„O. K., Bruno, lass uns das noch mal durchgehen. Also ich, der König, frage dich, den Offizier: ‚Wie steht es um die Königin?‘ Und du antwortest mit der gesamten Tragik, die dir nach all den Jahren auf der Bühne geblieben ist ...“
Bruno, der gerade dabei war, mit Spiegelbild und Stift graue Augenbrauen wieder in schwarze zu verwandeln, merkte wie Klostermann ihn mit gespielter Erwartung ansah. Nach einer extra langen Pause antwortete er gelangweilt: „Die Königin, Herr, ist tot.“
„Ich sehe schon, Bruno. Du bist eben zu lange dabei, um noch etwas Neues zu lernen. Wahrscheinlich bist du froh, dass dir die paar Worte, die du aufzusagen hast, nicht auch noch verloren gehen. Reiß dich wenigstens heute Abend zusammen.“ Klostermann gab sich keine Mühe, die ausgefahrenen Ohren der übrigen Schauspieler in der Garderobe mit seiner Meinung über Bruno zu verschonen. Einige Zofen kicherten, als er demonstrativ seinen falschen Hermelin-Mantel dicht vor Brunos Gesicht zurückwarf und majestätisch den Raum verließ. Bruno fand, er war schon zu sehr in seiner Rolle.
Fertig geschminkt und kostümiert wartete Bruno dann hinter der Bühne auf den Beginn der Vorstellung, als der Regisseur ihn zur Seite nahm.
„Hör mal, Bruno. Ich habe eben noch mal mit Klostermann geredet und er macht sich wirklich Sorgen wegen deiner Szene. Ich weiß, du hast das schon oft gespielt, aber er und ich wir haben da unsere ganz bestimmten Vorstellungen. Wir wollen doch alle das Beste für das Stück. Du doch auch. Ich kann den Klostermann ja auch ein bisschen verstehen“, fuhr der Regisseur fort. „Er hat nun mal eine Vision für die Szene. Und die will er sich von einer Nebenrolle nicht kaputtmachen lassen. Als Vollblutschauspieler verstehst du das doch, oder?“
Bruno fand, er redete mit ihm wie mit einem alten Pferd, das bereits auf dem Hinterhof einer Metzgerei stand. Vollblutschauspieler, Vollbluthengst – wo ist da der Unterschied, wenn beide alt geworden sind?
„Ich lasse mich aber nicht abschlachten“, dachte Bruno jetzt bei sich, während er in seinem schweren Kostüm langsam auf seine Auftrittsposition ging. „Ich habe schon den König in diesem Stück gespielt, da wussten eure Eltern noch nicht mal was voneinander.“ Er merkte, dass irgendwas in ihm vorging. Er konnte es nicht genau beschreiben, aber hatte mehr und mehr das Gefühl, dass es Wut war. „Ihr wollt also das Stück aufpeppen – dann kommt jetzt der Pfeffer!“
Er bekam das Zeichen zum Auftritt.
Sein Stichwort war laut Drehbuch „Weiberschrei hinter den Kulissen.“ Bruno betrat die Bühne. Das Scheinwerferlicht umarmte ihn, sein Pulsschlag wurde normal. So war es seit fast 50 Jahren.
Klostermann überzog die Darstellung des besorgten Königs um einiges. Als er schließlich fragte: „Wie steht es um die Königin?“, antwortete Bruno ohne zu zögern. „Die Königin, Herr, ist wohlauf. Es ging ihr nie besser.“
Ohne auf eine Reaktion zu warten, ging Bruno von der Bühne ab. Vorbei an den weit aufgerissenen Mündern der Kollegen und des Regisseurs verließ er das Theater.
Das Zuschlagen der Garderobentür war bis in die letzte Zuschauerreihe gut zu hören.
Veilchen im April 2005, Ausgabe 9
Mario Siegesmund
Eine fixe Idee
Während Martina Schornagel den Versuch unternahm, die Markise an ihrem Balkon auszufahren, spürte sie die ersten Tropfen des einsetzenden Regens auf ihren nackten Armen. Der Mechanismus hakte. Wieder einmal! Genervt von den Tücken der Technik und der schwülen Gewitterluft, rüttelte Martina mit beiden Händen an dem Sonnenschutz. Einer der Plastikklappstühle diente ihr dabei als Leiter. Die eigene Unvorsicht dieser halsbrecherischen Aktion ganz außer Acht lassend, war Martina nur darauf bedacht, ihren Eigensinn, der oft in Sturheit gipfelte, durchzusetzen. Wäre nicht ihr Fingernagel eingerissen, hätte sie sich in einen gepflegten Wutausbruch hineingesteigert. Durch den anhaltenden Schmerz verlor sie das Gleichgewicht. Mit letzter Kraft krallte sie ihre noch intakten Nägel in das Volant des Markisenstoffes. Just in dem Moment aktivierte sich wieder die Automatik. Mit weit aufgerissenen Augen und stumm vor Angst wurde sie nach unten geschleudert.
