Bundeskanzlerin würde dieser Leib reichen, sagte Papa Malte spitzig. Denn mit diesem Posten erreicht ein solcher mütterlicher Leib eine große Popularität. Wer mit so einem Leib durch die Gegend rennt, wirbelt immer viel Staub hinter sich auf.
Hoffentlich liest sie nun endlich mal den Brief vom Arbeitsamt vor und sieht nicht immer so schief auf ihren Körper, rumorte Opa. Aber Oma Regula sagte gleich, dass man einen Amtsbrief mit Bedacht erwartet und liest, und ihre Tochter solle endlich mal sagen, was drin steht! Dann schälte sie weiter Kartoffeln, denn sie machte gerade einen guten deutschen Eintopf.
Mama Hippi begann vorzulesen – sie freuen sich, mir eine Beschäftigungsmöglichkeit vorschlagen zu können. Bruder Friedbert dachte sofort an die Erhöhung seines Taschengeldes. Fotomodell soll sie machen, das heißt, wenn jemand kommt, soll sie sich diesem sofort anbieten! Für Aktfotos, und als Lohn und Gehalt kriegt sie 20 Euro. Ob denn das wirklich drin steht im Amtsbrief der Bundesregierung, wollte Oma Regula wissen, der gleich der Schweiß auf der Stirn stand.
Ich saß auf meinem Stuhl und suchte schon die Seite in der BRAVO heraus, auf der Mutter Hippis Leib mit Kurven gedruckt werden sollte, gleich zwischen Britney und Paris!
Und gleich morgen solle sie sich beim Nacktfotografen angezogen vorstellen. Es dauerte lange, bis Mutter Hippis Schock zu Ende war und sie auf einen Stuhl fiel, der unter ihrem Gewicht knarrte. Selbst das Bild im Fernsehen flackerte. Dann rannte sie wieder vor dem Spiegel hin und her. Sie würde gleich das Bewusstsein und die Menschenwürde verlieren, kreischte sie. Das würde er nicht glauben, sagte Papa Malte und musterte ihren vollen Oberkörper; so verherrlichte er unsere Bäckerin. Dieses Lob von Papa Malte brachte Mama Hippi dazu, wieder vor den Spiegel zu rennen und wie trunken zu behaupten, dass sie für ein Nacktmodell doch viel zu dick sei. Eine Frau mit reiner Weste brauche sich vor keinem Fotografen zu verstecken, säuselte unser Bekenner. Und sie würde höchst interessante Wege betreten, die mit einer Bäckerin nun wirklich nichts gemein haben!
Und was wäre mit ihrer Unschuld? Natürlich wusste zu dieser Unschuld niemand etwas zu sagen, nicht einmal Oma Regula, die ihre Tochter gleich an ihre Trümmerfraubrust heftete, als ob sie ihr ein bisschen Fett wegdrücken wollte, damit sie doch noch als Fotomodell beim Arbeitsamt und vielleicht bei dieser Klum auftreten könnte.
Schade, dass es nicht in allen deutschen Arbeitsämtern solche Jobs gibt. Aber wer kennt schon die Bewegungsgesetze dieser Ämter, die immer so tun als hätten sie richtige Berufe zu vergeben, nur solche, die die Menschenrechte fördern, zum Beispiel Straßenfeger oder Schornsteinfeger in ihrer Kluft – wie sollte denn Mama Hippi in ihrer Nacktmodellkluft auf der Straße aussehen! Obwohl, bei dieser Klum sagte mal einer: Nacktmodell am Abend – erquickend und labend!
Trotzdem können wir dieses Land noch einigermaßen gut ertragen, und Opa und Papa Malte müssen nicht gleich zum Arbeitsminister nach Berlin fahren, zu diesem Scholze oder wie das Ding heißt, und sich dort über die Behandlung dicklicher deutscher mittelalterlicher Bäckersfrauen und Mütter beschweren und ihm Mutter Hippis körperliche Breite vorführen, damit die Bundeselse Frau Merkel weiter sagen kann, dass die Arbeitslosigkeit verschwindet und der Aufschwung bei Mutter Hippi endlich angekommen ist.
Wir sind ja schließlich keine Schovinisten, und manchmal bestimmt nämlich auch die Art der Geschichte ihren Menschenrechtsstandort!
Veilchen im Oktober 2008, Ausgabe 23
Holger Hartenstein
Zeitlos
Der Vormittag des 29. Februar 1997 war ein sehr sonderbarer. In der Nacht davor sollen Nordlichter sowie eine Sternschnuppe zu sehen gewesen sein. Manch einer aber bringt diese Himmelszeichen mit den eigenartigen Vorkommnissen des letzten Februartags in Verbindung.
Gegen drei Uhr morgens wachte ich ohne erkennbaren Grund auf. Ich ging, obwohl sehr müde, und ohne dass ich recht wusste, warum, ins Wohnzimmer, wo ich Licht machte. Eben in dem Moment raschelte die Zimmerpflanze mit den langen grünen Blättern, die wie ein kleiner Palmenbaum aussah, und die in der linken Ecke neben dem Kamin aus ihrem Topf wuchs. Wahrscheinlich hatte sie jemand im Laufe des Tages berührt, und erst jetzt lösten sich die länglichen gewellten Blätter voneinander, durch das schwache Pulsieren pflanzlicher Säfte in leichteste Bewegung gebracht. Mir war, als sei ich nur dafür ins Wohnzimmer gekommen, um Zeuge dieses beinahe lächerlichen floristischen Spektakels zu sein.
