Lene Levi

Xiao Yang will es wissen


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betrachtete Xiao neugierig und skeptisch zugleich aus den Augenwinkeln. Diese Frau hatte irgendetwas Künstliches an sich. Sie wirkte völlig anders als Lin, was er nicht erwartet hatte. Xiao Yang schien tatsächlich wie aus einer anderen Welt entsprungen.

      „Bevor ich´s vergesse“, sagte sie plötzlich und zog hastig ein Smartphone aus der Seitentasche ihres Koffers. „Robert, würdest du bitte eine Aufnahme von uns machen?“ Sie hielt ihm das Handy entgegen, das in einer pinkfarbenen Plastikhülle steckte.

      „Aha … Made in China …“, sagte Robert lächelnd und nahm das Handy entgegen. „Na klar, ein Foto mach ich doch gern. Ist kein Problem.“

      Xiao schwang temperamentvoll ihren rechten Arm um Lins Schulter und schon grinsten beide Frauen wie zwei asiatische Winkekatzen in Richtung Kameraobjektiv. Noch bevor Robert den Auslöser betätigte, fiel ihm ein, was Lin vor einiger Zeit über ihre Cousine erzählt hatte. Xiao hatte vor etlichen Jahren an einer bekannten chinesischen Universität irgendwo in Guangdong studiert, und sie beherrschte die fünf wichtigsten europäischen Sprachen, und zwar fließend. Nach ihrem Studium hatte sie als Dolmetscherin bei einer Regierungsbehörde gearbeitet, bald darauf einen Funktionär der Kommunistischen Partei kennengelernt und geheiratet. Dieser Mann war offenbar in der Millionenmetropole so etwas wie ein hohes Tier. Allerdings war er vor zwei Jahren bei einem mysteriösen Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen. Sein Tod ließ Xiao zwar kinderlos auf dieser Welt zurück, aber ganz und gar nicht mittelos. Er hatte ihr ein lukratives Wohnhaus direkt im Stadtzentrum von Guangzhou zurückgelassen, das sie im vergangenen Herbst zu einem horrenden Preis verkaufen konnte. Mit diesem Geld leistete sie sich jetzt ein schönes und unbeschwertes Leben. Aber um diesen Luxus erst richtig genießen zu können, erfüllte sie sich zuerst ihren alten Wunschtraum, der beinahe schon zu einer fixen Idee geworden war: Sie wollte all jene Länder persönlich kennenlernen und bereisen, die sie nur von ihrem Sprachstudium her kannte, oder von jenen verheißungsvollen Werbeslogans der Reisebüros, die auch im jetzigen modernen China allgegenwärtig geworden waren. Robert drückte auf den Auslöser und knipste ein paar Fotos hintereinander. Xiao war eine reiche und attraktive Frau. Aber dass sie mit ihren kalten Habichtaugen ihn so stark beeindrucken würde, damit hatte er nicht gerechnet.

      Als Robert Xiao in den Mantel half, schwangen ihre langen, brünett gefärbten Haare ein wenig seitwärts über die Schulter, sodass er kurz ihre Nackenpartie sehen konnte. Von ihrem Haaransatz an abwärts, direkt an der Wirbelsäule entlang, erblickte er tätowierte chinesische Schriftzeichen, die ihre gebräunte Haut geheimnisvoll verzierten. Die tätowierte Schriftzeichenreihe verschwand unter dem Saum ihres Sommerkleids und blieb daher seinen Blicken verborgen, was auf ihn eine anziehende, erotische Wirkung ausübte. Aber er versuchte diese sofort zu ignorieren und warf stattdessen Lin einen schmunzelnden Blick zu. Lin war jedoch mit ihrer Cousine im Gespräch vertieft, sodass sich Robert weiter seinen Gedanken hingeben konnte. Lin hatte ihm auch erzählt, dass Xiao sich das Gesicht mithilfe eines schönheitschirurgischen Eingriffs hatte korrigieren lassen. Er betrachtete sie deshalb möglichst unauffällig, fand aber Xiao nicht besonders schön. Offenbar war es in China Mode, sich äußerlich zu europäisieren. Schönheitskorrekturen waren auch an ihren Augenlidern und an der Formgebung ihrer Nasenflügel deutlich sichtbar. Aber Robert meinte auch, Faltenkorrekturen auf ihren Lippen- und Wangenpartien zu erkennen. Botox war für Xiao sicherlich kein Fremdwort. Er schätzte sie auf vielleicht Anfang bis Mitte dreißig, aber so, wie sie vor ihnen stand, konnte man sie auch leicht für fünfundzwanzig oder sogar für noch jünger halten.

