du doch. Aber wenn wir einen Dollar an der Miete sparen, so ist das nicht wenig, und dazu haben wir hier mehr Platz. Das weißt du auch.«
Er hörte kaum, was sie sagte. Er hatte das alles schon früher gehört – viele Male. Ihr Gedankenkreis war sehr eng, und sie kehrte immer wieder darauf zurück, wie schwer es für sie war, so weit von der Fabrik zu wohnen.
»Ein Dollar heißt mehr Essen«, sagte er kurz. »Ich will lieber das Ende laufen und mehr zu essen kriegen.«
Er aß schnell, kaute das Brot nur halb und spülte die ungekauten Bissen mit dem Kaffee hinunter. Die warme, trübe Flüssigkeit hieß Kaffee. Johnny glaubte selbst, daß es Kaffee sei, – und zwar ausgezeichneter Kaffee. Das war eine von den wenigen Illusionen, die ihm noch geblieben waren. Nie in seinem Leben hatte er richtigen Kaffee getrunken. Außer dem Brot gab es ein kleines Stück kalten Speck. Seine Mutter füllte ihm die Tasse wieder mit Kaffee. Als er sein Stück Brot beinahe aufgegessen hatte, begann er sich umzusehen, in der Hoffnung, mehr zu bekommen. Sie fing seinen forschenden Blick auf.
»Du mußt nun auch nicht gefräßig sein, Johnny!« sagte sie. »Du hast dein Teil bekommen. Deine Geschwister sind kleiner als du.«
Er antwortete nicht auf ihre Vorwürfe – er war kein Mensch, der viel sagte –, aber er beschied sich. Er beklagte sich nie und zeigte eine Geduld, die ebenso furchtbar war wie die Schule, in der er sie gelernt hatte. Er leerte seine Tasse, wischte sich den Mund mit dem Handrücken und machte Miene, aufzustehen.
»Wart einen Augenblick!« sagte sie hastig. »Ich glaube doch, daß ich dir noch ein Stück geben kann – ein kleines Stück!«
Mit der Gewandtheit eines Taschenspielers tat sie, als schnitte sie eine Scheibe Brot für ihn ab, legte dann aber den Laib in den Brotkasten zurück und gab ihm statt dessen eine ihrer eigenen zwei Scheiben. Sie glaubte, sie hätte ihn angeführt, aber er hatte das Kunststück gesehen. Dennoch nahm er ganz schamlos das Brot. Er hegte die unerschütterliche Überzeugung, daß seine Mutter wegen ihrer chronischen Schwächlichkeit nie Appetit hätte.
Sie sah, wie er auf dem trockenen Brot herumkaute, beugte sich vor und goss den Inhalt ihrer Kaffeetasse in die seine.
»Es schmeckt mir heute nicht so recht«, erklärte sie.
In der Ferne ertönte ein langgezogenes, schrilles Pfeifen, und beide kamen auf die Füße. Sie sah nach der billigen Weckuhr auf dem Regal. Die Zeiger standen auf halb sechs. Die anderen Fabrikarbeiter wachten jetzt auf. Sie warf sich einen Schal über die Schulter und setzte sich einen schmutzigen Hut auf, der uralt und völlig formlos war.
»Wir werden wohl laufen müssen«, sagte sie, indem sie den Docht herunterschraubte und die Lampe ausblies.
Im Dunkeln tappend, verließen sie die Stube und gingen die Treppe hinab. Es war klar und kalt, und Johnny schüttelte sich bei der ersten Berührung mit der Morgenluft. Die Sterne hatten noch nicht am Himmel zu verblassen begonnen, die Stadt lag im Dunkeln. Johnny sowohl wie seine Mutter schleppten die Füße beim Gehen nach – es war nicht Ehrgeiz genug in ihren Beinmuskeln, um die Füße vom Boden zu heben.
Als sie eine Viertelstunde gegangen waren, ohne etwas zu sagen, bog seine Mutter rechts ab.
»Komm nicht zu spät!« ertönte ihre letzte Warnung aus dem Dunkel, ehe es sie verschlang.
Er antwortete nicht, sondern ging ruhig und besonnen weiter.
Überall im Fabrikviertel öffneten sich die Türen, und er war bald mitten in einer ganzen Schar, die durch das Dunkel vorwärts eilte. Als er das Tor der Fabrik erreichte, ertönte die Pfeife wieder. Er sah nach Osten. Über der langen Reihe ungleicher Hausdächer begann sich ein blasses Licht zu zeigen. Das war alles, was er vom Tage sah, ehe er ihm den Rücken kehrte und mit seinen Arbeitsgenossen hineinging.
Er nahm seinen Platz an einer der vielen langen Reihen von Maschinen ein. Vor ihm, über einem mit kleinen Spulen gefüllten Kasten waren einige sich schnell drehende große Spulen angebracht, und auf sie spann er Jutefäden von den kleinen Spulen. Die Arbeit war ganz einfach. Alles, was sie erforderte, war Schnelligkeit. Die kleinen Spulen mehrten sich so schnell, und es gab so viele große Spulen, um sie zu leeren, daß nie Zeit zum Nichtstun blieb.