Unsanft landete sie vornüber gebeugt auf der Balkonbrüstung. Wie hypnotisiert starrte sie den fallenden Blumentöpfen hinterher.
Weder deren dumpfen Aufschlag auf dem Asphalt noch die warmen Regentropfen, die wie Trommeln in ihrem Kopf hallten, ließen eine Bewegung zu. Auch nicht der Passant, der ebenso erschrocken wie besorgt zu ihr hochblickte.
Sie hatte wirklich Glück gehabt. Das war offensichtlich. Doch dass jemand die Situation falsch interpretieren könnte, wäre ihr nicht im Traum eingefallen.
Tags darauf saß Martina der Schreck noch immer in den Gliedern, und ihr Bauch fing jetzt erst richtig an zu schmerzen.
Trotzdem und gerade deswegen wollte sie ihren Sommerurlaub in vollen Zügen genießen. In Anbetracht der Dinge und selbstverständlich unter Berücksichtigung aller Vorsichtsmaßnahmen würde sie Urlaub auf Balkonien machen. „Der Sommertraum“ konnte beginnen. Martina lächelte ihrem Spiegelbild zu, schnappte ihren großen Regenschirm und machte sich auf den Weg.
Nach einigen Schritten war sie zehn Zentimeter kleiner und humpelte. So viel zum Thema neue, hochhackige Pumps, eine kostspielige Investition für den städtischen Mülleimer.
War sie nur ein Tollpatsch oder klebte ihr das Pech an den Händen beziehungsweise an den Füßen? Selbstkritisch und barfuß lief Martina durch den Park. Es nieselte. Beschwingt balancierte sie den großen Schirm und summte vor sich hin.
Der laue Wind umspielte ihre Beine. Das feuchte Gras kitzelte ihre Fußsohlen. Dieses prickelnde Gefühl ließ sie den restlichen Weg in grashüpferartigen Sprüngen zurücklegen.
Erst am Weiher, ihrem Lieblingsplatz, kam sie zum Stehen. Sie beugte sich vergnügt nach vorne, um mit den Fischen zu plaudern. In der Wasseroberfläche spiegelte sich ein ihr nicht unbekanntes Gesicht wider.
Dieser Kerl verfolgte sie. Zuerst war er Zeuge ihres Beinaheabsturzes, was vielleicht noch dem Zufall zugeschrieben werden konnte. Und jetzt stand er wieder in ihrer unmittelbaren Nähe. Möglicherweise war er ihr mit seinen unlauteren Absichten schon länger auf den Fersen. Schützend zog sie den Schirm noch dichter an sich. Er hätte ihr Vater sein können, dieser Lustmolch. Martina beobachtete aufmerksam jede seiner Bewegungen im Fischweiher. Noch stand er abwartend da. Sollte er sich auf sie zu bewegen, würde sie lauthals losschreien. Neugierig bückte sie sich noch weiter nach vorne, um ihren Verfolger näher in Augenschein zu nehmen.
„Gar nicht mal so übel“, musste Martina eingestehen, bevor sie sich von der Tiefe des Gewässers überzeugen konnte.
Karl Wagner sah seine Annahme bestätigt, dass diese verhaltensauffällige Person davon besessen war, sich eigenhändig ins Jenseits zu befördern. Nachdem der Sprung vom Balkon missglückt war, hatten sie ihre Selbstmordabsichten ins Wasser getrieben.
Er hatte sie im Auge behalten, um sie vor einer Dummheit zu bewahren.
Diese geradezu fixe Idee war gründlich in die Hose gegangen, misslungen, buchstäblich ins Wasser gefallen. Dafür konnte er sie jetzt retten. All diese Gedanken schossen ihm durch den Kopf, als er die hustende, wild um sich schlagende Martina an Land gezogen hatte. Zum ersten Mal war er ihr ganz nahe und umso wütender über ihre wiederholten Suizidversuche.
Wie konnte eine so junge, hübsche Frau einfach ihr Leben wegwerfen wollen? Es war ihm unbegreiflich. Er wollte sie unbedingt davon abbringen.
„Wahrscheinlich eine unglückliche Liebesgeschichte“, vermutete Karl, während er sich erschöpft ins Gras fallen ließ.
„Warum haben Sie mir das angetan?“ Aufgebracht wandte sich Martina an Herrn Wagner, der sich ihr mittlerweile, mit der Absicht sie aufzuheitern, als „Wagner, Karl Wagner“ vorgestellt hatte.
„Hören Sie auf mit dem James Bond Gehabe. Sie taugen nicht zum 007-Agenten.“
„Und