      Eine eindringliche Stimme riss ihn plötzlich aus seinen Gedanken. Lin stand neben ihm und sprach auf ihn ein: „Sag mal, Robert, hörst du mir überhaupt zu?“

      „Entschuldige bitte“, stammelte er, „ich war nicht ganz bei …“

      „Das ist wieder mal typisch“, wandte sich Lin an ihre Cousine. „Du musst nämlich wissen, er ist Kriminalkommissar. Ständig ist er in Gedanken mit irgendwelchen Verbrechen beschäftigt.“

      „Ach, das ist ja fabelhaft“, sagte Xiao erstaunt, „dann muss ich mir gar keine Sorgen wegen eines möglichen Überfalls machen. Gibt es hier in Deutschland auch so viele Handtaschendiebe?“

      „Wo ist eigentlich dein Gepäck?“, fragte Lin ganz unvermittelt. „Wir müssen dringend zur Gepäckausgabe.“

      „Nein, müssen wir nicht“, sagte Xiao ruhig lächelnd. „Ich habe veranlasst, dass es direkt vom Flughafen in mein Hotel befördert wird.“

      „In was für ein Hotel?“, fragte Lin entsetzt. „Ich war … ich meine, wir waren der Meinung, dass du bei uns wohnst. Zumindest bis nach Weihnachten.“

      „Ich habe doch über mein Reisebüro ein 5 Sterne Hotel gebucht.“

      „Ein 5 Sterne Hotel?“, fragte Robert verwundert. „So was gibt´s in ganz Oldenburg nicht. Hoffentlich hat sich da dein Reisebüro nicht geirrt.“

      „Wer spricht denn von Oldenburg? Dieses Provinznest interessiert mich nicht. Ich habe mich doch vor Reiseantritt genau erkundigt, in dem Dorf gibt es nicht mal eine Spielbank.“

      „Und wo soll das Hotel sein?“, fragte Lin.

      „Irgendwo am Meer“, sagte Xiao. Sie faltete ein Papier auseinander, auf dem der Name des Hotels notiert war. „Ich muss zum Casino Royal Hotel nach Bad Zwischenahn.“

      Lin und Robert warfen sich erst gegenseitig einen fragenden Blick zu, und dann brachen sie gemeinsam in Gelächter aus. „So, so, am Meer“, prustete es aus Lin heraus. „Dieses Meer ist nichts anderes als ein kleiner Binnensee.“

      „Und wenn schon“, verteidigte sich Xiao. „Das Hotel verfügt aber über ein abwechslungsreiches Angebot.“

      „Ja, ich weiß“, sagte Robert, „Roulette, Black Jack und Poker, das volle Programm. - Aber könnten wir endlich von hier verschwinden? Wenn wir noch lange hier herumstehen, fängt sich deine Cousine noch eine Erkältung ein.“

      „Vergiss aber bitte nicht“, sagte Lin zu Xiao, „morgen ist Weihnachten. Wir feiern gemeinsam bei meinen Eltern.“

      Als sie den Parkplatz erreichten, lächelte Robert zum wolkenverhangenen Himmel hinauf. „Mitte bis Ende Dezember ist die beste Zeit, die es in Norddeutschland gibt. Wenn du erst mal zwei Wochen hier bist, willst du wahrscheinlich nie wieder nach China zurück.“

      „Das bezweifle ich“, sagte Xiao. „Es sei denn, ich finde, wonach ich suche.“

      Lin startete den Motor ihres Wagens und rollte dann langsam vom Parkplatz.

      „Und wonach suchst du?“, fragte Robert.

      „Nach einem Millionär“, antworte Xiao kurz und knapp.

      „Nach einem Millionär?“, versicherte sich Lin, da sie glaubte, sich verhört zu haben.

      Xiao ist sicher nicht von dieser Sorte, dachte Robert, aber sie ist auch nicht unbedingt mein Fall.

      Lin fuhr im gemäßigten Tempo über die A28 in Richtung Oldenburg. Sie hatte die Klimaanlage voll aufgedreht, denn auf den Innenseiten der Scheiben hatte sich sofort Kondensat niedergeschlagen und erschwerte zusätzlich die Sicht auf die Fahrbahn.

      Xiao fragte fröstelnd: „Ist jetzt bei euch Regenzeit?“

      „So kann man es auch nennen“, brummte Robert.

      „Bei mir zu Hause ist es warm und immer grün. Guangzhou liegt in einer subtropischen Zone.“

      „Aha, in einer subtropischen Zone“, grummelte Lin. „Tut mir leid, aber damit können wir im Moment noch nicht aufwarten. Subtropische Verhältnisse sind bislang im Nordwesten noch nicht zu erwarten. Aber der fortschreitende Klimawandel hat ja gerade erst begonnen.“

      Ihre Stimme hatte einen leicht aggressiven Unterton und klang seltsam streitlustig. Vermutlich hatte sie sich ihre Cousine völlig anders vorgestellt. Lin hielt Xiao wahrscheinlich für oberflächlich. Anders konnte sich Robert ihre Abwehrhaltung nicht erklären.

      Die Scheibenwischer schlugen im Takt und warfen die matschigen Schneeflocken