Carlo Fehn

Der letzte Blick


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       Carlo Fehn

       Der letzte Blick

      

      Sein letzter Fall hat Hauptkommissar Pytlik schwer mitgenommen. Nach dem Angriff auf sein Leben ist er beruflich und privat aus dem Tritt gekommen und befindet sich geradewegs auf dem Weg ins Verderben. Eine neue Ermittlung scheint jedoch einen Wendepunkt darzustellen. Als eines Nachts der Kreuzberg in Kronach zur Bühne einer rituellen Hinrichtung wird, ist Pytliks Erfahrung gefragt. Zusammen mit seinem Assistenten, Cajo Hermann, erkennt Pytlik schnell, dass Emilie Kuhnert vielen Menschen einen Grund gegeben hatte, ihr nach dem Leben zu trachten.

      

      Der letzte Blick - Hauptkommissar Pytliks vierter Fall

      Carlo Fehn

      published by: epubli GmbH, Berlin

      www.epubli.de

      Copyright: © 2013 Verlag Carlo Fehn

      ISBN 978-3-8442-4664-3

      

       Montag, 24. Oktober 2005

      Als Pytlik an diesem Morgen die Augen aufschlug, fühlte er die gleiche Trostlosigkeit, die immer selbe Antriebslosigkeit und vor allem den täglichen Schmerz und die Müdigkeit, die ihn seit vielen Monaten begleiteten. Er wusste, dass er es sich nicht erlauben konnte, einfach liegen zu bleiben - es war ihm seit diesem schrecklichen Vorfall im Sommer des vergangenen Jahres und nach etlichen Reha-Maßnahmen schon oft genug passiert. Die Rücksichtnahme auf seine Person bröckelte bereits merklich, auch bei seinen engsten Arbeitskollegen und selbst in der Nachbarschaft. Zu deutlich hatte die Attacke der Praktikantin, die in ihm einen Falschen wiedererkannt und ihn mit zahlreichen Messerstichen fast getötet hätte, sein Leben beeinflusst. Alkohol und Nikotin bestimmten mehr denn je seinen Tagesablauf und füllten ein Leben, das trotz des beruflichen Stresses in geordneten Bahnen verlaufen war, mit einem wachsenden Verlust an Selbstachtung und Disziplin.

      Durch die kleinen Schlitze der Jalousie drang kaum Licht in das Schlafzimmer, in dem herumliegende Klamotten, dreckige Kleidung und leere Wodkaflaschen das Bild bestimmten. Der volle Aschenbecher stand bedrohlich nahe an der Kante des Nachttischschränkchens. Erst jetzt merkte der Hauptkommissar, dass bereits das Frühstücksfernsehen lief und er wieder einmal vergessen hatte abzuschalten.

      Das Flachbildgerät mit erstaunlicher Diagonale, das er bereits vor längerer Zeit vom Wohnzimmer hoch geholt hatte, war wohl der beste Beweis dafür, dass im Leben des Franz Pytlik die Ordnung verloren gegangen war. Jeden Tag aufs Neue versuchte er zu rekapitulieren, wann und weshalb er in diesen Strudel geraten war.

      Hatte die Attacke der Vanessa Zenk womöglich nur alle Baustellen in seinem Leben ans Tageslicht befördert, weil er sich plötzlich intensiver mit sich und seiner Umwelt beschäftigte? War die Nahtoderfahrung vielleicht ein willkommenes Alibi, endlich aus seinem bisherigen Leben auszubrechen? Tag für Tag stellte er sich die gleichen Fragen, wenn er vor dem Spiegel in seinem Badezimmer stand und die Narben an seinem Körper betrachtete, die von der scharfen Klinge des Messers herrührten. Die seiner Meinung nach oft übertrieben dargestellten Romanfiguren - plötzlich erahnte er, dass sie doch aus dem realen Leben gegriffen sein könnten.

      Wenn er sich selbst ins Gesicht blickte, wusste er nicht, wem er am meisten ähnelte. War er eher der Columbo oder doch mehr der Schimanski? Vielleicht ein Beinahe-Wallander? Als er sich die elektrische Zahnbürste in den Mund gesteckt hatte, sah er wehmütig hinüber zur Glaskabine. Es war in seiner Erinnerung einer der letzten schönen Momente seit diesem Tag im Jahrhundertsommer 2003. Als er draußen im Vorbeigehen den Duft ihres Duschgels eingeatmet und sich an die schönen Augenblicke mit der Staatsanwältin erinnert hatte, hatte sich Pytlik glücklich wie nie zuvor in seinem Leben gefühlt. Allerdings waren die Tatsache, dass sie mit einer beherzten Aktion sein Leben rettete und dadurch die Öffentlichkeit und die Kollegen von ihrem Techtelmechtel erfahren hatten, Grund genug für die attraktive Blonde, die Beziehung zu Pytlik sofort wieder auf das Berufliche zu beschränken. Ob es ein Wink des Schicksals war, dass der Kronacher Hauptkommissar seitdem kaum mit ihr zu tun hatte, wollte Pytlik dahingestellt sein lassen.