Er arbeitete ganz mechanisch. Wenn eine kleine Spule leer war, benutzte er seine linke Hand als Bremse, um die große Spule anzuhalten, während er gleichzeitig mit Daumen und Zeigefinger das lose Fadenende der großen und mit der rechten Hand das lose Fadenende einer kleinen Spule faßte. Diese zwei verschiedenen Bewegungen mit beiden Händen führte er gleichzeitig und sehr schnell aus. Dann knüpfte er mit einer blitzschnellen Bewegung beider Hände einen Weberknoten und ließ die Spule los. Es war keine Kunst, einen Weberknoten zu knüpfen. Er hatte einmal damit geprahlt, daß er es im Schlaf könnte. Und das tat er übrigens auch hin und wieder, wenn er in einer einzigen Nacht Jahrhunderte damit verbrachte, eine endlose Reihe von Weberknoten zu knüpfen.
Einige von den Knaben waren faul und vergeudeten Zeit und Maschinenkraft, indem sie kleine Spulen, wenn sie leer waren, nicht durch neue ersetzten, und ein Vorarbeiter hatte das zu verhindern. Er ertappte Johnnys Nachbar auf frischer Tat und verabreichte ihm ein paar Ohrfeigen.
»Sieh dir Johnny an – warum ist der nicht so wie du?« sagte der Aufseher.
Johnnys Spulen schnurrten aus voller Kraft, aber das indirekte Lob machte keinen Eindruck auf ihn. Es hatte eine Zeit gegeben+..., aber das war lange her, sehr lange her. Sein schlaffes Gesicht war völlig ausdruckslos, während er anhörte, wie er als leuchtendes Beispiel hingestellt wurde. Er war ein ausgezeichneter Arbeiter. Das wußte er sehr gut – er hatte es so oft gehört. Es war etwas ganz Alltägliches, und ihm schien zudem, als ob es nichts mehr für ihn bedeutete. Vom vollkommenen Arbeiter hatte er sich zur vollkommenen Maschine entwickelt. Ging seine Arbeit nicht glatt, so kam es wie bei der Maschine daher, daß das Material nichts taugte. Ein vollkommener Nagelstempel hätte ebensogut schlechte Nägel verfertigen, wie er einen Fehler begehen können.
Und das war auch nicht so merkwürdig. Nie hatte es eine Zeit gegeben, da er nicht in enger Verbindung mit Maschinen gestanden hatte. Er war unter Maschinen geboren und unter ihnen aufgewachsen. Vor zwölf Jahren war in der Webstube in eben dieser Fabrik eine Störung eingetreten. Johnnys Mutter war ohnmächtig geworden. Sie legten sie flach auf den Fußboden zwischen den lärmenden Maschinen. Ein paar ältere Frauen wurden von ihren Webstühlen hinzugerufen, der Vorarbeiter half, und im Laufe weniger Minuten gab es in der Webstube eine Seele mehr, als zur Tür hereingekommen waren. Das war Johnny, der mit dem Poltern und Krachen der Maschinen in den Ohren geboren war und zum ersten Mal in der warmen feuchten Luft atmete, die dick von Leinenflocken war. Er hatte an jenem ersten Tage gehustet, um sich die Lunge von den Leinenflocken zu befreien, und aus demselben Grunde hustete er seitdem immer.
Der Knabe neben Johnny wimmerte und schnaufte. Sein Gesicht war von Haß auf den Vorarbeiter verzerrt, der ihn drohend aus der Ferne im Auge behielt, aber jede Spule lief in voller Fahrt. Der Junge heulte furchtbare Flüche in die sich hastig drehenden Spulen hinein, aber das Geheul drang keine sechs Fuß weit in den Raum, denn der Lärm stemmte sich wie eine Mauer dagegen.
Von alledem nahm Johnny keine Notiz. Er pflegte die Dinge zu nehmen, wie sie kamen. Zudem wurde alles in der Welt so eintönig, wenn es sich immer wiederholte, und dieses bestimmte Geschehnis hatte er viele Male erlebt. Sich gegen den Vorarbeiter aufzulehnen, erschien ihm ebenso zwecklos, wie dem Willen einer Maschine zu trotzen. Maschinen waren so gemacht, daß sie auf eine bestimmte Art und Weise wirkten und eine bestimmte Arbeit verrichteten. Und dasselbe galt von dem Vorarbeiter.
Um elf Uhr aber gab es plötzlich eine Störung, und wie durch Zauberei verpflanzte sich die Erregung augenblicklich bis in die entferntesten Winkel. Der einbeinige Knabe, der an der anderen Seite von Johnny arbeitete, schoß zu einem leeren Spulkasten und verschwand mit Krücke und allem darin. Der Fabrikverwalter kam durch das Lokal gegangen, in Begleitung eines jungen Mannes, der gut gekleidet war und ein gestärktes Hemd trug – ein feiner Herr nach Johnnys Einteilung der Menschheit, aber es war ja auch der »Inspektor«.
Er sah die Knaben scharf forschend an, während er an den Webstühlen vorbeiging. Hin und wieder blieb er stehen und fragte