Carlo Fehn

Die Akte "Rehlein"


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kannte die Stimme, die von zwei oder drei Reihen oberhalb zu ihm hinunter geätzt hatte. Ohne sich erneut umzudrehen, hob er nur die Faust und machte den Daumen nach oben, womit er sagen wollte: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen! Die Schweizerin hatte derweil Spaß. Und Pytlik fand es gar nicht schlecht, dass es so lief, wie es lief. Er hatte den Eindruck, dass sich gerade durch diese etwas unglücklichen Umstände und Ereignisse die Stimmung zwischen ihm und ihr schlagartig noch einmal gelockert hatte. Er wusste schon, wie er das gut nutzen würde, um den restlichen Abend und die folgende Nacht zu einem schönen persönlichen Erlebnis zu machen. Und als ob sich nicht ohnehin alles schon wie ein schlechter Witz dargestellt hatte, wurde dem Ganzen am Ende das Sahnehäubchen aufgesetzt.

      Als für die Akteure der nicht vorhandene Schlussvorhang fiel, ertönte fast sekundengenau und wie bereits eine Viertelstunde vorher der letzte Böllerschuss des Brillantfeuerwerks des Kronacher Freischießens. Beim nachfolgenden, lange anhaltenden und frenetischen Applaus wusste nun eigentlich niemand so recht, wem dieser galt. Erst, als sich nach und nach einige und dann immer mehr Zuschauer von ihren Sitzen erhoben und stehende Ovationen als Belohnung gaben, konnten die Akteure sicher sein, dass trotz allem ihr Spiel im Vordergrund gestanden und überzeugt hatte.

      ***

      Hauptkommissar Pytlik hatte Elisabeth, seine neue Bekanntschaft aus Zürich, sehr schnell davon überzeugt, dass es eine gute Idee wäre, diesen bisher so schönen, spannenden und abwechslungsreichen Abend mit einem gemeinsamen Besuch auf dem Kronacher Schützenfest zu beschließen. Ganz schwach waren noch die Reste der blauen Stunde am Himmel zu sehen, und da sie natürlich schick gekleidet war und trotz ihrer stattlichen Körpergröße auch noch Schuhe mit hohen Absätzen trug, hatte sich die Mittvierzigerin beim Hauptkommissar eingehakt und beide machten sich durch die Wolfsschlucht auf den Weg hinunter in die Schwedenstraße. Es war nun, als kannten sie sich schon ewig. Sie lachten viel und amüsierten sich – über das Erlebte, über belanglose Dinge und Anekdoten aus ihrer beider Leben. Pytlik erzählte vom Leiter der Schutzpolizei, seinem treuherzigen Kollegen Justus Büttner, der ihn oftmals mit seinem Dialekt an den Rand des Wahnsinns trieb und den er bis heute sehr schlecht verstand.

      »Also, ich kann dir sagen: Ich bin ja nun schon fast mein ganzes Leben hier in Kronach, aber wenn der Büttner loslegt… Gut, mittlerweile kann ich das Meiste schon erahnen. Aber trotzdem, den müsstest du mal hören! Und wenn der dann noch…«

      Pytlik haute sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel und lachte kindisch. Nach der Vorstellung hatten die beiden erst noch ein Gläschen Sekt getrunken und waren schon etwas angeheitert.

      »Also, wenn der dann noch bei meiner Sekretärin, der Gundi, im Büro sitzt, wenn beide gerade mal wieder ein bisschen Zeit haben und sie sich dann über Frauenthemen oder die neuesten Kochrezepte unterhalten, dann denke ich manchmal wirklich, ich wäre im Komödienstadl.«

      Elisabeth, die sich fest an Pytlik hinschmiegte, lachte herzhaft. Es war ehrlich und nicht aufgesetzt, das spürte auch Pytlik. Was der Kronacher Ermittler sonst noch spürte, war in regelmäßigen Abständen von fünf Minuten sein Handy, das er in der Hosentasche bei sich trug und das immer wieder vibrierte. Reflexartig zog er es immer wieder heraus, musste aber jedes Mal aufs Neue sehen, dass ein unbekannter Anrufer etwas von ihm wollte. Jetzt nicht, dachte der Hauptkommissar und drückte nun den kleinen Knopf oben am Gehäuse für einige Sekunden, um sein Telefon somit auszuschalten.

      »Heute bin ich nicht mehr im Dienst! Nervensägen können sich morgen wieder bei mir melden. Herzlichst, Ihr Hauptkommissar Franz Pytlik!«

      Elisabeth lachte, Pytlik lachte, und beide machten ein paar schnelle Schritte wie verliebte Teenager.

