Stefan Raile

Rückkehr nach Strapen


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      „Dir auch“, meinte Klaus Bahle, der einen bunten Schlips trug. „Dir sogar besonders. Du hast nämlich solch frechen Blick, und den mag man hier gar nicht.“

      Peter Müller, der sich etwas abseits hielt, langte eine flache Plastikflasche aus der Innentasche seines Sakkos, öffnete sie und trank.

      So ein Schlawiner, dachte ich. Der hat vorgesorgt. Auch Dudky sah zu ihm. „Der pichelt einem was vor, während uns die Kehle ausdörrt“, rief er und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. „He, Kumpel, lass ‘nen Tropfen übrig!“

      „Zu spät“, bedauerte Müller und hielt die Flasche mit der Öffnung nach unten. Sie war leer.

      „Geizkragen“, knurrte Zindel. Doch Bahle fügte hinzu: „Nicht mosern, Männer. War sowieso bloß laue Plörre.“

      Müller schraubte die Flasche zu und schob sie unter sein Jackett. Es bauschte kein bisschen. Auch später fiel uns nie etwas an seiner Uniform auf. Mir bemerkten nur, dass er sich während der Pausen auf dem Taktikgelände oft absonderte. Einmal schlich Dudky ihm nach und kehrte aufgeregt zurück. „Wisst ihr, was er treibt?“

      „Er wird pinkeln“, vermutete Werner Kambert, den ich aus unsrer Gruppe am wenigsten mochte.

      „Falsch getippt, Leute. Er schlabbert sich den Wanst voll!“

      „So einer“, mokierte sich Bahle. „Wir darben, und der macht Fettlebe. Das vermasseln wir ihm!“

      „Wozu?“, fragte ich.

      Sie fanden heraus, dass sich Müller im Vorraum aus einem Getränkekübel Malzkaffee einfüllte. Eines Mittags streuten sie zwei Tüten Salz hinein. Als wir nach mehreren Sturmangriffen pausierten, schlenderte er wieder beiseite. Dudky und Zindel folgten ihm. Sie kamen übermütig zurück. Der Beobachtete setzte sich abseits, rupfte einen Grashalm aus und kaute daran.

      „Einen Durst hab ich, Männer“, rief Bahle so laut, dass es die Rekruten, die in der Nähe rasteten, hören sollten. „Jetzt ‘nen Kaffee mit wenig Zucker …“

      Müller blickte von einem zum andern. Dudky grinste auffällig. Am Abend verging es ihm. Da griff er im Dunkeln von seinem Bett unters Sturmgepäck, wo er immer etwas zum Naschen verbarg. Ich hörte, wie Papier knisterte. Gleich darauf begann Dudky zu husten, und dann schimpfte er: „So ‘ne Gemeinheit. Mostrich in der Schokolade! Welcher Hornochse war das?“

      „Vielleicht ein Racheengel“, vermutete ich.

      „Und nicht ohne Grund“, ergänzte Müller. „Streithammel brauchen ab und zu einen Dämpfer!“

      Der Mann mit der Hornbrille rauchte jetzt. Viele hockten auf ihren Koffern. Sigi hatte sein Gepäck nicht mal abgesetzt. Es lastete noch auf der rechten Schulter, bloß die linke Hüfte knickte er unmerklich ein.

      „Mann, hast du Kraft“, staunte ich.

      „Halb so schlimm“, wehrte er ab.

      „Macht dir die Wärme gar nichts aus?“

      „Nein“, erwiderte er. „Wo ich gearbeitet hab, ist die Hitze größer. Da gewöhnt man sich dran.“

      „Bist wohl Stahlschmelzer?“

      „Nein, Glasbläser.“

      Nun glaubte ich ihm. Als Schüler hatten wir mal eine Glashütte besichtigt. Dort war es schwül und stickig gewesen; doch nicht viel schlimmer als hier, fand ich. Die Sonne glühte und streute Glast übers Land. Kein Windhauch regte sich. Schlaff hingen die Blätter an den Pappelzweigen.

