Carlo Fehn

Die Akte "Rehlein"


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      Carlo Fehn

      Die Akte »Rehlein«

      Hauptkommissar Pytlik hat beim Kronacher Schützenfest nach einer enttäuschenden Begegnung mit einer Schweizerin für viel Aufsehen gesorgt und ist das Gesprächsthema Nr. 1 in der Lucas-Cranach-Stadt. Vielmehr als die Sorge um sein Image interessieren ihn allerdings die Informationen, die er von dem plötzlich auftauchenden Sohn eines ehemaligen Journalisten aus Lauenstein erhält. Der Mord an einem Mädchen aus Wilhelmsthal im Jahr 1978 rückt dabei immer mehr in den Fokus der Ermittler in der Polizeiinspektion am Kaulanger. Als Pytlik beim ersten Treffen mit dem Informanten eine böse Überraschung erlebt, beginnt für ihn und seinen Assistenten Hermann ein mörderisches Verwirrspiel, das eine Wahrheit ans Licht bringt, die niemand im Landkreis Kronach für möglich gehalten hätte.

      Die Akte »Rehlein« - Hauptkommissar Pytliks neunter Fall

      Carlo Fehn

      published by: epubli GmbH, Berlin

      www.epubli.de

      Copyright: © 2016 Verlag Carlo Fehn

      ISBN 978-3-7418-8136-7

       Donnerstag, 21. August 2008

      Pytlik hätte es eigentlich nicht auf sich sitzen lassen dürfen. Da hatte doch tatsächlich jemand gewagt, ihm anonym – ohne jeglichen Absender und ohne irgendwelche Informationen zum Hintergrund – eine Eintrittskarte für William Shakespeares Sommernachtstraum bei den Faustfestspielen in Kronach in den Briefkasten zu werfen. Eigentlich hätte er hier investigativ vorgehen müssen, dachte er sich: Nachbarn befragen, Spurensicherung einschalten, seinen Assistenten Cajo Hermann anrufen und viele weitere Dinge veranlassen. Nein! Keinen Augenblick hatte der Ermittler auch nur daran gedacht, irgendetwas dergleichen zu unternehmen. Da der Kronacher Hauptkommissar an diesem Donnerstagabend noch nichts vorhatte, entschloss er sich dazu, die geheimnisvolle Einladung anzunehmen.

      Auf dem Weg hoch zur Festung Rosenberg überlegte er unaufgeregt, wem er wohl diese gleichermaßen mysteriöse wie auch aufmerksame Geste zu verdanken hatte. Wer wollte sich da, wofür auch immer, erkenntlich zeigen? Steckte vielleicht mehr dahinter als nur eine Revanche für einen Gefallen seinerseits? Er beschloss, sich einfach überraschen zu lassen und hoffte insgeheim darauf, dass sich die Lösung des Rätsels auf dem Sitzplatz links oder rechts neben ihm finden würde. Es war ein herrlicher Augustabend und Pytlik plante auf seinem Weg durch die Stadt, wie er diesen nach dem Ende der Vorstellung weiter verbringen wollte. Es dauerte nicht allzu lange, und noch bevor er die Treppen hinauf zum Melchior-Otto-Platz in Angriff nahm, war alles in trockenen Tüchern durchdacht. Wenn alles wie erwartet verlaufen würde, könnte Pytlik auf der Festung nach dem Ende des Sommernachtstraums das Brillantfeuerwerk beobachten, das kurz nach Ende der Aufführung im Rahmen des Kronacher Freischießens stattfinden würde. Danach sollte es ein Leichtes sein, sich gut gelaunt auf den Weg hinunter auf die Festwiese zu machen und dort mit dem einen oder anderen Bekannten, den er treffen würde, mit einer Schützenfestmaß anzustoßen. Insgeheim dankte Pytlik der oder dem Unbekannten für die Einladung und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Was für ein toller Abend, dachte er.

      ***

      Ein Reisebus, der eine Touristengruppe extra zur Aufführung nach Kronach gebracht hatte, war aufgrund einer Reifenpanne verspätet angekommen, weshalb die Veranstalter beschlossen hatten, den Sommernachtstraum 30 Minuten später beginnen zu lassen. Pytlik hatte die Zeit genutzt, sich bereits das eine oder andere Gläschen Sekt gegönnt, hier und da »hallo« gesagt und ein paar lockere Schwätzchen gehalten. Er war ja nun nicht gerade unbekannt in der Lucas-Cranach-Stadt – im Gegenteil. Durch Zufall lernte er im Gespräch mit einigen Bekannten, die anwesend waren, eine Frau kennen, die ihn vom ersten Augenblick an in ihren Bann gezogen hatte. Sie war nicht von hier, da war er sich sicher. Schnell hatte er herausgehört, dass sie Schweizerin war und sich auf einer Bildungsreise in Oberfranken befand. Die Beiden verstanden sich sehr schnell sehr gut und wie es der Zufall wollte, saß die langbeinige, äußerst attraktive blonde Frau doch tatsächlich neben Pytlik auf der Zuschauertribüne. Natürlich hatte er überlegt, ob sie die anonyme Kartenschenkerin sein konnte. Warum aber, hatte er sich im gleichen Augenblick gefragt. Auf jeden Fall witterte er die Chance, den ohnehin schon einladenden Plan für die Gestaltung des Abends und der Nacht möglicherweise noch um einen Höhepunkt zu ergänzen.

