Anne Daurer

Das Geheimnis von Möwenpelz


Скачать книгу

Straßen heimwärts raste, kam ihm der Tag gar nicht mehr so heiß vor.

      2. Was macht der da?

      Flip wischte den Schweiß von der Stirn und kauerte sich tiefer ins Gebüsch. Seit fast zwei Stunden lungerte er hier schon herum. Die Zweige kratzten. Seine Zunge klebte am Gaumen. Sein Magen knurrte. Was Patte wohl suchte? Das war doch nur ein dummes, altes Haus. Flips Vater hatte gesagt, dass es bald abgerissen würde. Mit hochgezogenen Augenbrauen hatte er betont, wie verwildert, verfallen und gefährlich alles sei. Er musste es wissen, denn er war Notar. Flip wusste zwar nicht, was ein Notar mit einem alten Haus zu tun hatte. Aber das war auch egal. Viel mehr interessierte ihn, warum Patte an dieser Mauer herumkroch. Und vorher sein Fahrrad sorgfältig im Gebüsch versteckte.

      Hätte er ihm folgen sollen? Nein, da drin gab es bestimmt Brennnesseln. Und Spinnen. Außerdem sollte es in dem Haus spuken. Flip schüttelte sich. Und überhaupt – wenn sein Vater sagte, dass es gefährlich sei, dann würde Flip sowieso nicht dorthin gehen. Nein, dachte er bei sich, wenn Papa das sagt, dann mache ich das nicht! Nein, er würde hier bleiben und warten, bis Patte zurückkam. So lange konnte das nicht mehr dauern. Dann würde er zu ihm rüberschlendern, so als käme er zufällig vorbei, und ganz lässig etwas sagen. „Hi, wie geht’s?“, zum Beispiel. Oder: „Na, du auch hier?“

      Und wenn Patte nicht zurück kam?

      Flip sah auf die Uhr. Eine halbe Stunde würde er noch warten. Wenn Patte dann nicht zurück war, würde er so lange an der Mauer entlanglaufen, bis er ihn finden würde. Und wäre endlich sein Freund.

      Auf der anderen Seite raschelte es. Patte! Seine Haare waren verstrubbelt, sein Shirt voller Flecken. Er hielt etwas in der Hand. Ein Buch? War er deswegen an dieser Mauer herumgekrochen? Hatte er dort ein Versteck?

      Als Patte ganz nah am Gebüsch vorbeiging, fiel Sonnenlicht auf das Buch. Durch die Blätter konnte Flip etwas Goldenes erkennen. Es sah aus wie eine Zeichnung. Irgendwas verschnörkeltes.

      Eigentlich hatte Flip etwas Witziges, Interessantes zu Patte sagen wollen. Doch jetzt kam es ihm dämlich vor, zufällig aus dem Gebüsch herauszukriechen. Stattdessen duckte er sich noch tiefer und beobachtete, wie Patte Gräser abschüttelte und seine Haare glattstrich. Einmal schaute er sich um, doch er schien Flip nicht zu sehen. Sorgfältig zurrte er das Buch auf dem Gepäckträger fest. Dann zog er sein Fahrrad aus dem Gebüsch, stieg auf und fuhr davon.

      3. Die Fremdkörper

      Peng! Die Tür flog ins Schloss. Patte warf die Kiste auf sein Bett und ließ sich daneben fallen. War ja klar, dass Mama meckerte. Er hatte es zwar bis genau sechzehn Uhr geschafft und Mama hatte zufrieden auf die Uhr geschaut, aber gleichzeitig hatte sie Meckergründe gefunden. Weil Patte sein Rad nicht ordentlich neben der Garage abstellte. Weil er seine Schuhe nicht ordentlich in den Schrank räumte. Weil sein T-Shirt nicht mehr ordentlich aussah. Es würde ihn nicht wundern, wenn sie eines Tages meckerte, weil seine Haare nicht ordentlich nach unten wuchsen. Das erinnerte ihn an den Friseurtermin morgen. Er seufzte und drehte sich auf die Seite. Das Ding aus dem Holzmann-Haus lag wie ein Fremdkörper auf seiner Bettdecke, roch nach altem Staub und schimmeligem Holz.

      „Patte an Fremdling: was machst Du hier?“ Er gab der Kiste einen Stoß. Sie rutschte nach unten und zog eine Dreckspur über den Bettbezug. Patte nahm sie in die Hand und schüttelte sie, drehte sie im Kreis, klopfte darauf, befühlte die Kanten, tastete den Boden ab.

      Irgendwas war seltsam.

