saß, lachte er mehrmals laut, was seine Mutter, die ihn viele Jahre lang nicht lachen gehört hatte, in hohem Maße beunruhigte.
Am nächsten Morgen trat sie, ehe es hell geworden war, an sein Bett, um ihn zu wecken. Er hatte sich diese Woche richtig ausgeschlafen und wachte sehr leicht auf. Er wehrte sich nicht und versuchte auch nicht, sich am Deckbett festzuhalten, als sie es abriß. Er blieb ganz ruhig liegen und sagte:
»Es hat keinen Zweck, Mutter!«
»Du kommst zu spät«, sagte sie im Glauben, daß er immer noch halb im Schlaf wäre.
»Ich bin wach, Mutter, und ich sage, daß es keinen Zweck hat Du kannst mich ebensogut in Ruhe lassen. Ich gedenke nicht aufzustehen.«
»Aber du verlierst deine Stelle!« rief sie.
»Ich denke nicht daran, aufzustehen«, wiederholte er mit seltsam leidenschaftsloser Stimme.
Sie ging selber an diesem Morgen nicht zur Arbeit. Das war eine weit schlimmere Krankheit als jede, die sie je gekannt hatte. Fieber und Fieberphantasien konnte sie verstehen, aber das war ja der reine Wahnsinn. Sie deckte ihn wieder zu und schickte Jenny nach dem Arzt.
Als er kam, schlief Johnny ruhig, und er wachte friedlich auf und ließ es sich gefallen, daß der Arzt seinen Puls fühlte.
»Es ist nichts mit ihm«, erklärte der. »Schrecklich entkräftet – das ist alles. Er hat nicht viel Fleisch auf dem Leibe.«
»So ist er immer gewesen«, warf seine Mutter ein.
»So, geh nun, Mutter, und laß mich ausschlafen.« Johnny sprach sanft und ruhig, und sanft und ruhig drehte er sich auf die Seite und schlief ein.
Um zehn wachte er auf und kleidete sich an. Er ging in die Küche, wo seine Mutter mit erschrockenem Gesicht herumhantierte.
»Ich will dir nur Lebewohl sagen, Mutter«, sagte er, »denn jetzt gehe ich.«
Sie schlug sich die Schürze vors Gesicht, setzte sich plötzlich und weinte. Er wartete geduldig.
»Ich hätte es mir sagen können«, schluchzte sie.
»Wohin?« fragte sie schließlich, nahm die Schürze herab und sah ihn an, neugierig, aber mit einem Ausdruck, als ob sie völlig gelähmt wäre.
»Das weiß ich nicht – und es ist auch einerlei.«
Während er sprach, stand plötzlich der Baum auf der anderen Seite der Straße mit blendender Klarheit vor ihm. Es war, als wäre er immer da, so daß er ihn jederzeit sehen konnte, wenn er es wünschte.
»Und deine Stelle?« sagte sie mit zitternder Stimme.
»Ich will nie mehr etwas tun!«
»O Gott, Johnny«, klagte sie. »Das darfst du nicht sagen.«
Was er sagte, war ja die reine Gotteslästerung für sie. Wie eine Mutter, die ihr Kind Gott verleugnen hört, so entsetzte sich Johnnys Mutter über seine Worte.
»Was ist denn nur in dir vorgegangen?« sagte sie mit einem lahmen Versuch, gebieterisch aufzutreten.
»Zahlen«, antwortete er. »Nur Zahlen. Ich habe mich die ganze Woche mit einer Menge Zahlen beschäftigt, und das ist sehr merkwürdig.«
»Ich sehe nicht ein, was das damit zu tun hat«, seufzte sie.
Johnny lächelte geduldig, und es gab seiner Mutter gleichsam einen Ruck, als sie plötzlich erkannte, wie vollkommen seine Verdrießlichkeit und Reizbarkeit verschwunden waren.
»Jetzt will ich es dir zeigen«, sagte er. »Ich bin todmüde. Was ist es, was mich so müde macht? Bewegungen. Ich habe mich bewegt, seit ich geboren wurde. Ich bin es müde, mich zu bewegen, und ich will mich nicht mehr bewegen. Weißt du noch, wie ich in der Glasfabrik arbeitete. Da konnte ich dreihundert Dutzend Flaschen jeden Tag fertigmachen. Sieh, ich rechne nun, daß ich ungefähr zehn verschiedene Bewegungen mit jeder Flasche machte. Das macht sechsunddreißigtausend Bewegungen am Tage. Etwas über eine Million Bewegungen im Monat. Rechnen wir rund eine Million –«, er sprach so milde und ruhig wie ein Wohltäter der Menschheit – »rechnen wir rund eine Million, so macht das zwölf Millionen Bewegungen im Jahr.
