Stefan Raile

Rückkehr nach Strapen


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schritt er durch den Gang zwischen den Tischreihen und blieb neben Gruneck stehen. „Nimm es wieder mit“, sagte er. „Es soll, wie man hört, ein begehrtes Hökerobjekt sein.“

      Heino schluckte und starrte betreten vor sich hin. Seine Hände lagen reglos auf der Tischplatte, aber mit einem Mal bewegten sie sich, griffen nach dem Heft und zerrissen es. Ob er aufhörte, Schwarten zu lesen, ist ungewiss. Zumindest brachte er keine mehr mit. Der Vorfall blieb ohne Nachspiel. Pecina behielt ihn für sich. Heino schummelte sich über die Schuljahre und bestand mit Ach und Krach das Abitur. Da war ich schon nicht mehr dort. Vielleicht hast du zu schnell gepasst, dachte ich später manchmal. Doch wer erträgt schon, wenn wieder und wieder Dankbarkeit gefordert wird? „Du weißt, Ronny“, sagte Mutter oft, „uns fällt‘s schwerer als anderen. Wir haben‘s nicht so üppig wie Drogist Gruneck, und dein bisschen Stipendium passt in einen Fingerhut. Denk nicht, dass ich klagen möchte. Wir schränken uns gern ein. Schließich sollst du‘s weiterbringen als unsereins. Darum merk dir: Was du im Kopf hast, kann dir niemand wegnehmen. Pauke, soviel du kannst, Junge. Das Übrige braucht dich nicht zu kümmern. Wir stehen‘s schon durch. Nur eins verlangen wir: Bereite uns keine Schande!“

      Sollst du das vier Jahre schlucken?, dachte ich. Andre könnten es vielleicht. Du nicht. Lieber gehst du arbeiten und verdienst Geld.

      Als Pecina von meinem Entschluss erfuhr, nahm er mich beiseite. „Mach keinen Quatsch!“, beschwor er mich. „Deine Mutter meint es bestimmt nicht so. Und wenn schon! Kannst es ihr ja später auf Heller und Pfennig zurückzahlen!“

      Er redete lange mit mir; doch es gelang ihm nicht, mich umzustimmen.

      An dem Tag, da ich den Betrieb verließ, schickte ich meine Sachen im Koffer nach Hause. Auf die Begleitkarte schrieb ich „bahnlagernd“. Dann ging ich zu einer Ausfallstraße und lehnte mich an einen Baum. Sobald ein Auto in der Kurve auftauchte, trat ich zwei, drei Schritte vor, hob die rechte Hand und ließ sie pendeln. Erst der fünfte oder sechste Wagen hielt. Der Fahrer, ein schlanker Mann mittleren Alters, öffnete die Tür einen Spalt und fragte: „Wohin?“

      „Egal“, sagte ich.

      Er kniff die Lider zusammen und musterte mich. Dann stieß er die Tür weiter auf. „Steig ein!“

      Zunächst schwiegen wir. Manchmal blickte er zu mir. Ich bemerkte es, starrte aber weiter durch die Frontscheibe.

      „Siehst miesepetrig aus“, stellte er schließlich fest. „Hast wohl den Kanal voll?“

      „Gestrichen voll!“, bestätigte ich.

      „Und nun willst du was Verrücktes anstellen?“

      „Vielleicht.“

      „Aha“, sagte er, „nur vielleicht. Demnach gehörst du zu den unentschlossenen Typen. Möglicherweise fehlt noch ein bisschen Alkohol.“

      „Ich trinke nicht“, erwiderte ich, „nicht bei so was.“

      „Nein?“, wunderte er sich. „Dann bist du ‘ne Ausnahme. Die meisten begehen ihre Verrücktheiten, wenn sie zu viel Promille im Blut haben. In Saßnitz hab ich mal erlebt, wie einige Seeleute ihre Heuer in Scherben ummünzten. Offensichtlich kriegten sie ihr Geld durch die Sauferei nicht klein, deshalb knallten sie ihre leeren Sektgläser an die Wand. Total übergeschnappt, die Kerle. Dabei waren sie noch harmlos. Niemand erlitt Schaden, bloß die Geldbeutel bekamen die Schrumpfsucht. Wenn ich da an das denke, was sich in südlichen Gefilden abspielt … In Sao Paulo, heißt es, werden zu Silvester immer etliche ermurkst. Schrecklich, solche Exzesse! Hätte ich was zu sagen, ich würde die Prohibition verhängen!“

      „Sie sind ja ein ganz Radikaler. Meinen Sie, das wäre eine Lösung?“

      „Gewiss“, behauptete er. „Hunde die beißen, kriegen einen Maulkorb umgehängt.“

      Der Vergleich hinkte, Versuche in etlichen Ländern belegten es. In Finnland, Norwegen und in den USA hatte es nach dem Ersten Weltkrieg ein Alkoholverbot gegeben. Getrunken wurde dennoch.

