vollendeten Desertion. Sie verurteilten Hasso und Georg zunächst einmal zu Einzelhaft auf unbestimmte Zeit, bis, wie sie sagten, verwertbarere Erkenntnisse vorlägen. Sicher sei, bemerkte der Sprecher der drei Richter, dass über die beiden Gefangenen noch ein endgültiges Urteil gefällt werde.
Hasso und Georg trugen weiterhin ihr Bauernzivil, allerdings nur die Hosen in den sehr warmen Kellerzellen. Tagsüber legten sie ihre Jacke auf ihre Pritsche, nachts auf einen Schemel. Tisch und Stühle waren nicht vorhanden. Ihre unansehnlich gewordenen Uniformstücke hatten sie abgeben müssen, außer ihre Stiefel, im Landserjargon Knobelbecher genannt.
Nach ihrem ersten Duschbad mit anderen Gefangenen durften sie endlich wieder frische Wäsche entgegennehmen, für die beiden ein Erlebnis, ein Gefühl der besonderen Art. Es bereitete ihnen keine Sorge, keine neuen, dafür aber saubere Uniformstücke empfangen zu haben. In Angstzeiten gehen einem alle möglichen Dinge durch den Kopf. Hasso und Georg fragten sich, ob die Aushändigung gebrauchter Uniformen eventuell damit zusammenhängen könnte, dass auf sie tatsächlich die Todesstrafe wartete. Es konnte aber auch sein, dass es hier gar keine Uniformierungs- oder Ausrüstungsstelle gab, dass alle Teile, wenn es notwendig war, erst angefordert werden mussten.
Hasso und Georg wurden jeden Tag verpflegt, auch dies eine neue, willkommene Sache. Einfaches Essen, dazu Wasser. Wunderbar. Für ihre Notdurft stand ein Kübel in der Zelle bereit, waschen und rasieren durften sie sich alle drei bis fünf Tage in einem dafür eingerichteten Nassraum. Hasso, Georg und einige andere Häftlinge sahen sich dann nur während dieser Zeit. Sprechen war verboten, dennoch wurden Worte gewechselt, da das rauschende, spritzende Wasser gesprochene Worte verschluckte. Spaziergänge an der frischen Luft, wie sie in zivilen Gefängnissen üblich sind, waren nicht vorgesehen. Die Inhaftierten lebten im Halbdunkel, die verschmutzten Zellenfenster hatten nur eine geringe Größe und waren auf der höchsten Stelle der Außenwände angebracht, Kellerfenster eben. Vergittert waren sie nicht, denn hinauszwängen konnte sich auch nicht der dünnste Gefangene. Elektrisch Licht war nur in den Aufseherräumen, den Kellergängen und im Duschraum geschaltet.
Beim zweiten Waschgang fiel Hasso und Georg auf, dass der eine oder andere Mitgefangene fehlte und neue Gesichter hinzugekommen waren. Welches Schicksal den Fehlenden beschieden war, darüber versuchte niemand nachzudenken. Wahrscheinlich wurden in diesem Backsteingebäude keine Todesurteile vollstreckt, wahrscheinlich wurden die Exekutionen im hügeligen Hinterland der Kaserne vorgenommen. Die Zahl der Wehrmachtshäftlinge in dieser Anlage schien sich in Grenzen zu halten, ebenso die vollstreckten Todesurteile. Hier waren wie in jeder Kaserne Arrestzellen vorhanden, die aber nur wenige Gefangene aufnehmen konnten. Also wurden zusätzlich Kellerräume genutzt, von denen genügend vorhanden waren.
Nach etwas über zwei Wochen holten vier Wachsoldaten Hasso und Georg aus ihren Zellen und führten sie vor die drei Offiziersrichter, deren Bekanntschaft sie schon am ersten Tag gemacht hatten. Die beiden Deserteure befürchteten nun das Schlimmste, konnten ihr Angstzittern kaum unterdrücken. Doch zu ihrer Überraschung nahmen sie nicht ihr Todesurteil entgegen, sondern einen Marschbefehl nach Dnjepropetrowsk, wo sie von einer neu aufzustellenden Kompanie, zugehörig einem Strafbataillon, aufgenommen werden sollten. In ihrer Zelle hatten sie sich dann bereitzuhalten für einen letzten Waschgang und dem Empfang neuer Uniformstücke. Sie empfingen dazu Stahlhelm, Gasmaske, Feldflasche und durften ihr verbeultes Kochgeschirr gegen ein neueres austauschen, und noch einige Dinge verstauen, die ein Soldat eben benötigt. Karabiner und Seitengewehre wurden ihnen nicht ausgehändigt. Sie behielten ihre noch gebrauchstüchtigen und bislang nicht mehr kontrollierten Rucksäcke – samt den zivilen Sachen. Es konnte nur sein, dass der nach der Einlieferung in diesen Knast Kontrollierende in den Zivilsachen nichts Gefährliches hatte erkennen können, auch Soldaten an der Front und anderswo besaßen und trugen zivile Kleidungsstücke, im normalen Dienst allerdings zum Beispiel unter dem Uniformrock.
