Denise Remisberger

Der vergrabene Lebensbaum


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unsere alten Zelte aus den Achtzigerjahren einem heutigen Sommergewitter wohl standhalten werden?“

      „Ach, bestimmt“, räkelte sich der Pfarrer.

      Nach einer Weile begaben sich die beiden wieder ins Wasser, schwammen ein Weilchen und wollten dann zu den anderen zurückgehen, als Bernadette erschrocken aufschrie und schimpfte: „Können Sie nicht aufpassen!“

      Der Rüpel, der mit vollem Karacho in sie hineingeschwommen war, schaute sie nur mit blutunterlaufenen leeren Augen an und nölte in Fistelstimme: „Blöde Schachtel.“ Dann katapultierte er sich aus dem Wasser und lief davon.

      „Ich fasse es nicht!“, sagte die arme Bernadette zu Sebastienne.

      „Den kenn ich“, erinnerte sich dieser.

      „Woher, um alles in der Welt?“

      „Der war mal in einer Beratung beim Blauen Kreuz. Auf Anraten seines Arztes, wie er im Warteraum erzählt hatte.“

      „Und wieso warst du da?“

      „Ich hab ein Gemeindemitglied dorthin begleitet. Hat sich nicht alleine hingetraut.“

      „Hat wohl nix genützt.“

      „Beim Gemeindemitglied?“

      „Nein. Beim Rüpel. Wie heisst der überhaupt?“

      „Pit Singer. Hat er auch allen erzählt. Wenn er nicht geheilt werden will, dann nützt es natürlich nichts, nein. Wollen ist wohl die Voraussetzung, um gesund zu werden.“

      „Ja. Wenn der nicht will, ist jede Bemühung von Seiten der therapierenden Fachperson nutzlos. Da rennst du gegen Windmühlen an. Ich war Psychologin.“

      10

      Die beiden Staatsanwälte hatten ganze Arbeit geleistet. Die auserkorenen Frauen auf den Wasser-Liegeplätzen waren eingewickelt und bereit, am nächsten Tag einen Ausflug nach Genf zu machen. Zusammen mit den beiden ach so wohl Situierten. Die weisse Weste. Ja. Aber auch nur die. Alles andere an denen war rabenschwarz. Nur, das wussten die beiden Eingelullten nicht. Noch nicht.

      11

      Das Gewitter war unaufhaltsam näher gekrochen, fühlte sich genau am Genfersee unheimlich wohl und entlud sich mit voller Pracht über all den Leuten und Dingen, die da auf der Erde unten weilten. Die lieblich diesige Abenddämmerung hatte sich verfinstert.

      „Wir müssen die Sachen reinholen“, rief Prior Hans-Peter den drei Frauen zu, die in der Küche am grossen Tisch hockten und Tee Rum becherten. Nach all den Strapazen des heutigen Tages mit den Alkoholkranken hatten sie es bitter nötig.

      „Welche Sachen?“, fragte Wanderpredigerin Rachilda.

      „Ich hab meine Uhr und zwei Bücher auf dem Gartentischlein liegengelassen.“

      „Du kannst nicht raus, Hans-Peter! Es hagelt!“, rief Selma dem Prior zu, der sich ein dünnes Schirmchen aus dem Ständer im Gang geschnappt hatte und auf die Gartenterrasse hinausstürmte. Als er wieder hereinkam, hielt er seine zerbrochene Uhr, zwei aufgeweichte Bücher und einen zerfetzten Schirm in den Händen, strahlte wie ein Maikäfer und schrie: „War das jetzt grossartig!“

      „Die Natur hat ihre Kräfte“, meinte Heidrun lakonisch.

      Auf dem Campingplatz waren sie alle irgendwo drunter oder in ihre Zelte oder Camper gesprungen. Pfarrer Jacques stand mit Pfarrer Sebastienne unter einem grossen Baum, der das Meiste, vor allem die Hagelkörner, abgefangen hatte und die sechs Gemeindemitglieder befanden sich alle in den Sanitäranlagen, beim Duschen, Wäsche Waschen oder auf der Toilette. Mehrere Zelte waren regelrecht aus den Angeln gehoben und weggeweht worden, unter anderen das Zweierzelt von Hans Heiden und Pit Singer.

      „Äh, wo ist denn unser Zelt?“, staunte Hans Heiden und wankte von einem Fuss auf den anderen.

      „Nein! Es ist weg!“, jammerte Pit Singer.

