Breite 8°41'09,4“ östliche Länge) sollte es, so unpassend es gewesen war, nun das erste Mal werden. Schließlich war es Frankfurt, eines der größten Magnetfelder Deutschlands, mit täglich 350 000 Taschen-hin-und-Koffern-her-Schiebern. Mit der linken Schulter versetzte Kleinschmidt dem herumtobenden Toilettenzwerg einen kräftigen Stoß, der ihn rückwärts taumeln ließ. Krachend fiel er auf den glatten Fliesenboden zurück. Verdutzt brachte er keinen Ton mehr von sich heraus. Behänd half Kleinschmidt dem Anderen hoch und vernahm hinter sich, nicht undankbar, tosenden Applaus und Bravorufe. Sie geleiteten ihn und sein Sorgenkind auf dem Weg nach oben in die Bahnhofshalle. An diesem Mittag, vor dem Pissoir des Frankfurter Hauptbahnhofs, müssen die Entrechteten der Welt ein Stelldichein gegeben haben - und Faustus Kleinschmidt war im Handumdrehen ihr Held geworden, ihr Bannerträger. Angesichts dieser Wendung schien sich die Vorstellung für alle doch gelohnt zu haben.
Ein freiwilliger Helfer erbot sich, dem geschwächten schwarzen Mann den Fetzen von einem Koffer hinter her zu tragen. Als alle drei oben ankamen, glotzte sie eine Schar rot- und schwarzhaariger junger Frauen mitleidig an. Kunterbunte flatternde Kopftücher und farbenfrohe knöchellange weite Röcke. Mazedonische Roma ohne Gepäck, unmittelbar an Zügen und auf Bahnsteigen, verdächtig unterwegs auf Betteltour. Unweit davon zwei junge Frauen, geschminkt und topp gestylt im professionellen Modelmanier - womöglich auf dem Weg zu einem Fotoshooting, vor dem oszillierenden Bahnhofbetrieb als Kulisse. Gleich gegenüber am Eingang zum Bahnsteig Acht kniete ein junger Mann - in jammervoller Pose. Vor ihm eine halbvolle Flasche Cola und eine schwarze Taube, mit aufgefächertem Federkleid. Mit dem einen Zeigefinger streichelte er ihr behutsam über den Kopf. Er hielt ihr die linke Handfläche offen entgegen. Darin ein paar Tropfen des dunklen Getränks. Offenbar versuchte er dem geschwächten Vogel wieder Kraft einzuhauchen. Die Taube nippte einmal darin und rührte sich nicht wieder. Sie schien wie der Afrikaner verloren zu sein, es nicht weiter schaffen zu können. Dessen Schweißausbruch und Zittern am ganzen Leib signalisierten dem Mediziner Faustus Kleinschmidt ‚Synkope‘, Kreislaufkollaps. Er brauchte dringend ärztliche Hilfe - nicht nur eine Toilette. Faustus bat eine junge Frau, über ihr Handy die Notrufzentrale des Bahnhofs anzurufen. Er selbst besaß keines. Noch vor dem Treppenabsatz half er ihm, sich auf den Boden hinzulegen und versuchte herauszufinden, was ihm gefehlt hatte. Ein junger Mann mit bis zu Knie reichendem Zopf – die Haare in äußerster Perfektion geflochten, als käme er direkt vom Hof des Kaisers von China, in Aladinhosen mit deep crotch und aus feinstem Gabardine-Elastan-Stoff - reichte Faustus seine Wasserflasche hin. Im heillosen Durcheinander besann er sich darauf, dass sein Schwiegersohn Matthias ihn ermahnen werde, bei allem, was den schwarzen Mann am Boden betraf, sich rasch eine Legende zurechtzulegen habe. Ja eine sogenannte Legende, wasserdicht und logisch im Aufbau. Er konnte sich entsinnen, dass Professor Matthias Manderscheid ihm noch vor kurzem den Spruch vorgehalten hatte. Er musste es bei einem seiner schlauen Bekannten unter den Juristen aufgeschnappt haben. Faustus kannte den Afrikaner nicht, nicht wer er war und woher er kam und schon gar nicht wohin er gehen wollte. Sein Schwiegersohn, rechtschaffen und ein durch und durch berechnender Mensch, ein Meister der hohen Mathematik, wie nun er war, würde vermutlich schon wieder seine ergrauten Stoppeln am Kopf raufen. Vor allem darüber, worin sein Schwiegervater diesmal hineingeraten war. Bei den kreuz und quer, auf- und aneinander vorbeisteuernden Massen unter dem Bogendach der Frankfurter Bahnhofshalle drängte sich dem früheren Arzt das Bild von der zuckenden Bewegung der Atome gemäß dem Brown’schen Gesetz auf. Inmitten dieses Kraftfeldes verlor der Afrikaner die Besinnung. Um beide herum stellte sich nach und nach ergriffenes Schweigen ein. Auch die schwarze Taube gab kein Lebenszeichen von sich. Verstört schlossen zwei ältere behäbige Frauen in grauen bis zum Boden reichenden Kleidern die Augen fest zu und falteten die Hände zum Gebet. Mitten im tosenden Ozean der Gleichgültigkeit auf dem Bahnhofsgelände wurde aus der Liegestelle des schwarzen Mannes und dem Stehplatz der schwarzen Taube eine Insel allgemeiner Anteilnahme. Wie auf Zehenspitzen schoben sich die Reihen betreten rückwärts, darauf bedacht, Mann und Vogel Luft zu verschaffen. Rapide verlangsamte sich der Pulsschlag des Afrikaners. Faustus hatte nichts bei sich, womit er gegensteuern konnte. Ihn wach zu halten, schien unmöglich geworden zu sein. Erste Hilfe bewirkte nichts mehr. Sein Zustand verschlechterte sich zusehends und überforderte Kleinschmidts ärztliche Kunst. Es dauerte und dauerte. Auf die Schnabelspitze aufgestützt, hielt sich das gesenkte Haupt der schwarzen Taube überm Boden. Ihr Blick war erfroren, starr gerichtet auf die hin und her eilenden Beine der Fahrgäste, unmittelbar vor ihren Augen. Kraftlos hatten ihre winzigen Beine nachgegeben und waren unter den ausgestreckten Federn verschwunden. Als die Sanitäter endlich eintrafen, lag der Afrikaner im Koma. Zusammen mit dem Mann, der sich um den Koffer gekümmert hatte, eilte Faustus Kleinschmidt der Tragbahre hinter her.
