Lene Levi

Xiao Yang will es wissen


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s noch bis zum Hotel?“, fragte sie Lin.

      „Ungefähr eine dreiviertel Stunde. Wir machen aber zuerst noch einen Abstecher in das, wie du es nennst, ‚Provinznest‘ Oldenburg. Ich habe meiner Mutter nämlich versprochen, ihr bei den Weihnachtsvorbereitungen zu helfen. Robert wird dich gleich im Anschluss weiter bis nach Bad Zwischenahn fahren.“

      „Okay“, sagte Xiao, „wenn´s dir nichts ausmacht.“

      Lin schwieg die restliche Fahrtzeit. Sie war offenbar sauer auf ihre Cousine, oder zumindest enttäuscht, da Xiao nicht ihren Erwartungen entsprach.

      2

      Nach einer knappen Stunde hatten sie Bad Zwischenahn erreicht. Das Casino Royal war erst vor einem halben Jahr eröffnet worden, hatte sich aber bereits in dieser kurzen Zeit das Ansehen erworben, das luxuriöseste und teuerste Hotel am ganzen Zwischenahner Meer zu sein. Es war ein großer, weiträumiger Neubau, teils Hotel, teils Spielcasino - alles aus Beton, Glas und Stahl. Robert war noch nie im Inneren des Hauses gewesen, obwohl er schon mehrmals durch den dazugehörigen, weitläufig angelegten Rhododendronpark spaziert war. Es war sicher ein idealer Ort für Spielsüchtige, für Glücksucher aller Art, für frisch verheiratete oder für unverheiratete Paare, die sich hier amüsieren wollten. Für Roberts Geschmack boten sich aber nicht sehr viele Möglichkeiten für sonstige kulturelle Unternehmungen. Es war aber sicher auch nicht der ideale Ort für ein Gewaltverbrechen.

      „Würdest du heute mit mir noch zu Abend essen?“, fragte Xiao, als er sie durch die Glastür in das Foyer begleitete. Irgendwie schaffte sie es, ihren Wunsch wie einen Befehl klingen zu lassen, dachte Robert.

      „Xiao, ich muss vom Gehalt eines Polizeibeamten leben.“

      „Immerhin vom Gehalt eines Kriminalhauptkommissars“, konterte sie geschickt. Dann aber senkte sie ihre Stimme: „Ich möchte aber heute Abend nicht ganz allein sein. Der erste Abend an einem fremden Ort könnte ein bisschen eintönig werden, wenn ich nicht gleich ein paar Millionäre kennenlerne.“

      Ein flüchtiges Grinsen huschte über seine Lippen. Robert glaubte nun doch daran, dass sie hergekommen war, um tatsächlich solche Leute kennenzulernen, und vielleicht durfte er ihr deshalb nicht einmal Vorwürfe machen. Wenn sie solche Absichten hatte, dann war das Casino Royal auf jeden Fall der richtige Ort.

      „Tut mir leid, daraus wird nichts, war ein anstrengender Tag“, antwortete Robert ausweichend.

      Der Empfangschef trat auf sie zu. „Herzlich willkommen in unserem Haus, verehrte Dame.“

      Robert, der einen abgewetzten grünen Parka trug und sich mit seinen ausgebeulten Cordhosen etwas deplatziert vorkam, spürte, wie der Blick des Angestellten ihn leicht abfällig abscannte, bevor er sich wieder dem neu angekommenen Hotelgast zuwandte. „Ihr Gepäck ist bereits eingetroffen. Es befindet sich schon in ihrer Suite. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise?“

      Das hätte ich nun doch nicht für möglich gehalten, dachte Robert. Immerhin, der Service scheint zu funktionieren. „Dann ist ja alles gut.“

      Um sich endgültig von ihr zu verabschieden, gab er ihr einen angedeuteten Kuss auf die Wange, der auf seinen Lippen einen unangenehmen Nachgeschmack zurückließ. Vermutlich lag es an dem synthetischen Parfum, das Xiao benutzte. „Wir sehen uns ja morgen bei deinen Verwandten. Ruf mich einfach an, falls du irgendwas brauchst.“ Er steckte ihr seine Visitenkarte zu und verschwand.

      3

      Hong Quan und seine Frau Lee lebten bereits schon über drei Jahrzehnten in Niedersachsen. Sie betrieben einen kleinen aber feinen China-Imbiss im Oldenburger Stadtteil Nadorst, der sich allerdings im Laufe der Jahre zu einem beliebten China Restaurant entwickelt hatte.