In der Weberei bewege ich mich doppelt so viel. Das macht fünfundzwanzig Millionen Bewegungen jährlich, und ich habe ein Gefühl, als hätte ich mich auf die Art fast eine Million Jahre bewegt.
Sieh, diese Woche habe ich mich gar nicht bewegt. Ich habe viele, viele Stunden lang nicht eine einzige Bewegung gemacht. Ich sage dir, es war ein Fest, viele, viele Stunden lang dazusitzen und nichts zu tun. Ich bin noch nie glücklich gewesen. Ich habe nie Zeit gehabt. Ich habe mich die ganze Zeit bewegt. Auf die Weise wird man nicht glücklich. Und ich tue es nicht mehr. Ich will nur ruhen und ruhen und immer ruhen.«
»Aber was soll denn aus Will und den Kindern werden?« fragte sie verzweifelt.
»Ja, da haben wir's – Will und die Kinder«, wiederholte er.
Aber es war keine Bitterkeit in seiner Stimme. Er kannte längst die ehrgeizigen Pläne, die seine Mutter für ihren Jüngsten hegte, aber er spürte keine Bitterkeit mehr bei dem Gedanken. Er machte sich aus nichts mehr etwas. Nicht einmal daraus.
»Ich weiß gut, Mutter, woran du mit Will gedacht hast – ihn zur Schule gehen und Buchhalter werden zu lassen. Aber daraus wird nichts – ich bin fertig. Jetzt muß er zupacken.«
»Und das, nachdem ich dir so in der Welt vorwärtsgeholfen habe«, sagte sie weinend und machte Miene, das Gesicht in der Schürze zu bergen.
»Du hast mir nie vorwärtsgeholfen«, antwortete er freundlich, aber betrübt. »Ich habe mir selbst vorwärtsgeholfen, und ich habe Will vorwärtsgeholfen. Er ist größer als ich, dicker und größer. Ich glaube, ich habe als kleiner Bengel nicht genug zu essen bekommen. Als kleiner Bengel arbeitete ich und verdiente das Essen für ihn mit. Aber das Spiel mache ich nicht mehr mit. Will kann zupacken und etwas tun wie ich, oder er kann zum Teufel gehen – mir ist es verflucht gleichgültig. Ich bin müde. Und jetzt gehe ich. Willst du mir nicht Lebewohl sagen?«
Sie antwortete nicht. Sie hatte sich wieder das Gesicht mit der Schürze bedeckt und weinte. Er blieb einen Augenblick in der Tür stehen.
»Ich tat, was ich konnte – weiß Gott, das tat ich!« schluchzte sie.
Er verließ das Haus und trat auf die Straße. Ein blasses Lächeln glitt über sein Gesicht bei dem Anblick des einsamen Baumes. »Nichts tun!« trällerte er vor sich hin. Träumerisch sah er zum Himmel empor, aber die Strahlen der Sonne blendeten ihn, und er mußte die Augen schließen.
Es war ein weiter Weg, den er ging, und er ging nicht schnell. Der Weg führte an der Jutefabrik vorbei. Das gedämpfte Poltern in der Weberei klang zu ihm heraus, und er lächelte. Es war ein sanftes, zufriedenes Lächeln. Er haßte keinen, nicht einmal die hämmernden, kreischenden Maschinen. Es war keine Bitterkeit in ihm – nichts außer einem unwiderstehlichen Drang, zu ruhen.
Häuser und Fabriken wurden spärlicher, und die unbebauten Grundstücke zahlreicher und größer, als er sich dem freien Lande näherte. Schließlich lag die Stadt hinter ihm, und er ging einen Feldweg am Bahndamm entlang. Er ging nicht wie ein Mann. Er sah nicht wie ein Mann aus. Er war die Parodie eines menschlichen Wesens. Es war ein verzerrtes, verkümmertes und namenloses Stück Leben, das wie ein kranker Affe dahintrottete, mit hängenden Armen und gebeugten Schultern, engbrüstig, komisch und entsetzlich.
Er ging an einem kleinen Bahnhof vorbei und legte sich unter einen Baum ins Gras. Den ganzen Nachmittag lag er dort. Zuweilen schlief er ein wenig, und jedesmal, wenn er schlummerte, ruckte es in seinen Muskeln. Wenn er wach war, lag er ohne sich zu rühren da und beobachtete die Vögel oder sah zwischen den Zweigen hindurch zum Himmel empor. Ein paarmal lachte er laut, aber ohne daß er etwas gesehen oder gefühlt hätte.
Als der Dämmerung die erste Dunkelheit der Nacht folgte, kam ein Güterzug auf den Bahnhof gerumpelt. Während die Lokomotive einige Wagen auf ein Seitengleis fuhr, kroch Johnny am Zug entlang. Er riß die Tür eines