eine charmante Frau!« Und er hob bei dem Wort »charmant« seine Hand, an der die lockeren Finger in der Luft tänzelten. »Ich hab' sie noch als junges Mädel gekannt«, sagte der Fähnrich. »Interessant«, sagte Kindermann. Er heuchelte deutlich. »Ihr Vater war früher einer der reichsten Hutfabrikanten«, fuhr der Fähnrich fort. Es war, als läse er in Akten. Er schien über seinen Satz erschrocken und hielt ein. Das Wort »Hutfabrikanten« klang ihm zu zivilistisch, er saß schließlich nicht mit Rechtsanwälten zusammen. Er schwor sich im stillen zu, von nun ab jeden Satz genau vorher zu überlegen. Soviel war er der Kavallerie schon schuldig. Er versuchte, Trotta anzusehen. Der saß just an der Linken, und vor dem rechten Auge trug Bärenstein das Monokel. Deutlich konnte er nur den Leutnant Kindermann sehen: und der war gleichgültig. Um zu erkennen, ob die familiäre Erwähnung des Hutfabrikanten einen niederschmetternden Eindruck auf den Leutnant Trotta gemacht habe, zog Bärenstein sein Zigarettenetui und hielt es links hin, entsann sich gleichzeitig, daß Kindermann rangälter war, und sagte, nach rechts gewandt, hastig: »Pardon!«
Schweigend rauchten jetzt alle drei. Carl Josephs Blicke richteten sich gegen das Bildnis des Kaisers an der Wand gegenüber. Da war Franz Joseph in blütenweißer Generalsuniform, die breite, blutrote Schärpe quer über der Brust und den Orden des goldenen Vlieses am Halse. Der große, schwarze Feldmarschallshut mit dem üppigen, pfauengrünen Reiherbusch lag neben dem Kaiser auf einem wacklig aussehenden Tischchen. Das Bild schien ganz fern zu hängen, weiter war es als die Wand. Carl Joseph erinnerte sich, daß ihm dieses Bildnis in den ersten Tagen, da er eingerückt war, einen gewissen stolzen Trost bedeutet hatte. Damals war es jeden Augenblick so gewesen, als könnte der Kaiser aus dem schmalen, schwarzen Rahmen treten. Allmählich aber bekam der Allerhöchste Kriegsherr das gleichgültige, gewohnte und unbeachtete Angesicht, das seine Briefmarken und seine Münzen zeigten. Sein Bild hing an der Wand des Kasinos, eine merkwürdige Art von einem Opfer, das ein Gott sich selber darbringt... seine Augen – früher einmal hatten sie an sommerliche Ferienhimmel erinnert – bestanden nunmehr aus einem harten, blauen Porzellan. Und es war immer noch der gleiche Kaiser! Daheim, im Arbeitszimmer des Bezirkshauptmanns hing dieses Bild ebenfalls. Es hing in der großen Aula der Kadettenschule. Es hing in der Kanzlei des Obersten in der Kaserne. Und hunderttausendmal verstreut im ganzen weiten Reich war der Kaiser Franz Joseph, allgegenwärtig unter seinen Untertanen wie Gott in der Welt. Ihm hatte der Held von Solferino das Leben gerettet. Der Held von Solferino war alt geworden und gestorben. Jetzt fraßen ihn die Würmer. Und sein Sohn, der Bezirkshauptmann, der Vater Carl Josephs, wurde auch schon ein alter Mann. Bald werden auch ihn die Würmer fressen. Nur der Kaiser, der Kaiser schien eines Tages, innerhalb einer ganz bestimmten Stunde alt geworden zu sein; und seit jener Stunde in seiner eisigen und ewigen, silbernen und schrecklichen Greisenhaftigkeit eingeschlossen zu bleiben, wie in einem Panzer aus ehrfurchtgebietendem Kristall. Die Jahre wagten sich nicht an ihn heran. Immer blauer und immer härter wurde sein Auge. Seine Gnade selbst, die über der Familie der Trottas ruhte, war eine Last aus scheidendem Eis. Und Carl Joseph fror es unter dem blauen Blick seines Kaisers. Daheim, er erinnerte sich, wenn er zu den Ferien heimgekehrt war und am Sonntag, vor dem Mittagessen, der Kapellmeister Nechwal seine Militärkapelle im vorgeschriebenen Rund aufgestellt hatte, war man bereit gewesen, für diesen Kaiser in einem wonnigen, warmen und süßen Tod dahinzusterben. Lebendig war das Vermächtnis des Großvaters gewesen, dem Kaiser das Leben zu retten. Und ohne Unterbrechung rettete man, wenn man ein Trotta war, dem Kaiser das Leben. Nun war man kaum vier Monate im Regiment. Auf einmal war es, als bedurfte der Kaiser, unnahbar geborgen in seinem kristallenen Panzer, keiner Trottas mehr. Man hatte zu lange Frieden. Der Tod lag weit vor einem jungen Leutnant der Kavallerie, wie die letzte Stufe des vorschriftsmäßigen Avancements. Man wird einmal Oberst werden und hierauf sterben. Indessen ging man jeden Abend ins Kasino, man sah das Bild des Kaisers. Je länger der Leutnant Trotta es betrachtete, desto ferner wurde ihm der Kaiser.