      Er ging zurück ins Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Er suchte vergeblich nach einem weißen T-Shirt, das er unter das karierte Hemd anziehen konnte, das bereits seit Tagen über dem Butler hing und das er irgendwann letzte Woche getragen hatte. Kurzerhand bückte er sich und schnappte sich das T-Shirt des Vortages, roch kurz an den kritischen Stellen und beschloss, dass er damit zu keiner Geruchsbelästigung im Büro werden sollte.

      Die Unordnung in seiner Küche fiel ihm bereits nicht mehr als unangenehm auf. Die Arbeitsplatte zeigte deutliche Spuren eines ungesunden und planlosen Essverhaltens, das Ceranfeld machte eher den Eindruck einer Werkstatt für Kochtöpfe und Pfannen - nur dass anscheinend niemand in der Werkstatt arbeitete und die von übergekochtem Wasser und Essensresten verkrusteten Stellen das Bild bestimmten. Pytlik schaute zur Uhr. Er lag gut in der Zeit, begann Kaffee zu kochen und griff nach der Zigarettenpackung, die im Esszimmer auf dem Tisch lag. Dann marschierte er geradewegs zur Terrassentür, um sich draußen den ersten Zug des Tages zu genehmigen. Es war still. Dichter Nebel hatte den Garten eingehüllt und die Luft war klamm. Pytlik hatte die linke Hand in der Hosentasche vergraben und blies den Rauch der Kippe nachdenklich in den Morgenhimmel. Nebenan hörte er das Öffnen eines Fensters. Lehmann, sein Nachbar, dachte er. Das Verhältnis war erkaltet. Seine dauernden Eskapaden, begleitet von Lärm und Wutausbrüchen, waren auch den Nachbarn in der anderen Doppelhaushälfte nicht verborgen geblieben. Die Beziehung war noch nie besonders gut gewesen, aber dass man nun an einem Punkt von Null-Kommunikation angekommen war, beschäftigte den Hauptkommissar wenig.

      Er hörte plötzlich ein Rascheln und schmunzelte zugleich mit einem leichten Ton von Verzweiflung. Während drinnen die Kaffeemaschine mit röchelnden Geräuschen um eine notwendige Entkalkung bat, merkte man dem Igel an, dass er sein Winterquartier in einem grob zusammengerechten Haufen Laub nun endlich fertig machen wollte. Pytlik hätte gerne mit ihm getauscht: einfach mal ein halbes Jahr abschalten. Der Kronacher Hauptkommissar hatte sich seit der Entlassung aus dem Krankenhaus zum starken Raucher entwickelt. Früher gönnte er sich hin und wieder mal eine, meist dann, wenn es in der Ermittlung eines Falles hektisch wurde. Jetzt konnte er über den Tag verteilt fast die Uhr danach stellen, wann er wieder zum Glimmstängel greifen würde. Nach wenigen Minuten flog die Kippe - fast bis zum Filter geraucht - in den kleinen gelben Eimer, der als Aschenbecher diente und neben Terrakotta-Töpfen, deren Bepflanzungen schon längst hinüber waren, zumindest ein Farbtupfen in einem trostlos wirkenden Ambiente war. Pytlik schloss die Terrassentür, ging in die Küche und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Mit dem Rücken zum Fenster an die Spülmaschine gelehnt, schaute er in den Raum. Den großen weißen Teppich mit der Blutlache hatte er in den Müll gebracht. Sein Blick war starr. Jeden Morgen verlor er sich für einige Sekunden in der Erinnerung an die schrecklichsten Momente seines Lebens. Die junge Frau, die ihm das angetan hatte, hatte sich bei ihm mit einem Brief aus dem Gefängnis gemeldet. Pytlik hatte nicht lange gebraucht, um ihr Gesuch nach Vergebung zu akzeptieren. Dass sie ihn aufgrund einer schlampigen Verknüpfung von Informationen und Annahmen für ihren Vater gehalten hatte, der ihre Mutter und sie im Stich gelassen hatte, war in der Konsequenz zwar ihre Schuld, jedoch machte es ihr Handeln irgendwo nachvollziehbar.

      Dass ihn ihre Attacke allerdings aus der Bahn geworfen hatte, damit musste er alleine zurechtkommen. Viertel vor acht. Pytlik ging in den Flur, nahm seine Jacke vom Haken, seine Waffe aus der Schublade und verließ das Haus in der Rhodter Straße, um sich auf den Weg zu machen. Als er die wenigen Stufen hinabgegangen war, zündete er sich für den Fußmarsch die nächste Kippe an. Vor ihm lagen 20 Minuten Weg bis zur Dienststelle am Kaulanger. Mittlerweile verzichtete er auf sein Fahrrad. Er war der Meinung, das Laufen täte ihm noch besser und außerdem könne man dabei noch viel mehr nachdenken.

      ***

      Als er das Gelände der Landesgartenschau verlassen hatte und auf die Europabrücke zusteuerte, überlegte er kurz. Er ließ es dann aber doch bleiben, im Backhaus vorbeizuschauen, um sich eine Puddingbrezel