      Er benahm sich wie ein verliebter Teenager! Er klatschte höflich Applaus, wenn seine Begleitung es auch tat. Immer wieder flüsterte er ihr Kommentare zum Dargebotenen ins Ohr, um mit kaum vorhandenem Sachverstand zu punkten. Wenn sie lachen musste, tat er das auch. Wenn sie ihm etwas zuhauchte, übertrieb er es mit nickender Zustimmung. Pytlik sehnte eigentlich nur das Ende der Vorstellung herbei. Er hoffte, dass sie ihn noch zum Freischießen begleiten würde. Alles Andere, da war er sich sicher, wäre dann ein Kinderspiel.

      Der Hauptkommissar war in Gedanken schon längst bei der weiteren Abendgestaltung angekommen, als plötzlich das Unfassbare geschah. Durch den verspäteten Beginn der Aufführung hatte sich auch das Ende nach hinten gezogen. Ob es an mangelnder Kommunikation zwischen den beteiligten Verantwortlichen oder der Sturheit auf einer der beiden Seiten gelegen hatte, diese Frage konnte Pytlik nicht beantworten. Er hatte sich gerade zum wiederholten Mal zu seiner Begleitung hinübergebeugt, um ihr etwas mitzuteilen, als er, alle anderen Zuschauer auf den Stahltribünen und die Schauspieler durch einen ohrenbetäubenden Knall erschreckt und der eine oder die andere fast vom Sitz gerissen wurden. Die Akteure auf der kurzgemähten Wiese reagierten professionell; schließlich ging der Sommernachtstraum dem Finale entgegen. Auch das deutlich wahrnehmbare Raunen und sichtbare Staunen, die plötzliche Unruhe und das kopfschüttelnde Unverständnis waren nach wenigen Augenblicken der scheinbaren Besinnungslosigkeit schnell wieder verflogen. Hätte man die Gedanken vieler der Besucher vertonen können, wäre wohl beispielhaft ein Satz gefallen wie: »Ja, sind die denn noch zu retten, das Feuerwerk zu beginnen, während hier noch die Aufführung läuft?«

      Tatsächlich folgten dem eröffnenden Böllerschuss nach einigen Augenblicken der Ruhe die ersten Blitze und Lichtkugeln, die den Himmel über dem Gelände auf der Festung Rosenberg in alle möglichen Farben tauchten. Auch der Hauptkommissar konnte nun sein Erstaunen nicht mehr zurückhalten und schüttelte kräftig den Kopf. Gleichzeitig blickte er zu Elisabeth, der Schweizerin, um ihr deutlich zu zeigen, dass er dies nicht gutheißen wollte.

      »Unglaublich ist das!«

      Er konnte hierbei sogar normal reden, denn die Unruhe im Publikum war nun doch großflächig entstanden. Die charmante Frau schürzte nur kurz die Lippen und wirkte sogar etwas amüsiert von dem, was gerade geschah. Sie schien die Kombination des illuminierten Himmels in Verbindung mit den immer wiederkehrenden Explosionsgeräuschen sogar deutlich mehr zu genießen, als das, was sie bis dahin gesehen und gehört hatte.

      »Schauen Sie doch nur, Franz! Ist das nicht wunderbar? Ich liebe Feuerwerke. Wenn bei uns in Zürich bei entsprechenden Anlässen die ganze Stadt in herrlichen Farben erscheint, fühle ich mich immer wie in einem Märchen.«

      Als sie das so sagte, starrte Pytlik gebannt auf ihren Mund und konnte den Blick nicht mehr von ihr lassen. Und er dachte sich, wie gern er in einem dieser Märchen Prinz gewesen wäre. Und sie erzählte weiter. Dabei senkte sie die Stimme, weil sie nicht unhöflich und desinteressiert wirken wollte. Pytlik hätte sie am liebsten geküsst, doch genau in dem Moment, als er darüber nachdachte, wurde dem grotesken Treiben dann die Krone aufgesetzt. Der Kronacher Hauptkommissar hatte von Beginn der Vorstellung an überlegt, was er vergessen hatte. Irgendetwas hatte nicht gestimmt. Als sein Handy sich mit der Titelmelodie von Star Wars lautstark bemerkbar machte, war er für einige Momente zunächst wie gelähmt. Ja, er fragte sich sogar noch, wo denn jetzt ein Handy klingeln würde. Wäre es denn nicht schon dumm genug, dass die Feuerwerker und Schauspieler für Chaos gesorgt hatten. Erst als Elisabeth ihn fragte, ob er denn nicht rangehen wollte, griff Pytlik hektisch und um sich schauend in das Innere seines Jacketts, holte das Mobiltelefon hervor und warf einen kurzen, konzentrierten Blick auf das Display. Unbekannter Anrufer stand da, und Pytlik drückte sogleich die Taste mit dem roten Hörer darauf.

      Der Hauptkommissar drehte danach seinen Kopf noch einmal in alle Richtungen und deutete eine entschuldigende Geste an. Unverständnis hier, Häme da, Anderen wiederum war es nun auch völlig egal, welche Störungen