Alexandra Bauer

Die Midgard-Saga - Muspelheim


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von allem, was wir kennen. Willst du wirklich, dass ich dir davon berichte?“

      „Tu es!“, befahl Odin.

      Mit einem Seufzen schloss Jordis die Lider. „Es beginnt in der Menschenwelt. Kriege erschüttern Midgard und tränken die Erde mit Blut. Die Mächte des Chaos haben die Herzen der Menschen vergiftet. Asen und Wanen können der Zerstörung nur tatenlos zusehen.“ Sie öffnete die Augen und sah Odin traurig an. „Der eigene Bruder wird den Bruder töten. Die Überlebenden werden von einem dreijährigen Winter geplagt. Er lässt nur wenige Menschen und Tiere in Midgard zurück.“ Sie sah Odin lange an. „Alsdann holt Angrbodas Brut Sonne und Mond ein. Sie verschlingen beide, die Sterne verschwinden, die Welt wird in Finsternis gehüllt. Nidhöggr durchtrennt die Wurzel der Weltenesche, der Baum fällt.“

      „Yggdrasil?“, stöhnte Odin fassungslos.

      Jordis senkte den Blick. „Willst du es wirklich wissen?“

      Odin nickte und Jordis fuhr fort: „Nachdem der Weltenbaum fällt, bläst Heimdall in sein Horn und ruft die Götter zur letzten Schlacht. Aber auch die Riesen vernehmen das Zeichen. Sie versammeln sich. Gierig und hungrig zu töten, ziehen sie zum Ort der Entscheidung. Die Midgardschlange weiß, dass ihre Zeit gekommen ist. Begierig wälzt sie ihren Körper über das Land. Nur wenige Menschen haben den Winter überlebt. Die Sturmfluten Jörmungands reißen die Überlebenden an den Küsten in den Tod.“ Jordis warf Odin einen prüfenden Blick zu. Als der Gott sie drängelte, weiterzusprechen, seufzte sie. „Auch Naglfar reißt sich los. Loki steuert das Heer der Toten gegen die Götter. In seiner Begleitung ist der Fenriswolf, der alles verschlingt, was ihm in den Weg kommt.“

      „Loki!“, ächzte Odin. „Er ist mein Blutsbruder. Wieso sollte er das tun?“

      „Die Fesselung und die vielen Jahre der Pein wird er nicht vergeben. Er ist ein stolzer und verletzter Freund. Einst half er den Asen aus Schwierigkeiten, nun trachtet er nach deren Tod.“

      Alle Farbe wich aus dem Gesicht des Göttervaters. „Fesselung? Aber wir sind stark! Auch wir haben mächtige Kämpfer.“

      „Und ihr werdet euch mutig euren Gegnern entgegenstellen. Doch die Last alter Schuld wird euch zum Verhängnis werden. Da ist Freyr, Freyas Bruder. Er gab sein Schwert vor langer Zeit seinem Diener, um die Riesin Gerda zu gewinnen. Nur mit einem Geweih bewaffnet stellt er sich gegen den mächtigen Surtr. Er bezahlt es mit dem Leben.“ Jordis legte eine Pause ein. „Du solltest gehen. Das Wissen um die Geschehnisse wird dein Herz nur schwer machen. Noch ist Ragnarök nicht gekommen.“

      „Was ist mit Thor? Er ist der Machtvollste unter uns allen. Er wird die Riesen in die Flucht schlagen!“

      „Thor kämpft gegen die Midgardschlange. Du hast recht, er ist stark, sein Herz rein und voller Mut. Er wird den Wurm besiegen, doch er läuft nur neun Schritte und fällt vergiftet zu Boden.“

      Odin ächzte. „Auch Tyr versteht zu kämpfen. Was ist mit ihm?“

      „Tyr trifft auf Garm. Er zahlt genauso für die Schuld, die er einst beging, wie es Freyr tut. Das Schwert in der linken Hand führend ist er nicht fähig, Hels Hund niederzuringen. Sie töten sich gegenseitig. Ebenso ergeht es Heimdall, der seinem alten Feind Loki begegnet. Beide sterben vom Schwert des anderen getroffen.“

      „Ich will nicht glauben, dass Loki gegen uns kämpfen wird. Er ist mein Blutsbruder!“

      „Und doch wird es geschehen.“

      „Was ist mit mir?“

      Jordis seufzte. „Der Fenriswolf wird dein Ende sein. Lokis Sohn wird vollenden, was der Vater nicht schaffte.“

      „Fenrir? Er lebt unter uns in Asgard!“, protestierte Odin.