Nach dieser seltsamen Episode schlief ich wieder ein, nur um mehrere Stunden später erneut aufzuwachen. Doch die Uhr zeigte mir, dass nur fünfzehn Minuten verstrichen waren. Als ich schließlich zum dritten Mal aufwachte, war es noch immer viertel nach drei. Das fand ich merkwürdig, zumal Tageslicht durch die Rollläden schien. Ich dachte, meine Uhr sei stehengeblieben und öffnete die Jalousien. Doch nachdem ich das getan hatte, sah ich, dass die anderen Uhren meines Zimmers – ich besitze drei Stück, da ich in zeitlichen Dingen immer recht verschwenderisch gewesen bin – ebenfalls 3:15 zeigten.
Was sollte ich davon halten? Ich wusch mich, zog mich an, rasierte mich und ging in die Küche, um Frühstück zuzubereiten. – Aber siehe, auf der Küchenuhr dieselbe Nachtzeit! Ebenso auf der Standuhr im Flur, der Uhr im Wohnzimmer, im Gästezimmer. Mir war inzwischen etwas unheimlich, und ich rannte in all diese Räume, um die dort befindlichen Zeitmesser zu vergleichen. Ich fand es sehr merkwürdig, dass alle Chronographen meiner Wohnung – um ein anderes Wort für ‚Uhr‘ zu verwenden – zur selben Zeit stehengeblieben sein sollten – sogar die namhafter Hersteller.
Freilich hätte ich neben der Lösung des Rätsels gerne gewusst, wieviel Uhr es denn im Augenblick wirklich war, denn ich hatte Termine einzuhalten. Das Wetter, diese trübe Helligkeit da draußen, konnte keinen Aufschluss darüber geben. Wann stand ich denn gewöhnlicherweise auf? Zwischen sieben und acht, also war es mit etwas Glück noch früh. Allerdings pflege ich nach einer unruhigen Nacht am nächsten Morgen ohne Wecker länger zu schlafen. –
Eben dann läutete das Telefon. Verwandtschaft aus Süddeutschland, ältere Verwandtschaft, wollte genau das von mir wissen: Ob ich ihnen die Uhrzeit sagen könne? Sie entschuldigten sich vielmals für die dumme Frage, die eigentlich keines Anrufs wert sei. Aber neben allen anderen Uhren sei auch der von Braunschweig aus gesteuerte Funkwecker um viertel nach drei stehengeblieben, und die Zeitung habe man auch noch nicht ausgetragen.
Ich riet ihnen, sich nach dem Frühstück mit den Nachbarn zu verständigen und auch zum Rathaus oder zur Polizei zu gehen, denn diese Störung schien sich nicht auf das Taunusdorf zu beschränken, in dem ich wohnte, sondern sich auf einen beachtlichen Teil des Bundesgebietes auszudehnen.
Darauf rief ich einen Freund in Düsseldorf und einen früheren Kommilitonen in Tübingen an, welche mir dasselbe mysteriöse Problem beschrieben: Auch ihre Uhren, ob batteriebetrieben, digital, sonnen-, funkgesteuert, ja sogar die mit solidem handwerklichem Uhrwerk waren um 3:15 stehengeblieben.
Ich dachte mir etwas, was sich wohl in den Köpfen aller Bundesbürger von Schleswig bis nach Garmisch eingeschlichen hatte. Diesen einen gleichen Gedanken in allen deutschen Köpfen – gleich ob Ost, ob West – hatte es wohl seit 1990 nicht mehr gegeben, nachdem die erste Euphorie über die Wiedervereinigung verflogen war: „Ja, was nun?“
Wie sollte unsere mit so viel präziser und fortschrittlichster Technologie sorgfältig errichtete Welt funktionieren, wenn die Zeit stehenblieb? Wie der Journalismus, das Fernsehen, wie internationale Verhältnisse, wie der Tagesablauf? Sollte dieser letztere allein durch die menschlichen Urempfindungen Hunger und Schlaf bestimmt werden, und sich somit die Sehnsucht des modernen Menschen nach ursprünglicher, primitiver Natürlichkeit erfüllen? Einen Stromausfall, auch einen großen, kann man kurieren – aber die Zeit?
Ich für meinen Teil hatte auch nach dem bescheidenen Frühstück noch Hunger – wahrscheinlich äußerte sich die Unsicherheit, die Angst über diese ungewöhnliche Situation auf diese Weise. So beschloss ich, das Lebensmittelgeschäft an der Ecke Pionierweg-Landwehrallee aufzusuchen. In leichtem Nebel lagen die hohen Tannen der Straße, und ähnlich diesen waren meine Gedanken auch ziemlich schleierhaft, als ich den Bürgersteig entlanglief.