in manch verzwickter Situation war, hatte der Hauptkommissar nur wenige Male den Weg dorthin gefunden. Er stand an der Spitalbrücke, schaute auf das rote Ampelmännchen und versuchte vergeblich, den Herrenmühlsteg im dichten Nebel zu erkennen, als er plötzlich hinter sich eine vertraute Stimme hörte.
»Morgen, Franz!«
Pytlik drehte sich, leicht erschrocken ob der unerwarteten Ansprache, um und blickte in die Augen seines Assistenten, Cajo Hermann.
»Cajo? Was machst du denn hier?«, zeigte sich Pytlik sichtlich überrascht, da Hermann am Kreuzberg wohnte und dies für gewöhnlich nicht sein Weg zum Büro war.
»Keine Angst«, erwiderte der Polizeikommissar. »Die Stadt ist groß genug für uns beide.«
Pytlik empfand den Kommentar seines Kollegen als unangebracht, allerdings spiegelte er das momentane Verhältnis zum jüngeren Hermann wider. Er wartete, bis beide die Straße überquert hatten und sagte nach kurzer Zeit und ohne dass Hermann etwas hinzugefügt hatte:
»Kenne ich sie?«
Pytlik lief einfach weiter. Er spürte, dass Hermann - zwei Schritte hinter ihm - es nicht passte, dass er ihm über den Weg gelaufen war und ahnte, dass sein Assistent wohl nicht zuhause übernachtet hatte.
»Nein!«, hielt Hermann sich kurz. Er war immer noch sauer auf Pytlik, da dieser vor einiger Zeit bei einem Einsatz mit dem Dienstwagen ein anderes Fahrzeug erheblich beschädigt hatte. Da er nicht nüchtern gewesen war, hatte er Hermann gebeten, den Unfall auf seine Kappe zu nehmen. Hermann hatte sich daraufhin vor dem neuen Leiter der Kronacher Polizeiinspektion verantworten müssen. Bis kurz vor dem Polizeipräsidium wechselten sie kein Wort mehr.
»Ach, du Scheiße! Siehst du, was ich sehe?«, entfuhr es Pytlik plötzlich.
Hermanns Neugierde war geweckt, die Spannungen zwischen ihm und seinem Chef für den Moment vergessen.
»Was?«, erwiderte er und machte einen schnellen Schritt nach vorne.
»Na da! Siehst du nicht dieses leuchtend rote Haar und den hastigen Schritt direkt auf die Eingangstür zu? Das hat mir am Montagmorgen gerade noch gefehlt.«
Hermanns Begeisterung war ähnlich der seines Chefs.
»Ach, nee! Die Kuhnert! Was will die denn schon wieder? Und heute auch noch höchstpersönlich. Mist!«
Hermanns Handy klingelte. Ungestüm und etwas verlegen kramte er sein Mobiltelefon aus der Jackentasche hervor und ließ sich etwas hinter Pytlik zurückfallen. Der wiederum schmunzelte nur und flüsterte ein bedauerndes »Viel Spaß, Cajo« in sich hinein. Zwei Minuten später betrat er die Dienststelle.
Nachdem er die Treppen hinauf genommen hatte und den Flur entlang Richtung seines Büros lief, stürzte ihm bereits die aufgebrachte Frau entgegen.
»Herr Kommissar, Herr Kommissar, ich muss unbedingt ganz dringend was melden. Sie müssen mir zuhören!«
Pytlik würde sich hinterher fragen, wie alles seinen Lauf genommen hätte, wenn die verwirrt und panisch wirkende Frau ihn nicht grob am Arm gepackt hätte, um ihn in sein Büro zu ziehen und dabei der Kaffee auf seine Hand schwappte, den er sich einige Augenblicke vorher am Automaten neben dem Empfang gezogen hatte. Vor Schreck über den heißen Schmerz auf seinem Handrücken hatte er den Plastikbecher fallen lassen. Nach dem dumpfen Aufprall lief sofort eine braune Brühe etwa 15 Zentimeter oberhalb des Bodens langsam die zuvor weiße Wand hinab. In der Zwischenzeit war auch Adelgunde Reif - Pytliks Sekretärin - aus ihrem Büro gestürmt, da sie vermutet hatte, dass das Aufeinandertreffen der stadt-, aber vor allem polizeibekannten Denunziantin zu keinem guten Ende führen würde.
Pytlik hatte sich einen Schrei wegen des Schmerzes verkniffen, Emilie Kuhnert hatte ihre Hand noch nicht von seinem Unterarm gelassen und blickte ungläubig zu Boden, bevor sie langsam ihren Kopf hob.
»Sie riechen ja nach Alkohol«, giftete sie wie eine Natter und wirkte wie die Hexe aus Hänsel und Gretel. »Dann stimmt es also, was man über Sie erzählt!«
Pytlik war die Zornesröte deutlich ins Gesicht gestiegen. Auch er wandte seinen Blick nun vom Boden ab und starrte der Alten böse ins Gesicht. Dann kam er ihr ganz nahe, packte ihre Hand auf seinem Arm, drückte sie so fest er nur konnte und zischte von Angesicht zu Angesicht.