      „Vidar rächt dich. Er tötet den Wolf und wird Ragnarök überleben, doch gegen das Flammenschwert des Surtr wird auch er nichts ausrichten. Der Feuerriese schwingt seine todbringende Waffe in alle Richtungen und steckt die Welt in Brand. Das Feuer vernichtet Riesen, Zwerge, Einherjer ... und die letzten Asen ...“

      „Surtr wird es also sein, der die Welt zugrunde richtet.“ Odin legte die Stirn in zornige Falten. „Er schwor, den Frieden zu wahren!“

      „In jedem Ende liegt auch ein Neubeginn“, versuchte Jordis ihn zu besänftigen. „Zwei Menschen überleben. Fimbultyr wird ihnen eine neue Welt formen. Balder und Hödur kehren aus Hel zurück. Balder wird diese Welt lenken und eine Zeit nie gekannten Friedens einläuten.“

      „Balder und Hödur kommen aus Hel zurück? Warum sind sie in Hel?“, staunte Odin.

      „Sie werden dort sein, wenn Ragnarök über die Asen kommt.“ Freydis schlug die Augen nieder.

      „Wann wird es geschehen?“, fragte Odin gefasst.

      „Noch viele Winter werden kommen und gehen, Generationen von Menschen die Welt bevölkern. Du wirst ein sehr, sehr langes Leben führen, Allvater.“

      Odin holte Luft. Dann lehnte er sich vor. „Erzähle mir mehr“, forderte er. „Ich muss alles wissen, bis ins kleinste Detail.“

      Jordis nickte. „Wie du wünschst, Odin.“

      1. Kapitel

      

      Gedankenversunken saß Thea am Rande Asgards und blickte auf Midgard hinab. Guten Mutes, die dunklen Ereignisse aus Hel irgendwie hinter sich zu lassen, hatte sie in den letzten Tagen viele Stunden hier verbracht, doch es trieb die Geschehnisse nicht aus ihrem Kopf. In der Totenwelt war sie Menschen eines vergangenen Lebens begegnet, die zu einem unwiderruflichen Teil ihres jetzigen Selbst geworden waren. Sie vermisste jeden Einzelnen von ihnen, vor allem Geirunn. Schlimmer als die Sehnsucht war die Gewissheit, dass sie die Gefährtin ihres früheren Ichs niemals wiedersehen würde. Beim Versuch die Totengöttin zu hintergehen und Balder aus ihrem Reich zu befreien, hatte Thea Hel verärgert, worauf diese ihr jede Aussicht irgendwann ins Totenreich zurückzukehren, verwehrte. Das war die Strafe für ihren Verrat und Theas anschließende Flucht. Wie eine stete Mahnung lag die Fylgja neben ihr. Seit ihrem Abenteuer in Hel zeigte sich ihr der Folgegeist. Jeder Mensch befand sich in Begleitung eines solchen Schutzwesens – sie offenbarten sich ihm aber erst kurz vor dessen Tod. Laut Hel war Thea im Slidr, einem Fluss, in dem Schwerter und Messer treiben, gestorben. Da in Hel alle Wunden heilen, hatte niemand davon Notiz genommen. Die Fylgja allerdings schon. Das seltsame Gefühl weder zu den Lebenden, noch zu den Toten zu gehören, begleitete Thea. Auch wenn sie sich dagegen wehrte, die Ereignisse in Hel hatten tiefe Spuren in ihrer Seele hinterlassen. Tom war ihr kaum von der Seite gewichen, seit sie wieder in Asgard angekommen waren und auch die junge Baba Jaga und Juli taten ihr Bestes, um Thea aufzumuntern, doch selbst Wal-Freya war es nicht gelungen, die finsteren Wolken aus Theas Geist zu vertreiben. Sie zog die Einsamkeit den gemeinsamen Momenten vor und ihre Freunde akzeptierten es, wenn auch nur schweren Herzens.

      „Hallo Grüblerin!“ Wie aus dem Nichts tauchte Djarfur hinter Thea auf. Sanft stieß das Walkürenpferd sie mit der Schnauze an. „Du solltest damit aufhören, Tag für Tag hier zu hocken und nach Midgard zu starren.“

      „Es lenkt mich ab“, erwiderte Thea.

      Djarfur wieherte amüsiert. „Tut es nicht. Das weißt du.“

      „Was treibt dich zu mir?“, entgegnete sie mit einem Schmunzeln und leitete das Gespräch geschickt in eine andere Richtung.

       „Odin und Frigg haben aufgehört zu streiten.“

      Thea drehte sich ruckartig um. „Was? Kein Flax?“

      Djarfur nickte. „Wal-Freya sagte, ich soll dich holen. Die Asen wollen über das weitere Vorgehen beraten.“

      Sie stand auf. „Warum sagst