      Lins Vater war ein kleiner, untersetzter, aber durchaus stämmiger Mann, dessen Kopfform irgendwie an eine Bowlingkugel erinnerte, in die zwei kleine Sehschlitze eingeritzt waren. Er kniff seine Augenlider immer so fest zusammen, dass man nie genau wusste, wen er gerade fixierte. Hong hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Ai Weiwei, dessen Porträtfoto an einer Wand des Kanton Express hing. Es zeigte den chinesischen Künstler mit ausgebreiteten Händen, auf denen Sonnenblumensamen zu sehen waren, die er dem Bildbetrachter entgegenstreckte. Ein symbolisch und emotional stark aufgeladenes Foto, das Hong gewiss nicht ohne Hintergedanken in seinem Lokal an exponierter Stelle platziert hatte.

      Als Küchenchef trug er fast immer eine kleinkarierte Cargohose, darüber ein knallrotes XXL-T-Shirt und auf dem Kopf ein Pepita-Hütchen, unter dessen Krempe ein nach allen Seiten abstehender Igelhaarschnitt hervor lugte. Seine Stimme strahlte Gelassenheit und Gutmütigkeit aus. Sie konnte aber genauso gut und unerwartet vor Schalkhaftigkeit aufblitzen, wenn er froh gelaunt war. Das war er vor allem dann, wenn er in seiner Küche ungestört arbeiten konnte. Seine Frau Lee überragte ihn um mindestens zwei Kopflängen. Obwohl sie bereits die Sechzig überschritten hatte, war sie noch immer eine attraktive und beeindruckende Erscheinung. Lin hatte genau die gleichen dunklen, tief liegenden Augen und pechschwarzen Haare wie ihre Mutter. Sie ähnelten sich auch sonst in ihren auffälligsten Charaktereigenschaften, vor allem aber im Temperament. Es war ganz offensichtlich: Tochter Lin kam eindeutig nach ihrer Mutter.

      Über Nacht hatte es einen Temperatursturz gegeben. Aus dem trüben Schmuddelwetter des Vortages war ein klarer und sonniger Weihnachtstag geworden.

      Als Xiao aus dem Taxi stieg, war sie in einen teuren Pelzmantel gehüllt, den sie sich in einem der noblen Hotelshops gekauft hatte.

      Lee nahm ihre Nichte in die Arme und drückte sie fest an sich.

      „Was für eine Freude dich zu sehen. Das letzte Mal, als ich dich in den Armen hielt, warst du noch ein Baby.“

      „Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern.“

      „Ist ja auch schon über dreißig Jahre her“, sagte Lee lächelnd. „Lass dich anschauen.“ Sie trat einen Schritt zurück. „Mein Gott, aus dir ist ja eine richtige Märchenprinzessin geworden. Deiner Mutter siehst du aber nicht gerade ähnlich.“

      „Du siehst aber auch wirklich toll aus, Tante Lee. Velvet steht dir ganz ausgezeichnet.“ Xiao bewunderte das traditionelle Collar Cheongsam Kleid ihrer Tante, das sie sich extra für dieses weihnachtliche Familientreffen gekauft hatte und heute - am 24. Dezember - zum ersten Mal trug.

      Lin klopfte sich den Schneematsch von den Stiefelsohlen, der sich zwischen den Profilrillen festgesetzt hatte. „Wollen wir nicht reingehen?“

      „Wo steckt eigentlich dein Vater und wo bleibt Robert?“, fragte Lee.

      „Die kommen gleich, müssen nur noch kurz was erledigen“, sagte Lin. Sie öffnete die Restauranttür und trat ein. Xiao und Lee folgten ihr.

      „Ich soll dir und Onkel Hong natürlich auch von meinen Eltern die herzlichsten Grüße ausrichten“, sagte Xiao. „Es geht ihnen beiden gut.“

      „Oh, vielen Dank“, sagte Lee höflich.

      In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Gastraum und Hong Quan steckte vorsichtig seinen runden Kopf durch den Türspalt. „Na, das ist ja eine Überraschung“, sagte er zu Xiao. „Ich wusste gar nicht, dass es in China solche gut aussehenden Mädchen gibt.“ Er zog an einer Leine einen großen Hund hinter sich her. Kurz darauf folgte auch Robert.

      „Bist du nun auf den Hund gekommen?“, fragte Lee lächelnd.

      „Könnte man so sagen“, antworte Hong grinsend. „Das ist unser Weihnachtsgeschenk von Robert und Lin.“

      Lee zuckte leicht zusammen. Sie konnte ihren Schreck nicht ganz verbergen und rang mit sich. Wim kratzte sich unterdessen mit der linken Hinterpfote am Halsband, da er es auf diese Weise abzustreifen versuchte.

      „Weißt du, Mama“, begann Lin, zaghaft zu erklären. „Wim ist ein belgischer Schäferhund und so was wie ein Findelkind. Robert und ich haben