unterzeichnet. So wie er geschätzt hatte, traf er nach gut sechs Stunden Fahrt in München ein. Er hatte alle Brötchen verzehrt, die Thermoskanne Kaffee geleert. Da er frühmorgens aufgebrochen war, war es jetzt kurz nach 13 Uhr, als die Autobahn in den Mittleren Ring überging. Das Navi dirigierte ihn durch den Englischen Garten. Zu seinem Erstaunen war München eine grüne Stadt: Es blühte überall, Vöglein zwitscherten, als er in die Pienzenauer Straße einbog, die ganz nahe an der Isar entlang führte. Der Erbenermittler residierte nobel. Er überreichte ihm weitere Fotos der alten Jugendstilvilla. Teilweise umrankt von Efeu sah sie renovierungsbedürftig aus. „Wie gesagt, das Haus müssten sie abreißen, aber das große Grundstück in Zentrumslage der Kleinstadt Grafing – S-Bahn Anbindung - also das ist was wert!“ meinte Herr Allmann über seine Kaffeetasse hinweg. Hans sah sich den Packen Fotografien genauer an: Ein schönes Haus, fand er. Es gab unter dem roten Dach auf der Giebelwand einen Hausspruch:
Die Welt mit ihrem Gram und Glücke
Will ich, ein Pilger, frohbereit
Betreten nur wie eine Brücke
Zu dir, Herr, übern Strom der Zeit.
Der Garten sah verwildert aus. Efeu hatte sich um Bäume gewunden, diese fast verschlungen, schwankende, meterhohe Inseln von Grashalmen im Vorgarten. Es gab einen Pavillon im hinteren Grundstücksteil, man sah ihn hinter den Birken, und noch weiter hinten stand ein kleines, braunes Gebäude – vielleicht ein Stall? Das Haus war ehemals in einem warmen Gelb gestrichen worden, nun verwittert zu einem ockerfarbenen Ton. Es hatte Sprossenfenster in grün, einen Erker, darüber ein braunrotes Dach. Es strahlte friedliche Gelassenheit aus. Ein Zaun aus Holzlatten, das Weiß der Farbe war in langen Streifen abgeblättert, darunter lugte das verwitterte Grau des Holzes hervor. Jede Latte schloss oben mit einem kleinen Element in Blattform ab. Hans musste überlegen, es erinnerte ihn an etwas … Spielkarten! So sah Pik aus. Ein ehemals schöner Garten mit hohen Birken und einer riesigen Rotbuche. Hans gefiel das Haus, er steckte die Bilder in den Umschlag zurück, bedankte sich beim Erbenermittler und verließ das Büro. Zuvor musste er noch eine Erklärung unterzeichnen, dass er die Schlüssel erhalten habe. Er stieg ins Auto, gab die Adresse ins Navi ein. Von München fuhr er fast ein Stunde durch unzählige Vororte nach Grafing voll Vorfreude gespannt auf das Haus.Grafing war eine nette kleine Stadt mit einem von alten Häusern gesäumten Marktplatz. Es gab einen Wildbräu und ein Gasthaus namens Grandauer, so wie man sich Bayern eben vorstellt. Zwiebelturm und Blumenkästen mit üppig gedeihenden roten Geranien, eine Pracht. Er war durch die hügelige Voralpenlandschaft gefahren, die aber schon sehr zersiedelt war. Die Sogwirkung der Großstadt hatte einen ähnlichen Städtebrei wie in Nordrhein-Westfalen entstehen lassen. Aber eben im bayerischen Landhausstil.Am Marktplatz bog er zweimal ab, und sogleich ertönte die weiche aber distanzierte Frauenstimme seines Navis: „Sie haben ihr Ziel erreicht!“. Er stand vor der Villa. Die Schlüssel vom Erbenermittler in der Tasche. Morgen musste er zuerst zum Nachlassgericht, dort konnte er den Erbschein abholen. Es war Frühling, in den Bäumen zwitscherten die Vögel. Die Villa sah ihm gelassen entgegen. Er schloss auf, und die Pforte sprang mit dem typischen Quietschen lange nicht mehr geölter Türscharniere auf. Er betrat den Garten. Ein kleiner Sandweg mit Inseln von Moos führte zum Haus und gab Zeugnis davon, dass der alte Herr die letzten Jahre wohl nicht mehr in der Lage gewesen war, dem Garten viel Pflege zukommen zu lassen.Er stieg drei flache Stufen hoch, stand auf einer Art Vorplatz vor der Eingangstür, die eine ovale Öffnung hatte, gefüllt von einem kleinen Gitter in der Mitte, dahinter Glas und dahinter ehemals weiße Spitze. Hier schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Auch hier das leise Quietschen ungeölter Türangeln, als er den Schlüssel im Schloss gedreht hatte und die Klinke niederdrückte. Die Luft wirkte abgestanden, das Haus war lange nicht gelüftet worden. Es roch nicht unangenehm, aber das Haus hatte einen Geruch. Vorsichtig trat er über die Schwelle. Jacken und Mäntel und ein abgeschabter Hut hingen an der Garderobe, ein Stock lehnte im Schirmständer, es wirkte alles so, als ob der Eigentümer jederzeit wiederkäme vom Einkaufen oder vom Arzt. Amadeus Glück hätte jederzeit durch die Türe treten können, stattdessen lag er nun kalt und steif auf dem Grafinger Friedhof. Hans spürte ein unbestimmtes Bedauern, nie hatte er Amadeus kennengelernt, und nun war es zu spät dafür. Neugierig wie ein Kind auf Entdeckungsreise sah er, noch unschlüssig im Flur stehend, in eine Küche der