Was war der Grund für Hassos und Georgs Freilassung? Nein, eine Freilassung sollte es nicht sein, mehr eine Versetzung in eine andere todbringende Umgebung. Vom Oberkommando der Wehrmacht war eine Neuregelung für die Feld- und Standgerichte festgelegt worden. Es sollte dergestalt verfahren werden, dass ein der Fahnenflucht bezichtigter Festgenommener nicht sofort hingerichtet werden sollte. Diese Männer gehörten als Kämpfer an die Fronten, wobei, falls sie überlebten, ihre Todesstrafe in eine Zuchthausstrafe umzuwandeln sei. Doch die komme erst nach dem Krieg zum Tragen oder zum Erliegen, nämlich dann, wenn sich der Sträflingssoldat im Kampf nachweislich besonders hervorgetan habe und sich zudem im Sinne der Nazi-Partei verhalte. Natürlich wurden eingefangene Fahnenflüchtige auch weiterhin standrechtlich hingerichtet, sozusagen als eine notwendige abschreckende Maßnahme. Hasso und Georg waren sich im Klaren, was für eine Truppe sie erwartete. Aber sie sannen nicht darüber nach, auch nicht darüber, welchem Schicksal ihre anfängliche Strafeinheit inzwischen ausgesetzt worden war. Bataillone und Kompanien wurden aufgerieben, vernichtet, so auch ihr Stammbataillon, das während einer Minenverlegung unmittelbar am Dnjepr von sowjetischer Artillerie in Grund und Boden gesprengt wurde. Hasso und Georg erfuhren es von einem Feldwebel, der ihnen die Marschbefehle aushändigte. Somit waren die beiden die einzigen Überlebenden ihrer Stammeinheit.
Die vermutlich beinahe zum Tode Verurteilten, nun wieder in deutschem Feldgrau, mit Marschbefehl in der Tasche, hätten noch einen langen Tag im Bahnhof von Dnjeprodserschinsk auf den Zug warten müssen, mit dem sie nach Dnjepropetrowsk fahren sollten. Sie entschieden sich jedoch anders. In der Kommandantur von Dnjepropetrowsk, die neue reguläre Einheiten, aber auch zu ersetzende Strafkompanien aufzustellen hatten, sollten sie sich melden. Um sie entsprechend zuweisen zu können, war ihr Marschbefehl gefragt, auf dem ihre untergegangene Kompanie dokumentiert war.
Hasso und Georg kamen in ihren Überlegungen wiederholt überein, entweder im Kampf sterben zu müssen, standrechtlich erschossen oder aufgehängt zu werden. Die dritte Möglichkeit, am Leben zu bleiben, biete sich, wenn ihnen eine wiederholte Flucht gelänge.
6. Erneute Flucht
Und wiederum veränderten sie ihr Äußeres, wiederum im Latrinenbereich im Bahnhof. Zuvor hatten sie bereits Ausschau nach einem Zug gehalten – ihnen blieb ja noch viel Zeit –, der für ihre Zwecke in Anspruch genommen werden könne. Sie fanden einen, der bis Odessa fahren sollte. Ob die Stadt am Schwarzen Meer tatsächlich der Zielort des Zuges war, konnten auch Hinweisschilder nicht gewährleisten. Da sich aber für Hasso und Georg kein Zug mit einem erkennbar lohnenderen Ziel anbot, so wollten sie an die Richtigkeit Odessa glauben. Es war ein Güterzug mit geschlossenen Waggons, auf deren flachen Dächern sich bereits Einheimische niedergelassen hatten. Hasso und Georg erkletterten das Dach des letzten Wagens, das nur mäßig besetzt war.
Die bedeutende Hafenstadt Odessa erreichten sie unerwartet schnell an diesem Tag. Sofort nach der Ankunft ließen sie sich mit der Menschenmenge bis in die Bahnhofshalle treiben, tauchten ein in Geräusche und Gerüche, die ihnen nicht mehr fremd waren, nur war in diesem Bahnhof von den Ausmaßen her alles gewaltiger, unübersichtlicher. Manchmal wurde das innere Spektakel vom hereindringenden Stampfen anziehender Lokomotiven oder unangenehm quietschendem Abbremsen einfahrender Züge bereichert.
Nach einer längeren Zeit der Orientierung stieg den beiden Flüchtigen ein bekannter Essensgeruch in die Nase: Kohl oder Steckrüben … was sonst. Also musste es auch hier etwas zu essen geben. Die Verpflegungsstelle entdeckten sie in einem an die Haupthalle angrenzenden, zu beiden Seiten hin offenen Saal, wo an Einheimische Eintopf ausgegeben wurde, dazu für jeden Anstehenden einen Kanten Brot. Für Hasso und Georg gab es nichts zu überlegen, sie entnahmen ihrem Rucksack das Unterteil ihres Kochgeschirrs und reihten sich ein in die Schlange von Frauen mit Kindern, alten und gebrechlichen Menschen. An solchen Orten in den großen Städten war die SS nicht am Säubern. Sie brachte die sowjetische Bevölkerung in Gebieten um, wo sie selbst die Macht hatten, wo sie selbst keiner Lebensgefahr ausgesetzt waren. Oder sie stellten Transporte mit arbeitsfähigen Untermenschen zusammen, auf die die deutsche Industrie wartete.
Hasso und Georg vereinbarten, hier im Bereich des Bahnhofes und dessen Umfeld sich so lange aufzuhalten, bis ihnen eine weitere Fluchtfortsetzung gelegen komme. Die Verpflegungsstelle half ihnen, sich von den Strapazen der letzten Tage zu erholen. Hier im Bahnhof konnten sie sich einigermaßen pflegen und des Nachts zum Schlafen