Wolfgang Fabian

HASSO - Legende von Mallorca


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und ihre Blicke streiften wie beiläufig die am Tisch sitzende ausgemergelte Gestalt. Sie verglich sie mit jener, die in ihrer Erinnerung haften geblieben war. Nein, der hier saß, war nicht der allen anderen überlegene Junge, der hier war nichts weiter als ein Häufchen Elend. Sie selbst war auch nicht gerade von vollweiblicher Statur, war mager wie ehedem und etwas linkisch, aber eben nicht halb verhungert.

      Hasso indes fühlte sich längst nicht mehr wie ein Häufchen Elend, schon gar nicht, nachdem er die Badewanne genutzt, sich rasiert – der Kapitän besaß einige Apparate samt Klingen – und auf Anraten des Hausherrn die inzwischen nachgewachsenen Haare komplett abrasiert hatte. »Ich erachte das als notwendig, mein Junge, gegen eventuellen Läusebefall. Die Haare wachsen dir wieder umso schöner nach, wenn mit diesem Ungeziefer nicht mehr zu rechnen ist. Mein Kopf wäre natürlich auch geschoren, wenn ich gewissermaßen von Haus aus nicht schon eine Glatze hätte. Hier haben wir keine Läuse, aber wenn man unterwegs ist und unter vielen Menschen, dann kann man sich schnell welche einfangen.«

       Hasso konnte dann glücklicherweise noch auf einen Stapel von Kleidungsstücken seines Gönners zurückgreifen, einschließlich eines Paares ausgemusterter Halbschuhe. Diese bekamen in seitlicher Höhe der großen Zehen einen Einschnitt, wegen der geringeren Breite zu Hassos Plattfüßen. Höhepunkt des Tages war das bescheidene, zeitgemäße Abendessen, für Hasso dennoch ein Festmahl. Friedlinde sah den Gast nun auch mit anderen Augen, fand ihn gar nicht mehr so übel. Hassos kahler Kopf störte sie nicht sonderlich, weil die Haare ja nachwuchsen, dafür gefielen ihr seine schwarzen, breiten Augenbrauen umso besser. Und dass von ihm ein ganz anderer Duft ausging als vor seiner Reinigung, empfand jeder im Hause als Annehmlichkeit. Insgesamt betrachtet war es gewiss Hassos Jugend zu verdanken, dass er seine Vergangenheit durchgestanden hatte. Wenngleich die britische Militärregierung einen Großteil der öffentlichen Gebäude und Schulen, teils stark beschädigt, aber gesichert, wiedereröffnen ließ und sich, pauschal gesagt, mit der Lebensmittelzuteilung um die Versorgung der Bevölkerung kümmerte, wurden Großstädter nie richtig satt. Das Hamstern über Land gehörte für Unzählige, in und auf Zügen, überwiegend aber zu Fuß oder auf dem Fahrrad, zu ihren notwendigen Tagesabläufen. Vieles spielte sich auf den Schwarzmärkten ab, obwohl sie verboten waren.

       Hasso war froh, schnell ein Dach über dem Kopf bekommen zu haben. Er wurde auch wieder in eine Oberschule delegiert, und er hoffte, hier dann auch die Reifeprüfung bestehen zu können. In seiner Klasse waren die Verhältnisse nicht mit denen in früheren Jahren vergleichbar. Jungs, die altersmäßig diese Klasse belegten, teilten sich den Raum mit weitaus älteren, zumeist kränklich aussehenden Schülern, die Gesichter hager und teils bläulich fleckig. Fast alle hatten Fronteinsätze oder Bombenterror überlebt. Der Krieg hatte diese jungen Menschen überwiegend psychisch gezeichnet; aber sie lebten. Wie viele ihrer Generation wohl kein Klassenzimmer oder eine Lehrlingswerkstatt mehr betreten konnten ...? Gedanken daran sprach niemand aus. Jedenfalls konnten die hier Überlebenden ihre Chance wahrnehmen, ihre Schulausbildung zu Ende zu bringen, was ihnen die Naziführung vereitelte. Nahm auch Hasso seine Chance wahr? Man sollte meinen, dass dies nach seinen Erlebnissen solch einer Frage nicht bedurfte. Aber es ging wieder einmal anders aus. Vormittags war Unterricht bei älteren, entnazifizierten Lehrern, nachmittags, bei schlechtem Wetter, war wildes Treiben in der Schule angesagt, wobei sich Hasso einmal mehr unangepasst hervortat. Trotz jahrelanger Flucht und wiederholter Todesängste schien er physisch wie psychisch keinen Schaden davongetragen zu haben. Wir wollen uns hier jedoch nicht in Einzelheiten verlieren und zu richten versuchen ... das tat dann die Schulleitung. Als die Abmahnungen der Lehrer aus alter, streng gesitteter Zeit anscheinend nichts bewirkten, fand sich Hasso als angeblich treibende Kraft für wildes Verhalten in den Klassenräumen auf der Straße wieder. Diese peinliche Angelegenheit war für ihn der Anlass, sich von seiner Gastfamilie, der er seinen Hinauswurf aus der Schule nicht verschwieg, zu verabschieden. Er wolle, sagte er zum Kapitän, zu seinem Vater nach Kleinmachnow bei Berlin ziehen. Des Vaters Adresse war ihm schon seit Langem bekannt, sie war im Ordnungsamt verzeichnet. Hasso hatte seinen Vater natürlich schon besucht, und beide hatten ihre Erfahrungen aus der Vergangenheit ausgetauscht. Doch in Kleinmachnow zu bleiben, das war nicht Hassos Absicht, obwohl ihm sein Vater das mit Nachdruck angeboten hatte. Einerseits wollte Hasso in der, wenn auch weitestgehend zerstörten Großstadt wohnen bleiben, andrerseits kam er mit Vaters junger Lebensgefährtin nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Vater Schützendorf war nicht unvermögend und sicherte immerhin des Sohnes Lebensunterhalt, was wiederum auch der Kapitänsfamilie zugutegekommen war. Hasso blieb anscheinend nichts Anderes übrig, als nach Kleinmachnow zu reisen, um nochmals die Verhältnisse dort zu sondieren. Also machte er sich auf den Weg, teils auf dem Trittbrett, teils auf dem Dach eines Personenzuges, was für ihn ja keine neue Erfahrung bedeutete. Das erneute Wiedersehen war herzlich, und der Vater glaubte, nun werde sein Sohn endlich bei ihm bleiben. Aber Hasso blieb nur wenige Tage, die Antipathie gegenüber der Lebensgefährtin des Vaters war übermächtig, und er war auch nicht willens, sich in die hiesigen Verhältnisse einzubringen. Vater Eugen mühte sich um seinen Sohn vergebens, war ihm aber nicht gram. Hasso habe eben seinen eigenen Kopf, er sei eben ein Schützendorf. »Sei, wie es sei«, sagte er, »wir beiden sind ja nicht aus der Welt. Und wenn du in Hamburg in absehbarer Zeit einen Studienplatz findest, würde mich das natürlich freuen. Irgendwie muss es ja wieder aufwärtsgehen.«

