Bedeutung der Worte in aller Herzen widerhallen und einte die Zuhörer zu gleicher Teilnahme. Selbst der arme Säugling an Esthers Busen wurde von demselben Einfluss berührt, denn er lenkte seinen bis jetzt ziellosen Blick auf Herrn Dimmesdale und hielt seine kleinen Arme mit halb erfreutem, halb klagendem Lallen in die Höhe. Dem Volke kam die Aufforderung des Geistlichen so mächtig vor, daß es nicht anders glaubte, als daß Esther Prynne den Namen des Schuldigen aussprechen, oder daß dieser selbst, auf welchem hohen oder geringen Platze er auch stehen mochte, durch eine innere, unvermeidliche Notwendigkeit hervorgezogen und gezwungen werden würde, die Bühne zu besteigen.

      Esther schüttelte den Kopf.

      »Weib, überschreite nicht die Grenzen der Gnade des Himmels!« rief der ehrwürdige Herr Wilson herber als bisher. »Der kleine Säugling ist mit einer Stimme begabt worden, um den Rat, welchen du gehört hast, zu unterstützen und zu bestätigen. Sprich den Namen aus! Dies und deine Reue wird vielleicht bewirken, daß dir der Scharlachbuchstabe von der Brust genommen wird.«

      »Nie!« antwortete Esther Prynne, indem sie nicht auf Herrn Wilson, sondern in die tiefen besorgten Augen des jüngeren Geistlichen blickte. »Er ist zu tief eingebrannt, Ihr könnt ihn nicht wegnehmen. Und könnte ich doch seine Pein zugleich mit meiner eigenen auf mich nehmen.«

      »Sprich, Weib!« sagte kalt und streng eine andere, aus der um das Gerüst versammelten Menge herauftönende Stimme. »Sprich und gib deinem Kinde einen Vater!«

      »Ich will nicht sprechen«, erwiderte Esther, jetzt bleich wie der Tod, aber doch dieser Stimme, welche sie nur zu sicher erkannte, antwortend: »Und mein Kind muß einen himmlischen Vater suchen, es soll nie einen irdischen kennen.«

      »Sie will nicht sprechen«, murmelte Herr Dimmesdale, der, über den Balkon gebeugt, eine Hand auf seinem Herzen, das Resultat seiner Aufforderung abgewartet hatte. Jetzt trat er mit einem tiefen Atemzuge zurück. »Wundersame Kraft und Großmut eines Frauenherzens! sie will nicht sprechen!«

      Bei der Wahrnehmung der Unlenksamkeit der armen Sünderin begann der ältere Geistliche, welcher sich sorgfältig darauf vorbereitet hatte, an das Volk eine Rede über die Sünde in allen ihren Verzweigungen, aber mit stetem Bezug auf den Schandbuchstaben zu halten. Er betrachtete dieses Symbol die Stunde hindurch so eindringlich, während welcher er seine Sätze über die Häupter des Volkes grollen ließ, daß es in dessen Einbildungskraft neue Schrecken annahm und seine Scharlachfarben von den Flammen des höllischen Abgrunds zu erhalten schien. Esther Prynne behielt unterdessen ihre Stellung auf der Schandbühne mit verglasten Augen und einer Miene müder Gleichgültigkeit. Sie hatte den Morgen über alles, was die Natur ertragen konnte, gelitten, und da ihr Temperament nicht von der Art war, welche durch eine Ohnmacht einem zu heftigen Leiden entrinnt, so konnte ihr Geist nur unter einer steinernen Kruste von Unempfindlichkeit Schutz suchen, während die Fähigkeiten des animalischen Lebens unvermindert blieben. In diesem Zustande donnerte die Stimme des Predigers unbarmherzig, aber eindruckslos auf ihre Ohren ein. Das Kind durchdrang während des letzten Teiles ihrer Prüfung die Luft mit seinem Jammer und Geschrei. Sie bemühte sich mechanisch, es zur Ruhe zu bringen, schien aber kaum für seine Not Teilnahme zu fühlen. Mit denselben harten Griffen wurde sie ins Gefängnis zurückgeführt und verschwand hinter seiner eisenbeschlagenen Tür den Blicken der Menge. Die ihr nachlugten flüsterten einander zu, daß der Scharlachbuchstabe einen grellen Schein entlang dem dunklen Gang des Inneren geworfen habe.

