Carlo Fehn

Der letzte Blick


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hatte ihren Chef auch immer wegen seiner ganz besonderen Art geschätzt. Als sie vor ihrem letzten Satz die beiden Fäuste auf den vor ihr befindlichen Schreibtisch stützte, machte sie eine Pause, um damit dem Hauptkommissar zu signalisieren, dass er sich ihre nun folgenden Worte gut einprägen sollte.

      »Franz, bitte, schau dich doch mal an! Hör auf damit!«

      Pytlik blickte in diesem Moment wieder zu Adelgunde Reif. Als er sah, dass ihr Tränen über die Wangen liefen und ihre Mundwinkel zitterten, war er im Begriff, aufzustehen und sie in den Arm zu nehmen. Aber irgendwas hinderte ihn daran. Außerdem hatte seine Sekretärin im gleichen Augenblick kehrtgemacht, langsam das Büro verlassen und die Tür mit einem lauten Knall hinter sich geschlossen.

      Die Kaffeemaschine saugte mühsam das Wasser nach oben. Der Duft des Pulvers war für die beiden Kronacher Ermittler gerade immer zu Dienstbeginn ein Motivationsschub für den Tag gewesen. Als Gundi Reif den Raum verlassen hatte, fand Hermann spontan, dass er die Kaffeemaschine lieber nicht angemacht hätte. Er setzte sich langsam auf seinen Stuhl.

      Ruhe.

      Es wurde unendlich ruhig im Büro. Wenn da nur nicht diese Kaffeemaschine gewesen wäre. Hermann wusste, dass Adelgunde Reifs Mahnung bei seinem Chef gewirkt hatte. Äußerlich hatte sich an Pytliks Körpersprache zwar nichts geändert, allerdings kannte der Assistent seinen Chef mittlerweile so gut, dass er sich sicher war, dass die deutliche Ansprache der Sekretärin nicht spurlos vorübergehen würde. Hermann durchbrach die Stille.

      »Sag mal, was war denn…«

      Kaum dass er begonnen hatte, hob Pytlik eine Hand und verzog sein Gesicht in angewiderter Art und Weise so, als wolle er seinem Gegenüber damit signalisieren, ihn jetzt nicht auch noch volltexten zu müssen. Nach dem Motto: Was willst du denn jetzt noch?

      »Cajo, bitte!«

      »Bitte was? Bitte, reg mich nicht auf? Bitte, verpiss dich? Bitte, halt du mir nicht auch noch eine Moralpredigt, wie das Gundi schon getan hat? Weißt du was?«

      Ohne, dass Hermann dies in dieser Situation so gewollt hatte, war er nun plötzlich auch in Rage geraten. Allerdings machte er es kurz.

      »Gundi hat vollkommen Recht!«

      Dann stand er auf, nahm seine Tasse, schenkte sich einen Kaffee ein und verließ, ohne Pytlik eines Blickes zu würdigen, das Büro.

      ***

      Pytlik checkte kurz seine E-Mails und durchforstete alle auf seinem Schreibtisch liegenden Zettel und Akten. Es war momentan sehr ruhig, was Ermittlungen und sonstige Arbeit anging. Er nahm sich ein DIN-A4-Blatt, schrieb in großen Lettern eine Nachricht für seinen Assistenten darauf, legte ihm das Schreiben vor seinen PC, schlüpfte in die Jacke und machte sich auf den Weg. Tatsächlich waren Gundi Reifs Worte bei ihm nicht nur angekommen, sondern hatten ihn auch auf ungewöhnliche Weise berührt.

      Der Hauptkommissar hatte sich noch ein paar Kuverts unter den Arm geklemmt und verließ die Dienststelle. Er musste sich eingestehen, dass es eine Art Flucht war. Normalerweise hätte er die Angelegenheit jetzt sofort aus der Welt geschafft. Das Problem war nur, dass das nicht so einfach ging. Wäre es so gewesen, dass er Gundi gegenüber einen Fehler gemacht hätte und es damit getan gewesen wäre, sich bei ihr zu entschuldigen, dann wäre die Sache einfach gewesen. Das hier war aber viel gravierender. Er konnte sie verstehen, er konnte auch Hermann und all die Anderen verstehen. Dass sie ihn verstehen sollten - er wusste nicht einmal, ob das sein Wunsch war. Er mochte jetzt auch nicht mehr darüber nachdenken. Er war beleidigt, Arbeit gab es momentan nicht im Überfluss und der Chef war nicht im Haus. Wer wollte ihm eigentlich etwas? Plötzlich fühlte er trotz des englischen Wetters eine gewisse Behaglichkeit, ein Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit beschlich ihn. Emilie Kuhnert - dumme Gans, dachte Pytlik - war wohl nur ein Platzhalter für irgendjemanden oder irgendetwas gewesen.