»Da schau her!«, flötete die Stimme Leutnant Kindermanns. »Der Trotta hat sich in den Alten verschaut!«
Carl Joseph lächelte Kindermann zu. Der Fähnrich Bärenstein hatte längst eine Partie Domino begonnen und war im Begriff zu verlieren. Er hielt es für eine Anstandspflicht zu verlieren, wenn er mit Aktiven spielte. Im Zivil gewann er immer. Er war sogar unter Rechtsanwälten ein gefürchteter Spieler. Wenn er aber zu den jährlichen Übungen einrückte, schaltete er seine Überlegung aus und bemühte sich, töricht zu werden. »Der verliert unaufhörlich«, sagte Kindermann zu Trotta. Der Leutnant Kindermann war überzeugt, daß die »Zivilisten« minderwertige Wesen waren. Nicht einmal im Domino konnten sie gewinnen.
Der Oberst saß immer noch in seiner Ecke mit dem Rittmeister Taittinger. Einige Herren wandelten gelangweilt zwischen den Tischchen. Sie wagten nicht, das Kasino zu verlassen, solange der Oberst spielte. Die sanfte Pendeluhr weinte jede Viertelstunde sehr deutlich und langsam, ihre wehmütige Melodie unterbrach das Klappern der Dominosteine und der Schachfiguren. Manchmal schlug eine der Ordonnanzen die Hacken zusammen, lief in die Küche und kehrte mit einem Gläschen Cognac auf einer lächerlich großen Platte wieder. Manchmal lachte einer schallend auf, und sah man in die Richtung, aus der das Gelächter kam, so erblickte man vier zusammengesteckte Köpfe und begriff, daß es sich um Witze handelte. Diese Witze! Diese Anekdoten, bei denen alle sofort erkannten, ob man aus Gefälligkeit mitlachte oder aus Verständnis! Sie schieden die Heimischen von den Fremden. Wer sie nicht verstand, gehörte nicht zu den Bodenständigen. Nein, nicht zu ihnen gehörte Carl Joseph!
Er war im Begriff, eine neue Partie zu dritt vorzuschlagen, als die Tür geöffnet wurde und die Ordonnanz mit einem auffällig lauten Knall der Stiefelhacken salutierte. Es wurde im Augenblick still. Der Oberst Kovacs sprang von seinem Sitz auf und sah nach der Tür. Kein anderer war eingetreten als der Regimentsarzt Demant. Er selbst erschrak über die Aufregung, die er verursacht hatte. Er blieb an der Tür stehn und lächelte. Die Ordonnanz an seiner Seite stand immer noch stramm und störte ihn sichtlich. Er winkte mit der Hand. Aber der Bursche merkte es nicht. Die starken Brillengläser des Doktors waren leicht überhaucht von dem herbstlichen Abendnebel draußen. Er war gewohnt, die Brille abzunehmen, um sie zu putzen, wenn er aus der kalten Luft in die Wärme trat. Hier aber wagte er es nicht. Es dauerte eine Weile, ehe er die Schwelle verließ. »Ah, schau her, da ist ja der Doktor!«, rief der Oberst. Er schrie aus Leibeskräften, als gälte es, sich im Getümmel eines Volksfestes verständlich zu machen. Er glaubte, der Gute, daß Kurzsichtige auch taub seien und daß ihre Brillen klarer würden, wenn ihre Ohren besser hörten. Die Stimme des Obersten bahnte sich eine Gasse. Die Offiziere traten zurück. Die wenigen, die noch an den Tischen gesessen hatten, erhoben sich. Der Regimentsarzt setzte vorsichtig einen Fuß vor den andern, als ginge er auf Eis. Seine Brillengläser schienen allmählich klarer zu werden. Grüße kamen ihm von allen Seiten entgegen. Nicht ohne Mühe erkannte er die Herren wieder. Er beugte sich vor, um in den Gesichtern zu lesen, wie man in Büchern studiert. Vor dem Obersten Kovacs blieb er endlich stehen, mit gereckter Brust. Es sah stark übertrieben aus, wie er so den ewig vorgeneigten Kopf am dünnen Hals zurückwarf und seine abschüssigen, schmalen Schultern mit einem Ruck zu heben suchte. Man hatte ihn, während seines langen Krankheitsurlaubs, beinahe vergessen; ihn und sein unmilitärisches Wesen. Man betrachtete ihn jetzt nicht ohne Überraschung. Der Oberst beeilte sich, dem vorschriftsmäßigen Ritus der Begrüßung ein Ende zu machen. Er schrie, daß die Gläser zitterten: »Gut schaut er aus, der Doktor!«, als wollte er es der ganzen Armee mitteilen. Er schlug seine Hand auf die Schulter Demants, wie um sie wieder in ihre natürliche Lage zu bringen. Sein Herz war allerdings dem Regimentsarzt zugetan. Aber der Kerl war unmilitärisch, Sapperlot, Donnerwetter! Wenn er nur ein bißchen militärischer wäre, brauchte man sich nicht immer so anzustrengen, um ihm gut zu sein. Man hätte auch, zum Teufel, einen anderen Doktor schicken können, grad in sein Regiment! Und diese ewigen Schlachten, die das Gemüt des Obersten seinem soldatischen Geschmack zu liefern hatte, wegen dieses verfluchten, netten Kerls, konnten schon einen alten Soldaten aufreiben. An diesem Doktor gehe ich noch zugrunde! dachte der Oberst, wenn er den Regimentsarzt zu Pferde sah. Und eines Tages hatte er ihn gebeten, lieber nicht durch die Stadt zu reiten.
Man muß ihm was Nettes sagen, dachte er aufgeregt. Das Schnitzel war heute ausgezeichnet! fiel ihm in der Eile ein. Und er sagte es. Der Doktor lächelte. Er lächelt ganz zivilistisch, der Kerl! dachte der Oberst. Und plötzlich entsann er sich, daß da noch einer war, der den Doktor nicht kannte. Der Trotta natürlich!