      4

      Die Zusammenkunft

      Nach ihrer Rückkehr in das Gefängnis befand sich Esther Prynne in einem Zustande nervöser Erregung, welcher eine beständige Wachsamkeit erforderte, damit sie nicht gewaltsame Hand an sich legen oder dem armen Säugling in ihrer halben Raserei ein Unheil zufügen möge. Als sich der Abend näherte und Meister Brackett, der Kerkermeister, es unmöglich fand, ihren Ungehorsam durch Tadel oder Strafandrohung zu unterdrücken, hielt er es für angemessen, einen Arzt zu bringen. Er beschrieb ihn als einen Mann von Geschicklichkeit in allen christlichen Arten der Arzneikunst, der aber auch mit dem, was die Wilden in Bezug auf heilende Kräuter und Wurzeln, die im Walde wuchsen, lehren konnten, vertraut sei. Die Wahrheit zu gestehen, bedurfte nicht nur Esther sehr des ärztlichen Beistandes, sondern noch dringender das Kind, welches seinen Lebensquell aus der Mutterbrust erhielt, und aus ihr alle Aufregung, Qual und Verzweiflung, die die Seele der Mutter durchdrangen, eingesogen zu haben schien. Es wand sich jetzt in Krämpfen der Pein und bot in seiner kleinen Gestalt ein eindrucksvolles Abbild der moralischen Folter, welche Esther Prynne den Tag über erduldet hatte.

      In das düstere Gemach trat dicht hinter dem Kerkermeister das Individuum von seltsamem Aussehen, dessen Gegenwart unter der Menge für die Trägerin des Scharlachbuchstabens von so tiefem Interesse gewesen war. Der Mann war im Gefängnis untergebracht worden, nicht weil man ihn im Verdacht irgendeines Vergehens hatte, sondern weil es die bequemste und passendste Weise war, über ihn zu verfügen, bis der Magistrat mit den indianischen Häuptlingen über sein Lösegeld verhandelt haben würde. Er wurde unter dem Namen Roger Chillingworth angemeldet. Der Kerkermeister blieb, nachdem er ihn in den Raum gewiesen, noch einen Augenblick über die verhältnismäßige Ruhe, welche seinem Eintreten gefolgt war, verwundert zurück, denn Esther Prynne war augenblicklich totenstill geworden, wiewohl das Kind zu stöhnen fortfuhr.

      »Ich bitte Euch, Freund, mich mit meiner Patientin allein zu lassen«, sagte der Heilkünstler. »Glaubt mir, guter Kerkermeister, daß Ihr in kurzem Frieden in Eurem Hause haben werdet, und ich verspreche Euch, daß Frau Prynne späterhin rechtmäßiger Gewalt fügsamer sein wird, als Ihr sie bisher gefunden haben mögt.«

      »Nun, wenn Euer Ehren das zuwege bringen kann«, antwortete Meister Brackett, »so werde ich gestehen, daß Ihr wirklich ein Mann von Geschicklichkeit seid. Wahrlich, das Weib ist wie besessen gewesen, und es hat wenig daran gefehlt, daß ich es nicht übernahm, ihr den Satan mit Schlägen auszutreiben.«

      Der Fremde war mit der charakteristischen Ruhe des Standes aufgetreten, als zu welchem gehörig er sich bezeichnet hatte. Sein Benehmen veränderte sich auch dann nicht, als die Entfernung des Gefangenenwärters ihn dem Weibe allein gegenüber ließ, dessen unverwandte Aufmerksamkeit auf ihn unter der Menge ein so nahes Verhältnis zwischen ihm und ihr verkündet hatte. Er wendete seine erste Sorge dem Kinde zu, dessen Geschrei, während es in Krämpfen auf dem Rollbett dalag, allerdings nötig machte, alle andern Geschäfte der Aufgabe seiner Beschwichtigung nachzustellen. Er untersuchte es sorgfältig und öffnete sodann ein ledernes Futteral, welches er unter seinem Gewande hervorzog. Es schien Arzneimittel zu enthalten, von denen er eines in einen Becher mit Wasser schüttete.

      »Meine früheren Studien in der Alchemie«, bemerkte er, »und mein länger als ein Jahr dauernder Aufenthalt unter einem in den freundlichen Eigenschaften der Heilkräuter gut bewanderten Volke haben mich zu einem bessern Arzt gemacht als viele, welche den medizinischen Doktorhut beanspruchen. Hier, Weib! Das Kind ist dein – ich habe nichts mit ihm zu schaffen ... auch wird es meine Stimme und meinen Anblick nicht als die eines Vaters anerkennen. Gib ihm daher diesen Trank mit deiner eigenen Hand ein.«

      Esther stieß das angebotene Arzneimittel zurück, indem sie mit ausdrucksvoller Besorgnis in sein Gesicht blickte.

      »Solltest du dich an dem unschuldigen Säugling rächen wollen?« flüsterte sie.

      »Törichtes Frauenzimmer!« antwortete der Arzt halb kalt, halb beschwichtigend. »Wie sollte es mich ankommen, diesem ehrlosen und elenden Kinde ein Leid zuzufügen? Die Arznei ist von kräftiger guter Wirkung, und wär es mein Kind, mein eigenes, so wie es deines ist, so könnte ich ihm nichts Besseres geben.«

      Da sie immer noch zauderte, indem sie sich allerdings in keinem vernünftigen Geisteszustand befand, nahm er das Kind auf seine Arme und gab ihm selbst den Trank ein. Der bewies bald seine Wirksamkeit und erfüllte das Versprechen des Arztes. Das Stöhnen des kleinen