Füße gestellt hatten, stützten ihn während des Marsches nach irgendwohin. Erst dann, als Hasso nun wirklich begriff, nicht zur Hinrichtungsstätte geführt zu werden, kam wieder Leben in seinen Körper, in seine Beine, in seinen Kopf. Er wurde in eine andere Zelle gesperrt, eine Zelle, die nicht für zum Tode Verurteilte gedacht war. Erst hier hatte er Muße, über die letzten Minuten nachzudenken. Begnadigung! Er war sich absolut sicher, dass sein Vater (tatsächlich von einem befreundeten General unterstützt) die Begnadigung herbeigeführt hatte. Bei dem Gedanken, die ferngeschriebene Lebensrettung aus Berlin wäre nicht rechtzeitig in der Harthmuthgasse eingetroffen, wurde ihm heiß im Gesicht.
Die eventuell noch zu verbüßende Zuchthausstrafe nach dem Krieg strich er aus seinem Gedächtnis. Er dachte an Georg, was ihm anfangs die Tränen in die Augen schießen ließ. Freund Georg, einer von Allahs Kindern. Und es ging ihm auch Georgs Glaube und von einem Wiedersehen im Jenseits durch den Kopf. Der Glaube wird ihm Trost gegeben haben, sagte er sich.
1998.
Hasso schildert seinen weiteren Weg von Wien bis zum Kriegsende mit eigenen Worten:
»Wir hockten aneinander gekettet auf der geschlossenen Ladefläche von Lastkraftwagen und wurden zu einem Bahnhof gefahren, den wir in verhältnismäßig kurzer Zeit erreichten. Dort wartete ein Zug auf uns, an deren Personenwagen einige Güterwaggons angekoppelt waren. Wir mussten in die beiden letzten klettern, mit angeketteten Füßen von Mann zu Mann nicht ganz einfach. Trotzdem ging alles ziemlich schnell vonstatten, weil die Ketten die entsprechende Länge aufwiesen und wir vom Wach- und Begleitpersonal angetrieben wurden. Ich weiß gar nicht, wie viele Gefangene wir waren, eingepfercht in den beiden Waggons wie Vieh; ich schätze heute, so um die hundertfünfzig. Zivilgefangene waren nicht unter uns, wir alle waren von Wehrmachtsgerichten Verurteilte. Ob außer mir noch andere zuvor zum Tode Verurteilte dabei waren, weiß ich nicht. Ich hatte ohnehin immer nur meine eigene Situation im Kopf. Wohin es ging? Nach Glatz in Schlesien, heute heißt die Festungsstadt im jetzigen Polen Kolodzko. Vom Bahnhof Glatz wurden wir, angekettet, wie wir waren, mitten durch die Stadt auf die Festung getrieben. Auf dem Marsch dorthin traf mich eine Begebenheit wie ein Keulenschlag. Mitten in der Stadt – viele Passanten standen am Straßenrand und verfolgten unseren klirrenden Haufen ‒ erkannte ich plötzlich meinen Onkel Waldemar, Großonkel mütterlicherseits. Unverkennbar war es Onkel Waldemar. Ich rief ihn an, und er erkannte mich auch sofort trotz meines erbärmlichen Aussehens: kahlgeschoren und ziemlich mager. Onkel Waldemar aber schaute wie erschreckt zur Seite und ging schnell davon. Es muss ihm sehr peinlich gewesen sein, von
einem Gefangenen vor den anderen Zuschauenden, noch dazu mit Namen, angesprochen zu werden. Ich fragte mich, was der Onkel wohl in Glatz zu suchen hatte; vielleicht war er dort auch nur zu Besuch bei Bekannten.
Die Festungsanlage Glatz, ich habe zuvor nie eine größere gesehen, war mit Gefangenen regelrecht überfüllt. Ich glaube, wir verbrachten einige Monate dort, wir hatten keine Ahnung, verfolgten die Zeit nicht, dachten immer nur an unsere vollkommen in der Dunkelheit liegende Zukunft. Dann endlich erfuhren wir, es war Ende des Sommers, dass wir einer Feldgefangenen-Abteilung zugeführt werden sollten, was dann auch geschah. Mit dieser Abteilung, die aus Hunderten von Wehrmachtshäftlingen bestand, ging es in Güterwaggons in den Westen, zuerst war das Ziel Belgien, danach Holland. Belgien und Holland – das war uns bereits vor unserer Abfahrt in Glatz gesagt worden. Wir atmeten natürlich auf, nicht wieder an die Ostfronten geschickt zu werden. Belgien oder Holland? Was konnte uns denn da passieren? Wir wussten nichts von der Situation im Westen, nichts von dem, was entlang der Kanalküste vor sich ging. Wir waren überzeugt, dass die Wehrmacht im Westen nach wie vor alles im Griff hatte, nun, wir sollten das Gegenteil erfahren. Vom direkten Kriegsgeschehen kriegten wir ja eine lange Zeit nichts mit, kein Rundfunk, keine Zeitung, nicht die geringste Information. Ich muss noch erwähnen, dass unser Transport nach Belgien oft unterbrochen worden ist, ein ums andere Mal verließen wir die Waggons und wurden dann, manchmal für etliche Tage, in irgendwelchen Gefängnissen und Lagern untergebracht. Es war auch ein Grund, die auf dem Transport Gestorbenen und Todkranken zu entsorgen, die man dann mit neuen Gefangenen ersetzte. Von denen standen immer genügend zur Verfügung, obwohl, und das erfuhr ich erst nach Kriegsende, Hunderttausende vor die Hunde gingen. Damals kam es uns oft vor, als bestehe das