Mundharmonika. Um diese Tageszeit – der Herbst war schon lange vorgerückt –, eine Stunde nach dem Befehl, anderthalb Stunden vor dem Zapfenstreich, glich die ganze Kaserne einem riesengroßen Schiff. Und es war Carl Joseph auch, als schaukelte sie leise und als bewegten sich die kümmerlichen, gelben Petroleumlampen mit den großen, weißen Schirmen im gleichmäßigen Rhythmus irgendwelcher Wellen eines unbekannten Ozeans. Die Leute sangen Lieder in einer unbekannten Sprache, in einer slawischen Sprache. Die alten Bauern von Sipolje hätten sie wohl verstanden! Der Großvater Carl Josephs noch hätte sie vielleicht verstanden! Sein rätselhaftes Bildnis verdämmerte unter dem Suffit des Herrenzimmers. An dieses Bildnis klammerte sich die Erinnerung Carl Josephs als an das einzige und letzte Zeichen, das ihm die unbekannte, lange Reihe seiner Vorfahren vermacht hatte. Ihr Nachkomme war er. Seitdem er zum Regiment eingerückt war, fühlte er sich als der Enkel seines Großvaters, nicht als der Sohn seines Vaters; ja, der Sohn seines merkwürdigen Großvaters war er. Ohne Unterlaß bliesen sie drüben die Mundharmonika. Er konnte deutlich die Bewegungen der groben, braunen Hände sehen, die das blecherne Instrument vor den roten Mündern hin- und zurückschoben, und hie und da das Aufblinken des Metalls. Die große Wehmut dieser Instrumente strömte durch die geschlossenen Fenster in das schwarze Rechteck des Hofes und erfüllte die Finsternis mit einer lichten Ahnung von Heimat und Weib und Kind und Hof. Daheim wohnten sie in niedrigen Hütten, befruchteten nächtens die Frauen und tagsüber die Felder! Weiß und hoch lag winters der Schnee um ihre Hütten. Gelb und hoch wogte im Sommer das Korn um ihre Hüften. Bauern waren sie, Bauern! Nicht anders hatte das Geschlecht der Trottas gelebt! Nicht anders!...
Weit vorgeschritten war schon der Herbst. Wenn man am Morgen aufsaß, tauchte die Sonne wie eine blutrote Orange am Ostrand des Himmels auf. Und wenn die Gelenksübungen auf der Wasserwiese begannen, in der breiten, grünlichen Lichtung, umrandet von schwärzlichen Tannen, erhoben sich schwerfällig die silbrigen Nebel, auseinandergerissen von den heftigen, regelmäßigen Bewegungen der dunkelblauen Uniformen. Blaß und schwermütig stieg dann die Sonne empor. Zwischen das schwarze Geäst brach ihr mattes Silber, kühl und fremd. Der frostige Schauer strich wie ein grausamer Kamm über die rostbraunen Felle der Rösser; und ihr Wiehern kam aus der nachbarlichen Lichtung, ein schmerzlicher Ruf nach Heimat und Stall. Man machte »Übungen mit dem Karabiner«. Carl Joseph konnte kaum die Rückkehr in die Kaserne abwarten. Er fürchtete die Viertelstunde »Rast«, die gegen zehn Uhr pünktlich eintrat, und das Gespräch mit den Kameraden, die sich manchmal in der nahen Wirtschaft zusammenfanden, um ein Bier zu trinken und den Obersten Kovacs zu erwarten. Noch peinlicher war der Abend im Kasino. Bald brach er an. Es war Pflicht zu erscheinen. Schon näherte sich die Stunde des Zapfenstreichs. Schon durcheilten die dunkelblauen, klirrenden Schatten der heimkehrenden Mannschaften das finstere Rechteck des Kasernenhofes. Schon trat drüben der Wachtmeister Reznicek aus der Tür, die gelblich blinkende Laterne in der Hand, und die Bläser versammelten sich in der Finsternis. Die gelben Messinginstrumente schimmerten vor dem dunklen, leuchtenden Blau der Uniformen. Aus den Ställen kam das schläfrige Wiehern der Pferde. Am Himmel die Sterne blinzelten golden und silbrig.
Es klopfte an der Tür, Carl Joseph rührte sich nicht. Es ist sein Diener, er wird schon eintreten. Sofort wird er eintreten. Er heißt Onufrij. Wie lange hat man gebraucht, um sich diesen Namen zu merken! Onufrij! Dem Großvater wäre der Name noch geläufig gewesen. –
Onufrij trat ein. Carl Joseph preßte die Stirn gegen das Fenster. Er hörte im Rücken den Diener die Hacken zusammenschlagen. Es war Mittwoch heute. Onufrij hatte »Ausgang«. Man mußte Licht machen und einen Zettel unterschreiben. »Machen Sie Licht!«, befahl Carl Joseph, ohne sich umzusehen. Drüben spielten die Leute immer noch Mundharmonika.
Onufrij machte Licht. Carl Joseph hörte das Knacken des Schalters an der Türleiste. Es wurde ganz hell drinnen, hinter dem Rücken. Vor dem Fenster starrte immer noch die rechteckige Finsternis, und drüben blinzelte das gelbe, heimische Licht der Mannschaftsstuben. (Das elektrische Licht war ein Privileg der Offiziere.)
»Wohin gehst du heute?«, fragte Carl Joseph und sah immer noch in die Mannschaftsstuben. »Zu Mädchen!«, sagte Onufrij. Zum erstenmal hatte ihm heute der Leutnant du gesagt. »Zu welchem Mädchen?«, fragte Carl Joseph. »Zu Katharina!«, sagte Onufrij. Man hörte, wie er »Habt acht« stand. »Ruht!«, kommandierte Carl Joseph. Onufrij schob hörbar den rechten Fuß vor den linken.