»Hören Sie mir gut zu, Frau Kuhnert! Sie sind neben den Verbrechern in dieser Stadt das wohl größte Übel. Die Anzahl Ihrer Anzeigen wegen irgendeinem Scheißdreck ist fast so hoch wie die Anzahl der gesamten Anzeigen, die wir in einem Jahr bekommen. Es interessiert mich nicht, was Sie mir melden wollen und ich muss und ich werde Ihnen ganz bestimmt nicht zuhören - nicht jetzt und auch in Zukunft nicht mehr. Und jetzt...«
Pytlik brüllte aus Leibeskräften.
»...verschwinden Sie! Machen Sie, dass Sie abhauen!«
Emilie Kuhnert war kreidebleich, hängte sich ihre Handtasche an den Arm und lief schnell die Treppen hinunter. In scheinbar sicherer Entfernung zu Pytlik schrie sie mit weinerlicher Stimme.
»Das wird ein Nachspiel für Sie haben, Herr Pytlik! Das ist ja eine Frechheit! Ich werde mich bei den höchsten Stellen über Sie beschweren!«
Noch bevor Pytlik seine Bürotür zuknallte, wollte er es sich nicht nehmen lassen, das letzte Wort zu haben.
»Sie können mich mal gerne haben und sagen Sie dem Papst einen schönen Gruß, wenn Sie sich beschweren!« Rumms!
Als Hermann einige Minuten später ins gemeinsame Büro kam, fand er sich inmitten einer heftigen Diskussion zwischen Gundi Reif und seinem Chef wieder.
»Nein, jetzt hörst du mir mal zu, Franz! Ich halte das langsam nicht mehr aus. Was ist nur aus dir geworden?«
Hermann war wie auf leisen Sohlen zu seinem Schreibtisch gelaufen und legte Jacke und Aktentasche ab. Nachdem ihm die aufgebrachte Emilie Kuhnert am Eingang entgegengekommen war, konnte er nur vermuten, dass Pytlik und sie aneinandergeraten waren. Gundi Reif und Pytlik schienen ihn irgendwie gar nicht wahrgenommen zu haben. Er wollte sich zunächst auch nicht einmischen, denn zu emotional schien ihm gerade die alteingesessene Sekretärin. Hermann machte derweil einen Kaffee und hielt sich aus der Diskussion heraus.
»Du machst dir noch die ganze Welt zum Feind! Meinst du denn, andere Menschen haben keine Probleme? Du, du, immer nur du! Ich habe es langsam satt, jeden Tag aufs Neue hier so ein Häufchen Elend zu sehen. Mit roten Augen, runtergekommen und alles andere als der Franz Pytlik, den ich kannte.«
Pytlik hatte seine Sekretärin bis hierher gewähren lassen. Er hatte mit langsamen Bewegungen zunächst seinen PC gestartet, um dann sein Gesicht in seine Hände zu vergraben. Ab und zu wischte er sich mit den Handflächen über seinen kahlen Kopf, so als wolle er sich waschen oder die Schuld von sich abstreifen. Adelgunde Reif schien nun langsam auf den Höhepunkt ihrer Schimpftirade zu kommen, als Pytlik zu ihr schaute und ansetzen wollte, sie zu unterbrechen.
»Nein, jetzt rede ich. Du hörst mir immer noch zu!«
Gundi Reif ließ Pytlik nicht zu Wort kommen. Hermann, der gerade das Kaffeepulver in den Filter einschüttete, war irgendwie erleichtert darüber, dass jemand anderes seinem Chef auch einmal ganz deutlich die Meinung sagte. Nicht, dass er das nicht schon oft getan hatte, aber vielleicht zeigte dies endlich einmal Wirkung bei ihm.
»Was glaubst du eigentlich, erzählen sich die Kollegen hier, wenn sie hinter vorgehaltener Hand über dich reden? Was glaubst du eigentlich, erzählen sich Passanten, die dir in der Stadt oder sonst irgendwo begegnen, die du nicht mehr grüßt, wie früher und die du anschaust, als hättest du sie noch nie vorher gesehen? Und was denkst du eigentlich über unseren neuen Chef? Du scheinst der Meinung zu sein, dass Herr Behrschmidt eine grenzenlose Geduld hat. Täusche dich nicht! Auch wenn ich nur eine kleine Sekretärin bin, das eine oder andere bekomme ich schon mit. Und ich kann dir nur sagen, für dich ist es mittlerweile fünf vor zwölf, Franz Pytlik!«
Adelgunde Reif war von ihrer Statur her nicht gerade die typische Respektsperson oder jemand, der mit seiner bloßen Erscheinung Autorität und Kompetenz verkörperte.