Volk der Deutschen hauptsächlich aus Wehrmachtshäftlingen, Zuchthäuslern, KZ- und Gefängnisinsassen und SS-Soldaten. Die Verpflegung entsprach unserem Stand. Die Verpflegung war unzumutbar, um es auf einen Nenner zu bringen. Aus der Ferne sahen wir aus wie normale Landser im üblichen Feldgrau, allerdings ohne Schulterstücke und Kragenspiegel. Wir erhielten noch nicht einmal einen Stahlhelm, geschweige denn Waffen für Infanteristen. Die für uns Verantwortlichen waren gewiss der Meinung, dass Stahlhelm und Gasmaske für unsere geplanten Einsätze nicht erforderlich seien. Die wussten natürlich von unserer Kurzlebigkeit und handelten entsprechend. Unsere Einsätze? In Belgien, ich glaube, es war Ende August vierundvierzig, bauten wir Panzersperren und andere Hindernisse, ständig streng bewacht von Soldaten, den Karabiner schussbereit in den Fäusten. Ich weiß nicht mehr, ob es SS-Leute waren. Die Soldaten mussten aufpassen, dass von uns keiner abhaute, und doch versuchten es manche. Weit kamen sie allerdings nicht, sie wurden schnell erschossen. Nebenbei stellten wir uns die Frage, warum wir hier Hindernisse bauen und sogar Minen verbuddeln mussten. Reine Verteidigungsmaßnahmen, sagten wir uns. Dass es dem Engländer ge-lingen werde, irgendwann hier aufs Festland zu kommen, das hielten wir schlichtweg für aus-geschlossen. Wir fühlten uns, unsere Bewacher einmal außer Acht gelassen, von Feindeinwirkungen nicht bedroht. Doch das änderte sich kurze Zeit später, als wir von Belgien auf holländisches Gebiet marschierten, um auch dort für miese Aktivitäten eingesetzt zu werden. In Holland erfuhren wir dann sehr schnell, dass von der Normandie aus die Engländer und sogar Amerikaner und andere längst auf dem Vormarsch waren, was in uns einen regelrechten Schock auslöste. Und wir wussten natürlich seit Langem, welche Einsätze auf eine Feldgefangeneneinheit zukommen. Etliche von uns brauchten sich darüber keine Gedanken mehr zu machen, sie waren unterernährt an Erschöpfung oder sonst was gestorben, andere wiederum hatten versucht, zu fliehen und wurden erschossen. Und wenn du dann noch siehst, wie einer aus der Nachbargruppe einem ruppigen Aufseher mit dem Feldspaten den Schädel fast vom Rumpf schlägt, dann sind Angst und Verzweiflung kaum zu ertragen. Ein Ausgleich liefert aber auch die stille Wut auf das Bewachungspersonal, dem es Spaß bereitete, uns zu schikanieren. Kurzum, ich dachte wieder einmal nur an Flucht und schaffte sie auch eines Nachts. Wir biwakierten in einem Waldstück, als ich mich zum Latrinengang aufmachte. Meine Uniformklamotten hatte ich noch nicht abgelegt, hatte nur mein Rasierzeug in der Jackentasche. Ich will nicht alle Begleitumstände aufzählen, das würde zu weit führen. Also, ich war weg, hetzte durch den Wald, bis mich heftige Seitenstiche zur Pause zwangen. Als ich keine Schmerzen mehr spürte, setzte ich meinen Weg fort, immer Richtung Osten. Die Himmelsrichtungen zu bestimmen, war eine einfache Sache. Im Waldbiwak hinter mir musste mein Fehlen wohl sehr spät bemerkt worden sein, vielleicht auch erst am folgenden Morgen, denn Verfolger habe ich weder gehört noch gesehen. Tagsüber versteckte ich mich, nachts marschierte ich, aber immer so, dass ich die Gegend vor mir überblicken konnte. Ich musste Tag und Nacht höllisch aufpassen, Wehrmachtsteilen nicht in die Hände zu fallen, doch glücklicherweise waren die immer schon von Weitem auszumachen, allein durch ihre Fahrzeuggeräusche. Den holländischen Dörfern ging ich aus dem Wege, nur als ich vor Hunger fast schlappmachte, gab ich mich in einem Bauernhaus zu erkennen ... und hatte wieder einmal Glück. Das Bauernehepaar, das aufgrund seines Alters nicht bereit war, dem Kriegssturm durch Flucht zu entgehen, nahm mich auf. Bis auf einige Hühner war kein Vieh zu sehen. Was die beiden Alten zum Leben brauchten, war im Keller des Hauses untergebracht. Man mag es kaum glauben, aber die Leute ließen mich versteckt auf ihrem Hof, bis ich schon nach zwei Tagen glaubte, den sich immer stärker nähernden Kriegsgeräuschen entkommen zu müssen. Es war Winterzeit, frostfrei, aber nasskalt. Die Leute statteten mich mit einer Decke und etwas Verpflegung aus, und ich machte mich davon. Nun, es hätte auch anders kommen können. Denn es war zu bedenken, dass den Holländern nur durch den Kopf ging, den Deutschen die Pest an den Hals zu wünschen.
Es war auch wieder nützlich für mich gewesen, dass ich immer noch mein Foto mit der Erklärung des ukrainischen Offiziers bei mir trug. So ein Stückchen Fotopapier ist bei sich selbst leicht zu verstecken; und wenn man es fast nie benötigt, verkommt es auch nicht. Nun, ich war nicht mehr weit entfernt von der holländisch-deutschen Grenze.