Carl Joseph wandte sich um. Vor ihm stand Onufrij, die großen Pferdezähne schimmerten zwischen den breiten, roten Lippen. Er konnte nicht »Ruht!«, stehn, ohne zu lächeln. »Wie sieht sie aus, deine Katharina?«, fragte Carl Joseph. »Herr Leutnant, melde gehorsamst, große, weiße Brust!«
»Große, weiße Brust!« Der Leutnant höhlte die Hände und fühlte eine kühle Erinnerung an die Brüste Kathis. Tot war sie, tot!
»Den Zettel!«, befahl Carl Joseph. Onufrij hielt den Dienstzettel hin. »Wo ist Katharina?«, fragte Carl Joseph. »Dienstmädchen bei Herrschaften!«, erwiderte Onufrij. Und »große, weiße Brust!«, fügte er glücklich hinzu. »Gib her!«, sagte Carl Joseph. Er nahm den Dienstzettel, glättete ihn, unterschrieb. »Geh zu Katharina!«, sagte Carl Joseph. Onufrij schlug noch einmal die Hacken zusammen. »Abtreten!«, befahl Carl Joseph.
Er knipste das Licht aus. Er tastete im Dunkeln nach seinem Mantel. Er trat in den Korridor. In dem Augenblick, in dem er unten die Tür schloß, setzten die Bläser zum letzten Abgesang des Zapfenstreiches an. Die Sterne am Himmel flimmerten. Der Posten vor dem Tor salutierte. Hinter Carl Josephs Rücken schloß sich das Tor. Silbern im Mondlicht schimmerte die Straße. Die gelben Lichter der Stadt grüßten herüber wie heruntergefallene Sterne. Der Schritt klang hart auf dem frisch gefrorenen, herbstlich-nächtlichen Boden. Hinter dem Rücken vernahm er die Stiefel Onufrijs. Der Leutnant ging schneller, um sich nicht vom Diener überholen zu lassen. Aber auch Onufrij beschleunigte den Schritt. So liefen sie auf der einsamen, harten und widerhallenden Straße, einer hinter dem andern. Offenbar machte es Onufrij Freude, seinen Leutnant einzuholen. Carl Joseph blieb stehen und wartete. Onufrij reckte sich deutlich im Mondlicht, er schien zu wachsen, er hob den Kopf gegen die Sterne, als bezöge er von dorther neue Kraft für die Begegnung mit seinem Herrn. Seine Arme bewegte er ruckartig, im gleichen Rhythmus wie die Beine; es war, als träte er auch die Luft mit den Händen. Drei Schritte vor Carl Joseph blieb er stehen, die Brust noch einmal reckend, mit einem fürchterlichen Knall der Stiefelabsätze, und die Hand salutierte mit zusammengewachsenen fünf Fingern. Ratlos lächelte Carl Joseph. Jeder andere, dachte er, wüßte etwas Nettes zu sagen. Es war rührend, wie ihm Onufrij folgte. Er hatte ihn eigentlich niemals genau angesehen. Solange er den Namen nicht behalten konnte, war es ihm auch unmöglich gewesen, das Angesicht zu betrachten. Es war so, als hätte er jeden Tag einen anderen Burschen gehabt. Die anderen sprachen von ihren Burschen mit kennerischer Sorgfalt, wie von Mädchen, Kleidern, Lieblingsspeisen und Pferden. Carl Joseph dachte an den alten Jacques zu Hause, wenn von Dienern die Rede war, an den alten Jacques, der noch dem Großvater gedient hatte. Es gab, außer dem alten Jacques, keinen Diener auf der Welt! Jetzt stand Onufrij vor ihm auf der mondbelichteten Landstraße, mit mächtig aufgepumptem Brustkorb, mit glitzernden Knöpfen, spiegelnd gewichsten Stiefeln und im breiten Angesicht eine krampfhaft verborgene Freude über die Zusammenkunft mit dem Leutnant. »Stehen S'! Ruht!«, sagte Carl Joseph.
Er hätte etwas Liebenswürdigeres sagen mögen. Der Großvater hätte es zu Jacques gesagt. Onufrij setzte knallend den rechten Fuß vor den linken. Sein Brustkorb blieb aufgepumpt, der Befehl hatte keine Wirkung. »Stehen S' kommod!«, sagte Joseph, etwas traurig und ungeduldig. »Steh' ich kommod, melde gehorsamst!«, erwiderte Onufrij. »Wohnt sie weit von hier, dein Mädchen?«, fragte Carl Joseph. »Nicht weit, eine Stunde Marsch, melde gehorsamst, Herr Leutnant!« – Nein, es ging nicht! Carl Joseph konnte kein Wort mehr finden. Er würgte an irgendeiner unbekannten Zärtlichkeit, er wußte nicht, mit Burschen umzugehen! Mit wem denn sonst? Seine Ratlosigkeit war groß, auch vor den Kameraden fand er kaum ein Wort. Warum flüsterten sie alle, wenn er sich von ihnen abwandte und ehe er zu ihnen stieß? Warum saß er so schlecht zu Pferd? Ach, er kannte sich! Er sah seine Silhouette wie im Spiegel, man konnte ihm nichts einreden. Hinter seinem Rücken zischelten die geheimen Reden der Kameraden. Ihre Antworten begriff er erst, nachdem man sie ihm erklärt hatte, und auch dann konnte er nicht lachen; dann erst recht nicht! Der Oberst Kovacs liebte ihn dennoch. Und er hatte