      ***

      Auf dem Kronacher Festplatz war die Hölle los. Nicht, dass es außergewöhnlich gewesen wäre, aber Pytlik fand es jedes Jahr ein großes Erlebnis zu sehen, wie dieses Spektakel, das als eines der größten Volksfeste in Oberfranken galt, den Menschen – egal aus welchem Teil des Landkreises sie kamen, egal was sie machten und hatten, egal wie ihr Leben nach diesen närrischen elf Tagen im August weitergehen würde – als eine Art Spielplatz der Glückseligkeit diente, wo man bei gutem Bier, herzhaften Köstlichkeiten und angepeitscht von Musik und dem immer währenden Glamour der Schaustellerattraktionen Sorgen und Ängste, Kummer und Krankheiten für fast zwei Wochen wegsperrte und einfach nur glücklich war. Selbst Elisabeth, eine – diesen Eindruck hatte Pytlik mittlerweile bekommen – weltgewandte, kluge und im Alltag wohl eher reservierte Frau, war spätestens nach dem Passieren des Haupteingangs am Schützenhaus von der Faszination elektrisiert worden. Es wurde laut und lauter, das Gespräch zwischen den beiden wurde immer anstrengender, Lippen und Ohren berührten sich immer häufiger. Pytlik sonnte sich im Glanz der neidischen Blicke, die ihm und seiner Begleitung zugeworfen wurden. Schließlich war der Hauptkommissar ja bekannt in Stadt und Landkreis Kronach. Wie viele Fälle habe ich eigentlich schon gelöst, fragte er sich selbst und erwischte sich dabei, gerade eine Selbstbeweihräucherung zu beginnen. Glücklicherweise traf ihn just in diesem Moment, als er sich mit Elisabeth auf dem Weg zum Bermudadreieck befand, ein heftiger Prankenhieb auf die Schulter.

      »Servus, Franz! Alder Schnitzgüger!«

      Der Mann, der im Gegenstrom an Pytlik langsam vorbeigeschoben wurde, machte den Eindruck, bereits deutlich alkoholisiert zu sein. Dennoch erkannte der Hauptkommissar in ihm den Schutzpolizisten Schneider. Der Kollege, der Pytlik bereits in dem einen oder anderen Fall gute Dienste geleistet hatte, hatte seinen Blick nun auch auf des Hauptkommissars Begleitung geworfen, schaffte es danach, die hinter ihm drängende Menge in ihrem Lauf abzubremsen und sich mit einer Maß Bier in der Hand an Pytlik festzuklammern.

      »Alder! Leck mich am Oarsch! Woss issn dess für a Bombe? Do gedd woss, odder?«

      Es war laut und stickig, von allen Seiten wurde gerufen und geschrien. Auch Pytlik galten viele Appelle. Elisabeth tat so, als würde sie sich neugierig umschauen und sich nicht dafür interessieren, was Pytlik mit seinem Bekannten besprach. Der Hauptkommissar wiederum war sich sicher, dass sie gehört hatte, was Schneider ihm ins Ohr gebrüllt hatte. Aber der Kronacher Ermittler blieb cool. Nach ein paar freundlichen Worten mit entsprechend viel Lachen im Gesicht hatte er es geschafft, Schneider wieder loszuwerden. Er fühlte sich gut, die Sache mit Elisabeth schien ein Selbstläufer zu werden und es ergab sich, dass sie vor einer der Bierhallen ein paar nette Leute trafen und Spaß hatten.

      Pytlik hatte sich für kleine Jungs verabschiedet. Es war etwa halb zwölf und er hatte sein Handy wieder angeschaltet, weil ihm eingefallen war, dass er sich mit einem alten Freund, den er lange schon nicht mehr gesehen hatte, eigentlich spontan verabreden wollte.

      Tatsächlich hatte Manfred, mit dem er vor langer Zeit die Polizeischule besucht hatte und der in gleicher Position wie Pytlik in Nürnberg bei der Polizei Dienst tat, eine kurze Nachricht hinterlassen

      Werden so gegen 23:30 aufs Schützenfest gehen. Du weißt, ich fange die Nacht immer später an. Hoffe, wir sehen uns. Melde dich mal wegen Treffpunkt. Gruß, Manne!

      Pytlik musste schmunzeln und freute sich. Stutzig machte ihn nur, dass er sehen konnte, dass mittlerweile zwölfmal von einem Unbekannten angerufen worden war. Auf dem Weg zurück zu Elisabeth nahm er sich noch eine Maß Festbier mit.

      Pytlik schlich sich leise von hinten an, Elisabeth hatte sich ein bisschen an die Seite gestellt und telefonierte. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und konnte ihn nicht sehen. Als er sich schon so weit genähert hatte, dass er bereits ihr Parfüm riechen konnte, hatte sie ihn immer noch nicht bemerkt. Pytlik wollte sich einen Spaß erlauben und stellte sich einfach hinter sie um zu lauschen. Schon nach kurzer Zeit mochte er seinen Ohren nicht mehr trauen.

      »Nein, Schatz! Es ist natürlich nicht so, wie du denkst. – Nein, mir fehlt nichts in unserer Beziehung. Ich habe nur gerade mal wieder Lust auf diese Erfahrung der anderen Art. – Doch, natürlich macht es mir im Bett mit dir am meisten Spaß. Aber irgendwie habe ich heute eben spontan Lust darauf bekommen, es wieder einmal mit einem Mann zu treiben.«

      Pytliks Begleitung, die weltgewandte, lebenslustige, intelligente Elisabeth aus der Schweiz hatte gerade – ohne, dass sie es bemerkte – Pytlik gegenüber ihre Tarnung auffliegen