      Unser Begleiter sah auf seine Uhr. „Achtung!“, rief er. „In Reihe zu drei Gliedern angetreten! Marsch!“

      „Immer mit der Ruhe“, verlangte einer. Und Kambert maulte: „Feine Manieren sind das: Uns scheucht man durch die Gegend, und der Genosse Offizier lässt sich über die Landstraße kutschen.“

      „Keine Lügen!“, rief jemand. „Erst vergewissern, bevor man was behauptet.“

      Ich blickte mich um. Hinter mir stand Leutnant Mergelt, das Gesicht ein wenig gerötet. Er hatte den Gefreiten zur Kaserne fahren lassen und war uns gefolgt. „Vorgesetzte gehören zur Truppe“, erklärte er. „Das ist bei uns so üblich.“

      Sigi lächelte. „Löblich, löblich“, sagte er und rückte seinen Koffer auf der Schulter zurecht.

      2

      Ich bleibe stehen und schaue zurück. Weit unten schimmert die Elbe zwischen schmalen Uferwiesen. Teilweise verdecken Pappeln die Sicht. Sie haben kräftige Stämme und dichte Kronen. Sechzehn Jahre sind eine kleine Ewigkeit. Da verändert sich viel. Ob sich nachvollziehen lässt, was seinerzeit geschah?, frage ich mich erneut. Wichtiges hat sich mit Belanglosem vermischt. Man muss auswählen, das Bedeutsame herausfiltern. Und wenn es misslingt?

      „Schreib über damals“, hatte Sigi nach der Lesung aus meinem Debüt-Roman „Semester für Jürgen“ in seinem Grenzkommando unweit von Görlitz gesagt. Wir saßen bei ihm. Seine Frau Marianne hatte sich schon zum Schlafen zurückgezogen. Es war weit nach Mitternacht. „Schreib drüber“, wiederholte er. „Zeig, wie wichtig es für uns war: eine Etappe, ohne die wir nicht geworden wären, was wir heute sind. Du nicht, ich nicht, keiner von uns.“

      „Ich hab‘s bereits versucht“, entgegnete ich. „Über hundert Seiten sind mit Notizen gefüllt. Aber der Stoff widersetzt sich. Ich spüre, dass etwas fehlt: eine zentrale Idee, in der alles zusammenfließt.“

      „Diesmal schaffst du‘s“, meinte Sigi. „Du musst es schaffen!“

      Immer noch blicke ich ins Tal. Ein Elbdampfer nähert sich. Er wühlt das Wasser auf. Die Gischt leuchtet wie Schnee. Kurze Zeit dümpelt das Schiff, dann legt es an. Passagiere steigen aus, gehen über den Landesteg und betreten das Bahnhofsrestaurant.

      Wir waren im ersten Gruppenausgang dort. Doblin, unser Unteroffizier, führte uns hin. Eine Kapelle spielte laut und fast ohne Pausen. Die anderen tanzten. Nur Sigi und ich blieben am Tisch.

      „Warum tanzt du nicht?“, fragte ich.

      „Wegen Regina“, erwiderte er.

      „Deine Freundin?“

      „Ja.“

      „Und sie hält es genauso?“

      „Ich hoffe es.“

      „Na denn“, sagte ich und hob mein Bierglas. „Selig, wer glaubt.“

      Er trank ebenfalls. „Und du?“, forschte er. „Was ist‘s bei dir?“

      „Auch ein Mädchen“, erklärte ich. „Aber die Gründe liegen anders.“

      Ich meinte Gudrun. Am vierten oder fünften Tag, den ich auf der Baustelle arbeitete, war ich ihr in der Kantine begegnet. Sie stand ein Stück vor mir in der Reihe. Ihr flachsblondes, sehr kurzes Haar fiel mir auf. Ich beobachtete, wohin sie sich setzte. Neben ihr war noch ein Platz frei. Sie stocherte im Essen. Die Kartoffeln rührte sie kaum an, vom Quark kostete sie ein bisschen, dann schob sie den Teller weg.

      „Schmeckt‘s nicht?“, fragte ich.

      „Nein“, erwiderte sie. „Dir etwa?“

      „Der Hunger treibt‘s rein.“

      „Dann bist du nichts Gutes gewöhnt.“

      „Hast du was Besseres?“

      „Das nicht“, sagte sie. „Aber ich weiß ‘ne prima Küche.“

      „Wo?“

      „In der ‚Taverne‘.“

      Es handelte sich um ein verräuchertes Lokal im nächsten Dorf. Das Essen war vorzüglich. Ebenso das Bier. Und noch mehr der Wein. Wir blieben bis zuletzt. An der Haltestelle warteten wir lange, doch es kam kein Bus.