fünfziger Jahre, wenn nicht noch älter. Er ging durch den Flur ins Wohnzimmer. Die Versatzstücke der Vergangenheit reihten sich. Manifestierte Erinnerungen in Geschirr, Deckchen, Polstermöbel, eine monströse Schrankwand der siebziger Jahre. Dazwischen eine technologische Neuerung, ein riesiger Flachbildschirm, verbunden mit Kopfhörern, die an einer langen Verkabelung zum ebenso riesigen, britischen Ledersessel quasi den Weg wiesen. Eine altmodische Brille lag auf dem Tisch. Im Aschenbecher ruhte eine halbgerauchte Zigarre. Amadeus Glück schwebte noch in diesem Zimmer, obwohl er schon solange tot war. Es gab mehrere Zimmer im Untergeschoss. Als nächstes betrat er eine Art Gästezimmer, daneben ein winziges Bad, gefliest im moosgrün der sechziger oder siebziger Jahre und einem senfgelben Waschbecken, darüber ein kreisrunder Spiegel flankiert von zwei kleinen Kugellampen mit mattiertem Schirm, ein senfgelbes WC – ein Schick, der lange schon der Vergangenheit angehörte. Er öffnete die nächste Tür, ein achteckiges Holzschild kennzeichnete es als ‚Büro‘. Er blieb verdutzt stehen: Der ganze Raum bestand quasi aus riesigen, umlaufenden Regalen, unterbrochen von einem Sprossenfenster und einem seitlichen Durchgang, der den Blick auf weitere Regale in einem angrenzenden Raum freigab. In den Regalen standen feinsäuberlich aufgereiht Ordner. Alle beschriftet mit einer steilen, akkuraten Handschrift. Im Nebenraum standen ebenfalls Regale entlang der Wand, und einige Regale standen frei im Raum, es erinnerte ihn an eine Bibliothek. Er betrat den Raum. Es begann tatsächlich mit 1942! Pro Jahr standen Ordner, Mal mehr Mal weniger. Die Beschriftung lauteten Einnahmen, Ausgaben, Bankbelege, Steuer und Sonstiges, darunter immer die Jahreszahlen. Die Ordner gingen tatsächlich bis 2015, der alte Mann hatte bis zum Schluss akribisch seine Buchhaltung - oder was immer das war - geführt. Dreiundsiebzig Jahre feinsäuberlich dokumentiert.Hans überschlug für sich, dass in diesen beiden Räumen hunderte Ordner standen - er wusste sofort, was immer er je suchen würde: Hier würde er es finden! Im ersten Zimmer, stand vor den Regalen ein gewaltiger Schreibtisch der dreißiger Jahre, Eiche dunkel gebeizt, mit Löwenfüßen. Auf dem Schreibtisch eine alte Rechenmaschine mit Papierstreifen, daneben eine kleine Schreibtischlampe mit gläsernem Schirm in grün, dahinter ein alter Stuhl mit einem Sitzkeil als Polster. Der Schreibtisch stand vor einem großen Sprossenfenster, und er, der in der Türe stand, blickte in den Garten, in dem die Zweige einer großen Trauerweide leise im Wind schwankten. Quasi ein Stillleben gerahmt von Ordnern. Schreibtisch und Stuhl ließen aber denjenigen, der dort arbeitete, nur zur Tür oder auf die gefüllten Regale blicken. Der Schreibtisch war penibel aufgeräumt. Ein Schreiblock, auf dem ein billiger Kugelschreiber lag, sonst nichts. Daneben eine Ablageschale mit Büroklammern, ein Locher, ein Hefter und die Rechenmaschine. Hans ließ den Blick schweifen über den Kanon der Ordner. Es gab Jahre, da waren die Ordnerrücken blau, rot oder gelb, die meisten jedoch grau. Hans schüttelte den Kopf und schloss die Tür ganz leise, so als ob er niemanden stören wollte. Hans wunderte sich: War Amadeus ein Beamter gewesen? Ein kleinkarierter Erbsenzähler? Aber dazu passte die vorgefundene normale Unordnung im übrigen Hause nicht. Er stieg mit diesen Gedanken die abgetretene, breite Holztreppe hinauf, setzte seine Entdeckungsreise im Haus fort. Das Geländer, geziert von zwei Säulen, die ein stilisierter Löwenkopf am jeweiligen Ende unten und oben schmückte. Die Stufen knarzten. Im Obergeschoß gab es neben der Treppe eine Tür. Das Schlafzimmer mit einem Bett, einem großen Kleiderschrank mit Spiegeleinsatz, einem Stuhl. Auf dem Nachttisch der fünfziger Jahre wartete ein bäuchlings liegendes, aufgeschlagenes Buch auf seinen betagten Leser. Die kleine Leselampe, geziert von einem mattierten Glasschirm in Form einer Glockenblume, stand pflichtbewusst daneben, davor ein Glas mit einem dünnen Staubfilm. Hans öffnete die Tür zu einem kleinen Raum mit einer Balkontür, die den Blick in den schönen, weitläufigen Garten freigab. In diesem Zimmer standen unzählige Gegenstände, gesammelt, aufbewahrt oder abgestellt. Krempel. Altersschwache Gartenstühle. Kartons mit Büchern. Ein zusammenklappbares Bett mit Matratze. Mehrere altersschwache Reisekoffer. Eine Gießkanne. Hans wandte sich um, ließ seinen Blick über das Sammelsurium schweifen: Der völlige Gegensatz zum akkuraten Büro! Sedimentschichten eines Lebens: Die ältesten Sachen standen ganz hinten an der Wand, Reihe um Reihe, Jahr für Jahr stapelten sich die Dinge die Amadeus nie mehr in die Hand genommen hatte, aber zu schade fand,