      Er lief an der Kronach entlang in Richtung Spitalbrücke. Als er den Herrenmühlsteg passierte, ließ ihn eine vertraute Stimme in Verbindung mit auf dem Holzboden wie Donnerhall klingendem Grollen abrupt innehalten.

      »Hey, Franz, wadd moll!«

      Justus Büttner, Leiter der Schutzpolizei und ebenso ein enger und langjähriger Kollege Pytliks, kam über die schmale Brücke gestiefelt.

      »Wu gestn hie?«, wollte Büttner in seinem typischen Dialekt wissen.

      Pytlik riss sich am Riemen. Nein, nicht auch noch mit Büttner Stress an diesem Morgen.

      »Zur Post. Wieso?«

      »Aha!«

      »Was heißt denn da ›Aha‹?«

      »Verfolgst wuhl die alld Kuhnert, hm?«

      Oh nein, dachte Pytlik, die ganze Stadt wusste wohl schon wieder davon.

      »Nein, ganz bestimmt nicht. Die Furie kann mir gestohlen bleiben.«

      »Woss woddn?«

      Büttner stand nun beim Hauptkommissar und fragte nach. Der hatte aber keine Lust, die Geschichte noch mal zu erzählen.

      »Nichts, Justus! Du kennst sie doch.«

      Büttner schaute Pytlik von der Seite mit einer Mischung aus Zweifel und Sorge an.

      »Sie hodd beim Bägger erzählt, dass du gsochd häddst, sie könnt dich omm Oarsch leggn. Stimmt dess?«

      Pytlik schnaufte einmal tief durch. Der Anflug von guter Laune wenige Augenblicke zuvor war wie weggeblasen.

      »Bist du jetzt ihr Anwalt oder was? Ja, verdammt, das habe ich gesagt. Und ich habe ihr noch viel mehr gesagt, wenn du es wissen willst.«

      »Ich wass scho. Dess middm Benediggd. Wos konndn der dafür? Nuch ka halbs Joahr im Amt...«

      »Ist gut, Justus, ist gut!«

      Das hatte Pytlik gerade noch gefehlt. Jetzt schien sich auch noch Büttner - von Pytliks nahezu blasphemischer Äußerung gegenüber Emilie Kuhnert in seinem tiefen Glauben anscheinend angegriffen - von ihm abzuwenden. Es war ihm zuviel.

      »Ich mahn ja nur, jetzt sei hald nedd gleich wieder auf hunnerdochtzich!«

      Das war der Unterschied, dachte sich Pytlik: Büttner wusste, wo er hingehörte. Er beschwichtigte den bärig wirkenden Steinbacher.

      »Ist schon in Ordnung.«

      »Ich wass ja, dass dess alles nedd so einfoch für dich is, obber du mussd moll widder zu dir finna, Mensch! Dess konn doch nedd so weidergenn! Du bist fei wer, obber bass bluhs auf, dass du nedd ganz schnell wer gewesen bist!«

      ***

      Nachdem Pytlik die Post weggebracht hatte und am Bahnhofsplatz überlegte, wo er nun wohl am besten ein Frühstück machen könnte, musste er noch einmal an den letzten Satz Büttners denken.

      Vielleicht hatte sein alter Freund wirklich Recht. Den mühsamen Weg nach oben, sowohl was den beruflichen Erfolg, aber auch die Anerkennung in der breiten Bevölkerung anging, hatte er in den letzten Jahrzehnten mit Bravour bewältigt. Im Moment sah es so aus, dass der Weg nach unten deutlich Geschwindigkeit aufnahm und auch mehr und mehr schmerzte.

      Er entschied sich, in die obere Stadt zu gehen. Als er am Hasslachufer entlang lief und dann hinüber in die Rosenau ging, musste er plötzlich an Alfons Geuther denken. Er war wohl das beste Beispiel dafür, wie schnell es gehen konnte, dass man plötzlich von der Bildfläche verschwunden war. Sein alter Chef. Von Pytlik als inkompetent, altmodisch und in seiner Position als Leiter der Dienststelle in Kronach völlig deplatziert angesehen, war der schwergewichtige Mann durch den besagten Fall im Sommer 2003 auf dramatische Weise von seiner Vergangenheit eingeholt worden und im Anschluss daran zerbrochen. Noch bevor Pytlik selbst von seinen Verletzungen vollständig genesen war, hatte man dem Antrag auf Frühpensionierung Geuthers bereits stattgegeben. Schneller als ihm das lieb gewesen wäre, hatten die Ereignisse aber auch seine Gesundheit massiv angegriffen und dafür gesorgt, dass der unbeliebte oberste Vorgesetzte in ein Pflegeheim eingeliefert werden musste.

      Pytlik