      „Gib mir mal die Taschenlampe“, sprach Andreas Hard ins Dunkel und Thomas Wyler meinte: „Hier“, und drückte sie ihm, bereits eingeschaltet, in die Hand.

      „Dort ist es“, zeigte Andreas auf ein anderes Stück Wiese, das er gerade beleuchtet hatte, und alle rannten zum flach darniederliegenden Tuch, wo sie auch mehrere Heringe, die sich aus dem Boden gelöst hatten, einsammeln mussten. Zurück auf dem ursprünglichen Platz, machten sie sich an die Arbeit. Ein paar wenige Heringe steckten noch im Erdreich. Unter Ächzen und Stöhnen und in recht trunkenem Zustand schoben Hans und Pit die Zeltstangen wieder ganz hinein, stellten das gute Stück dann erneut auf und befestigten das Ganze mit den Bodenankern, ordneten ihre durcheinander gewirbelten Sachen neu und schliefen dann sofort ein. Thomas und Andreas redeten noch eine Weile miteinander.

      „Gehst du morgen wieder hin?“, erkundigte sich Andreas.

      „Ja, ich zieh das durch“, antwortete Thomas.

      Dann schliefen auch sie ein.

      Wanderpredigerin Rachilda liess ihre Gedanken zur heutigen Gruppensitzung schweifen. Alle hatten eifrig erzählt, wo sie untergekommen waren. Lustigerweise alle am selben Ort, nämlich auf dem weiter vorne gelegenen Campingplatz, wo auch Hans-Peters Freund, Pfarrer Jacques, gerade weilte. Diesen Campingplatz würde sie genau inspizieren müssen, herausfinden, wie es allen so ging, dort im Freien.

      12

      Am Nachmittag des folgenden Tages, als es wieder warm und trocken war, suchte Prior Hans-Peter ein Uhrengeschäft am Quai du Mont-Blanc auf, um seine Tissot Special reparieren zu lassen. Eine Woche würde es dauern. Als er wieder aus dem Laden herauskam, wollte er ein bisschen durch Genf flanieren, auch ein bisschen zwischen den beiden Flüssen „Le Rhône“ und „L’ Arve“ seine Runde drehen. An der Place du Molard setzte er sich draussen ins Café du Centre und bestellte einen Mokka. Neben ihm am Tisch sassen zwei ältere Männer mit zwei jüngeren Frauen und sprachen Hochdeutsch miteinander, die beiden Herren erzählten von Zürich und Sankt Gallen, die beiden Damen von Salzburg.

      13

      Auf dem Campingplatz wurde es langsam Abend, Thomas Wyler war schon zurück aus seinem Kurs und lag, ausgestreckt auf einer Strohmatte, vor den beiden Zweierzelten, während seine drei Kumpane neben ihm hockten, heisse Zervelats assen und Feldschlösschen dazu tranken.

      Auch die beiden Staatsanwälte machten es sich bei Lachsbrötchen und Champagner vor ihrem Zelt an einem Klapptisch gemütlich, ihre beiden Auserwählten waren noch im Zentrum von Genf geblieben, zum Shoppen und Nachtessen.

      Wanderpredigerin Rachilda war umhergelaufen, hatte jede einzelne Nase auf dem Gelände erspäht und gesellte sich nun zu Pfarrer Jacques, der mit Pfarrer Sebastienne und dem „Club der Reiferen“, wie sich die sechs Gemeindemitglieder inzwischen nannten, vor ihren vier Behausungen am Klapptisch und auf der Liege sassen, um Hühnchensalat mit kühlem Rosé zu geniessen.

      „Rachilda! Ziehst du auf den Campingplatz um?“, grinste Jacques.

      „Nein, nein. Ich wollte nur gucken, wie unsere Trockenen untergekommen sind.“

      „Welche Trockenen?“, wollte Günter Prill wissen.

      „Ich, zwei Psychotherapeutinnen und Jacques‘ Freund, Prior Hans-Peter, halten ein Seminar ab. Nicht weit von hier. Für Alkoholkranke“, erklärte Rachilda.

      „Das mit dem Trocken-Sein ist schwierig“, meinte Günter und dachte an die Vergangenheit. „Wir hatten einen, der war auch Bauspengler, wie ich, der hatte es versucht, immer und immer wieder. Von der Flasche loszukommen, meine ich. Doch es ist ihm nicht gelungen. Eines Winters legte er sich in volltrunkenem Zustand auf eine einsame Parkbank und wachte nicht mehr auf. Einfach erfroren. Mitten in Zürich.“

      „Wie traurig“,