      »Darf ich dein Fahrrad zurück nach Hamburg benutzen?«, fragte Hasso unverwandt, nachdem er mit seinem Vater ins Reine gekommen war.

      »Was höre ich da? Du willst mit dem Fahrrad nach Hamburg radeln?«

      »Genau das möchte ich, falls du das Rad nicht selbst benötigst.«

       »Bist du dir im Klaren, durch die sowjetische Besatzungszone fahren zu müssen? Nach ein paar Kilometern bist du das Rad los und kannst sehen, wie du weiterkommst. Die Russen freuen sich wie Kinder, wenn sie endlich das Radfahren üben können. Aber nicht nur die Russen können dir gefährlich werden, in diesen Zeiten sind alle möglichen Gauner unterwegs.« Aber Hasso ließ nicht locker, und Vater Eugen gab sich geschlagen. »Morgen früh gehen wir ins Bürgermeisteramt, da soll man dir ein Schutzpapier ausstellen. Die machen das speziell für Reisende, das ist bekannt. Wir sagen, dass du Student bist und das Fahrrad in Hamburg benötigst, und vor allem, dass du ein ehemaliger Fahnenflüchtiger bist. Aber das wird wahrscheinlich für einen Ausweis oder dergleichen nicht notwendig sein.« Hasso fragte noch, ob eventuell ein Foto von ihm benötigt werde, außer seinem KZ-Foto (es überstand alle Vergangenheitswirren) habe er noch zwei Stück von der Fotoaktion mit seinem Kapitän bei sich.

      Hasso bekam das Dokument und hoffte nach Fahrtantritt, dass ein Rotarmist, der scharf auf sein Fahrrad war, die Empfehlung erkannte und respektierte.

      Nach seiner glücklich verlaufenen Rückkehr – er hatte sich immer wieder ähnlich besorgten Radfahrern angeschlossen – nahm ihn die Kapitäns-Familie erneut auf. Sie tat es nicht ungern, denn dadurch mussten sie kein freies Zimmer für eine Zwangsvermietung melden. Zudem erhielt sie von ihrem Untermieter dank Vater Eugens Hilfe Wohngeld. Für seinen Verpflegungsbedarf stellte Hasso der Familie seine Lebensmittelkarte zur Verfügung.

      Doch der Sommer war noch nicht zu Ende, da kündigte der Kapitän das Mitwohnverhältnis. Er ließ Hasso aber noch so lange bei sich, bis er eine andere Unterkunft gefunden hatte.

       Kapitän und Ehefrau nahmen Hasso auch nicht direkt dessen nächtliche Ausflüge in Friedlindes Zimmer übel, wollten sich aber mit seinem für sie überraschenden politischen Engagement überhaupt nicht abfinden. Nicht, dass es seine politische Haltung nicht akzeptierte, soweit er sie nur für sich und außer Haus auskostete, nein, es missfiel ihm, dass Hasso eine Papptafel im Fenster seines Zimmers im Erdgeschoss zur Straße hin nicht entfernen wollte. ‒ Was aber hatte es mit der Papptafel im Fenster auf sich? Zunächst die notwendige Erklärung dazu:

       Hasso hatte sich vor Kurzem als Student der Medizin in der Universität ‒ oder das, was noch benutzbar war ‒ einschreiben lassen. Wie er das ohne Reifezeugnis schaffte, wird noch zur Sprache kommen. Als Mitglied der medizinischen Fakultät war er im Kreise seiner Mitstudierenden, die sich vermehrt mit der Ideologie des Kommunismus' beschäftigten und sich auch für ihn engagierten, schnell mit bei der Sache. Bemerkenswert, dass sich überwiegend Medizinstudenten für den Kommunismus erwärmten. Und Hasso, immer begeisterungsfähig, wurde bald