      Er drehte sie noch einmal in den Händen. Da fiel es ihm auf: das Ding hatte einen Deckel, aber kein Schloss. Es war abgesperrt, ging aber nicht auf. Seltsam. Patte schnüffelte, als könne seine Nase einen geheimen Mechanismus ergründen. Er tastete alle Seiten ab. Wieder und wieder. Keine Frage: es gab kein Schloss. Diese Kiste hatte überhaupt nichts, womit man sie öffnen konnte. Sehr merkwürdig.

      Ob er so lange draufhacken sollte, bis sie zerbrach? Das wäre eine Möglichkeit, aber keine Lösung, würde sein Mathelehrer sagen. Außerdem könnte er sie dann nicht mehr benutzen. Und wer weiß, wozu man sie noch brauchen konnte. Patte öffnete den Kleiderschrank und stopfte die Kiste ganz nach unten, tief unter die Eishockeyklamotten, die er ganz sicher nie mehr tragen würde. Dort würde seine Mutter sie nicht finden. Er legte sich wieder aufs Bett und angelte auf dem Regalbrett nach seinem Buch.

      Harry Potter.

      Höchst spannend.

      Aber noch spannender war das Lesezeichen.

      Er öffnete das Buch wie in Zeitlupe. Ein Foto segelte auf seine Brust. Er legte die Hand darauf, zögerte kurz und drehte es ganz langsam um. Vierundzwanzig Gesichter lachten in die Kamera. Eines strahlte ganz besonders. Rote Locken. Ein blaues Haarband.

      Nina.

      Ihr Lachen fiel aus dem Papier heraus direkt auf Patte. Er fühlte, wie er rot wurde. Schnell legte er das Foto ins Buch zurück. Für einen kurzen Moment schlich ein Bild in seinen Kopf, wie er mit Nina in einem Baumhaus saß. Vielleicht in der Eiche an der Holzmann-Mauer. Am liebsten hätte er sofort drauflos gebaut. Doch er musste Mama beim Abendessen helfen. Lasagne. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

      Er stand auf und zog eine Schublade unter dem Bett hervor. Darin lag das Seil, das er vor zwei Wochen am Waldrand gefunden hatte. Es war lang und fest und genau richtig für Äste, Zweige und Baumhäuser.

      „Patrick?“ Mama rief nach ihm.

      Er warf das Seil zurück und schob die Schublade unters Bett.

      „Patrick?“ Ihre Schritte kamen näher.

      „Ja-ha!“

      „Wir fangen jetzt an. Thomas kommt um sechs.“ Jetzt stand sie vor der Zimmertür. Mist. Er hatte gehofft, der Typ würde absagen. Pattes Magen ballte sich zur Faust, als er die Tür öffnete.

      „Er bringt heute Jule mit.“

      „Jule?“ Cool! Der Typ hatte einen Hund! Immerhin etwas!

      „Seine Tochter. Sie ist in deinem Alter.“

      Patte starrte seine Mutter an, als hätte sie ihm vorgeschlagen, die Lasagne mit Wirsingpampe zu füllen. Ein Thomas war schon genug. Jetzt kam noch eine Jule dazu.

      Mama strich ihm über die Schulter. „Schau nicht so. Sie ist nett. Wirst schon sehen.“

      „Hat er einen Hund?“

      Mama sah überrascht aus. „Nein. Warum?“

      „Ach. Nur so.“

      Er drehte Mama den Rücken zu und sprang die Treppe hinunter. Vielleicht würde er die Lasagne versalzen. Vielleicht würde nach jedem Bissen rülpsen. Eines würde er nicht sein: nett.

      Auf dem Küchentisch lagen Tomaten wie Billardkugeln verstreut. Patte nahm eine ins Visier. Sein Finger war der Queue und der Spalt zwischen Ölflasche und Zwiebeln das Loch. Die Tomate schoss direkt auf die Flasche, die mit einem Knall umfiel. Ein Ölsee breitete sich auf dem Tisch aus und tröpfelte auf den Boden.

      „Patrick!“ Mama hielt ihm eine Küchenrolle hin.

      Er wischte im Öl herum und warf die zerknüllten Tücher im hohen Bogen in den Papierkorb. „Tor!“

      In der großen Pfanne brutzelten Zwiebeln und Hackfleisch. Pattes Magen knurrte.

      „Mama?“ Er öffnete die Packung Lasagneblätter und schüttete den Inhalt quer über den Tisch. Seine Mutter schien ihn nicht zu hören.

      „Mama?“

      „Hm?“

      „Sag mal … Thomas … kommt der jetzt öfter?“

      „Das weiß ich noch nicht, Patte. Ich denke aber schon.“ Sie schaltete die Herdplatte aus.

      „Und wann weißt du es?“

      „Demnächst. Bald. Wir kennen uns noch nicht