      Verbote helfen nicht immer. Ich wusste es aus Erfahrung, und auch meine Mutter musste es mit der Zeit einsehen.

      „Der Junge ist kein Umgang für dich“, bestimmte sie an dem Tag, als ich Fredi für eine Stunde in unsre Wohnung mitgenommen hatte, um mit ihm Mathematik zu üben. Er trug eine schäbige Jacke mit viel zu kurzen Ärmeln, eine mehrfach geflickte Hose aus Planenstoff und derbe graue Wollsocken, die größtenteils in plumpen Holzpantinen verschwanden.

      In diesem Aufzug hatte ich ihn eine Woche vorher kennengelernt. Menzel, unser Klassenlehrer, brachte ihn morgens mit. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und stellte ihn vor: „Das ist Manfred Veyrich. Er ist Umsiedler und stammt aus Schlesien. Durch den Krieg hat er viel Unterricht versäumt. Er wird es schwer haben, deshalb möchte ich, dass ihr ihm helft.“ Sein Blick fiel auf den freien Platz neben mir. „Setz dich zu Ronald“, ordnete er an, „dort bist du gut aufgehoben.“

      Fredi stakste durch den schmalen Gang zwischen Wand und Bankreihe, hängte seinen Ranzen an den Haken und zwängte sich auf den unbequemen Sitz.

      In der Pause rief mich Menzel nach vorn. „Wir haben für Manfred kein Mathematikbuch“, sagte er. „Ihr wohnt doch nicht weit voneinander. Würdest du ihm deins für die Hausaufgaben leihen?“

      „Mach ich.“

      In der Hofpause wich Fredi nicht von meiner Seite. Während ich eine Schnitte verzehrte, schritt er neben mir her, seine Hände tief in die Hosentaschen geschoben.

      „Hast du kein Frühstück mit?“, fragte ich.

      „Nein.“

      „Aber hungrig bist du?“

      Er druckste eine Weile, gestand schließlich: „Bisschen.“

      Da reichte ich ihm mein letztes Brot. „Nimm nur“, drängte ich ihn. „Ich bin schon satt.“

      Er zögerte, ehe er zulangte und hastig zu essen begann. So erlebte ich ihn noch oft, er war immer hungrig, und das wunderte mich nicht; denn er hatte acht Geschwister.

      Seit dem Verbot meiner Mutter brachte ich ihn nicht mehr mit nach Hause, aber ich ging regelmäßig zu ihm, und manchmal war ich auch dort, wenn Abendbrot gegessen wurde. Die Familie saß dann um einen großen Tisch, auf dem ein riesiger Topf stand. Daraus schöpfte die Mutter für jeden in den Teller, meist Kartoffelsuppe. Die verhärmte Frau teilte gerecht, und alle begannen gleichzeitig zu löffeln, schnell und trotzdem irgendwie andächtig, vielleicht deshalb, weil niemand sprach, und zuletzt kam für jeweils ein Kind der Höhepunkt: Da durfte nach strenger Folge der Topf ausgekratzt werden, was unter den Blicken der Übrigen mit beträchtlicher Hingabe geschah.

      Später, als ich bei der Familie schon heimisch war, wurde ich öfter zum Mitessen aufgefordert. „Wo elf satt werden“, sagte Fredis Mutter, „werden ‘s auch zwölf.“

      Im Sommer gingen die Geschwister Ähren lesen und im Herbst Kartoffeln stoppeln. Ich begleitete sie häufig, obgleich meine Mutter dagegen war. „Ronny“, sagte sie, „hast du‘s nötig, dir den Rucksack auf ‘n Buckel zu hängen und wie ein Habenichts durch die Gegend zu streunen?“

      Meist schwieg mein Vater, wenn sie so mit mir redete. Aber diesmal wurde es ihm zu viel. „Lass ihn“, verlangte er. „Der Junge nimmt keinen Schaden dabei.“

      Wir standen mit Hunderten am Feldrand und warteten, bis die Bauern ihre Äcker verließen. Dann buddelten wir wegen ein paar Kartoffeln bis zur Dämmerung in der Erde.

      Eines Nachmittags entdeckten wir in Waldnähe eine frisch aufgebrochene, erst grob abgelesene Fläche. Weit und breit war niemand zu sehen.

      „Los“, sagte Fredi, „die Gelegenheit ist günstig.“

      Wir rannten aufs Feld, öffneten unsre Rucksäcke und stopften Kartoffeln hinein. Den Hufschlag bemerkten wir zu spät. Hinter uns zügelte ein Bauer sein Pferd. Das Tier tänzelte und blähte die Nüstern. Neben ihm lauerte ein Schäferhund, der vom raschen Lauf hechelte. „Aufhören!“, befahl der Reiter. „Alles