Die zwei Bündel von je fünfundzwanzigtausend Euro - noch hinterm Reisverschluss in seiner Mantelinnentasche verstaut - unberührt. Die Geldübergabe war futsch. Sein Zorn über den Zwerg im Pissoir lenkte ihn von seiner Wut über die Niederträchtigkeit des Erpressers ab. Fünfzigtausend Euro für einen Haufen Hundekot. Dem Afrikaner auf der Bahre wäre mit viel weniger geholfen. Fünfzigtausend Euro. Niederträchtige Erpressung - wofür denn? Für ein Schweigen darüber, wie er eine Schippe mit Hundekacke zu spätnächtlicher Stunde durch die Gegend getragen und seinem Nachbarn über die Hecke in den Garten geschleudert hatte? Dafür so viel Geld? Faustus Kleinschmidt, ein wahrlich hoher Preis für ein stinkendes Vergnügen.
2. Kapitel
Es war noch Anfang August, da hatten Anrufe fortwährend in der Nacht die Polizeibeamten auf Trab gehalten. Bis in die frühen Morgenstunden, als würde die Welt untergehen. Eine Nachtstörung von unbeschreiblicher Heftigkeit. Nie zuvor hatten sich Bewohner der Mittelstadt Bosenwendel gegenüber einer Nachtwache im Polizeirevier so erbost gezeigt. Es könnte doch nicht schwer fallen, für Nachtruhe zu sorgen, hatte ihr harmlosestes Anliegen gelautet. Der Fernseher von Gustav Milde im Kurviertel sei die ganze Nacht hindurch auf höchster Lautstärke aufgedreht gewesen. Nicht einmal Ohrenstöpsel hätten geholfen. Da stimmte bei dem etwas nicht - oder?
Als Kriminalhauptkommissar Markus Richthofen damals am schwülen Augustmorgen gegen sieben Uhr seinen Dienst lustlos angetreten war, und wie jedes Mal an der Telefonzentrale der Polizeiwache vorbei zu seinem Büro geschlendert war, hatte er den Namen Milde, Gustav Milde vernommen. So beiläufig wie das auch gewesen war, die bloße Erwähnung der Person hatte seinerzeit den Chef der örtlichen Kriminalbehörde förmlich aufgeschreckt. Als Richthofen zaghaft nachfragte, nahm das Unheil seinen Lauf. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte der Diensthabende die Augen ermattet vom Bildschirm hochgehoben. Die Nachbarn einer Familie Milde im Kurviertel hätten durch die Nacht hindurch mit Anrufen genervt. Hauptkriminalkommissar Markus Richthofen hatte seine rotbraune Aktentasche beiseitegelegt. Soweit er nur konnte, hatte er Hals und Rumpf über den Tresen der Wache weit in den Raum hineingestreckt, sich die Augen verkniffen, die Ohren gespitzt und mit ironisierender Mimik den Mund verzogen. So als wäre er zu so früher Stunde bestenfalls darauf aus, eine kleine Anregung für den Kaffeeklatsch im Büro aufzuschnappen. Dabei war seine graumelierte Mähne ihm ins Gesicht gefallen. Er hatte sich noch einmal den Namen vorsagen lassen, langsam, Buchstabe per Buchstabe: G-u-s-t-a-v M-i-l-d-e. Richthofens Pulsschlag hatte sich rasend beschleunigt.
Bei alledem hatte er es geschafft, dem uniformierten Kollegen vorzuspielen, er hätte den Namen zum ersten Mal in seinem Leben gehört gehabt. Nach der Schrecksekunde hatte er moniert, mit sarkastischem Unterton, es würde sich um nicht mehr als um eine harmlose Geschichte im langweiligen Leben langweiliger Bürger handeln. Mal eine Abwechslung. Mehr nicht? Wohl nicht. Dann hatte er den Kopf zurück gezuckt. Sein fester, unerschütterlicher Blick war wieder zum Vorschein gekommen. Abrupt hatte er sich vom Thekenrand gelöst, sich die Mappe unter die linke Achsel geklemmt, sich die vor Schweiß feuchtgewordenen Hände gerieben und seinen Gang fortgesetzt. Der morgendliche Schwung, mit dem er stets das Polizeipräsidium betreten hatte, war mit einem Schlag dahin, verflogen. Markus Richthofen hatte es mehrmals frostig durchgeschüttelt, fortwährend über den ganzen verwaisten Flur, bis zu seinem Büro. In seinem Zimmer angekommen, hatte er die Tür hinter sich geschlossen- und sich dagegen gestemmt. Durch seine Knie war ein leises Zittern hindurchgegangen. Er hatte Halt gesucht. Achtundfünfzig und durchaus robust, er hatte sich nicht auf den Beinen halten können. Zwei Mal, höchstens drei Mal, war es ihm in seiner Laufbahn