Wolfgang Fabian

HASSO - Legende von Mallorca


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die nicht ein­mal einen Karabiner nach Vorschrift abfeuern konnten, aufhalten und da­durch die Maßnahmen für einen deutschen Gegenstoß ermögli­chen? Aufhalten gewiss für eine kurze Zeit, ohne wirkungsvollen Waffenein­satz wahrscheinlich nur wenige Minuten.

      Gleich in der ersten Nacht wurde es in der kleinen Stadt äußerst unruhig. Es wurde zum Sammeln gebrüllt. Der Befehl erreichte rasch auch die letzte Unterkunft. Aus allen Quartieren quoll es heraus und hetzte zum Sam­melplatz. Gewehre und Munition sollten jetzt verteilt, die Empfänger dann so schnell wie möglich die bereits vor­handenen Stellungen wenige Kilometer vom östlichen Stadtrand entfernt, beziehen. Es waren ursprünglich von den Sowjets gegrabene Verteidi­gungsanlagen. Unverkenn­bar war jetzt: Das Strafba­taillon war dazu ausersehen, sich tat­sächlich den an­stürmenden Sowjets mit Karabinern und Hand­granaten entgegenzustemmen, um regulären Einheiten im Hinterland die Zeit für ein erneutes For­matieren zu verlängern. Der Einsatz des Strafbataillons in die­sem Frontbereich war nach Anbeginn seiner Aufstellung nicht geplant gewesen. Einsätze wurden je nach Bedarf kurz­fristig befohlen. Das Schicksal des Strafbataillons schien jetzt besie­gelt zu sein.

      Häuser und Bewohner waren wieder schnell frei von ihren deutschen Gästen ... nein, nicht von allen. Hasso und Georg waren auf ihren Schlafplätzen einfach liegen geblieben. Angesichts ihrer an­scheinend aussichtslosen Lage waren sie bereits gleich nach ihrer Ankunft in diesem Haus mit sich übereingekommen, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit sich abzusetzen. Die Folgen waren ihnen gar nicht in den Sinn gekommen. Sie hatten nur im Kopf, in den nächsten Tagen vernichtet zu wer­den, wenn sie ihrer Einheit nicht den Rücken kehrten. Seitens ihrer sich freund­lich, aber untereinander sich schweigend verhaltenen Quartiergebern schien ihnen keine Gefahr zu drohen. Die Leute er­weckten den Eindruck, als gehe sie das alles nichts an. In Wahrheit litten sie unter der Furcht, in absehbarer Zeit ebenfalls vom Frontgeschehen in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Die Absicht der beiden Deutschen hatten sie natürlich erkannt, rea­gierten aber nicht. Wie hätten sie sich auch verhalten sollen?

      Als der Tag heraufzog, war von dem Strafbataillon nichts mehr zu hören und zu sehen. In dem überstürzten Aufbruch war Hassos und Georgs Nichter­scheinen auf dem Sammelplatz anscheinend nicht wahrgenommen worden, weil jeder mit sich selbst zu tun hatte. Und auch den Zug- und Gruppenfüh­rern in­teressierten Gesichter und Namen ihrer Män­ner nicht im Ge­ringsten.

      Als Hasso und Georg sich anschickten, das Haus zu verlassen, schreckte sie das plötzliche Auftauchen ei­nes blondbär­tigen, fast kahl geschorenen, mit gro­bem Bauernzeug bekleide­ten Mannes mittleren Al­ters zurück. Um seinen Hals hatte er einen gefüllten Patronengurt hängen, an seiner rechten Gürtel­seite eine Pistole und an der linken ein in einer Fellscheide ste­ckendes Messer. Ein zweiter Mann in ähnlicher Aufmachung war vermutlich als Wache draußen vor der Tür in Deckung ge­blieben. Hasso und Georg stockte der Atem. Der ihnen Furcht einflößende Mann erschrak nicht minder beim Anblick der deutschen Uniformen, erkannte dann aber schnell, was es mit der Anwesenheit der beiden Deutschen auf sich hatte. Er wusste sehr genau, wenn an deutschen Uniformröcken weder Schulterstücke, Kragenspiegel oder andere Zugehörigkeits- oder Tätigkeitszeichen angebracht waren, dass deren Träger nicht zu den regulären Truppen gehörten. Und seine Angehörigen indes schienen seit Stunden mehr als ratlos, wie sie mit den Deutschen umgehen sollten.

      Sie atmeten auf, als sie den wild aussehenden Krieger eintreten sahen. Dieser Mann, sich in gebrochenem Deutsch als Offizier der Roten Armee ausgebend, war bestens informiert davon, diesen Ort wieder frei von deutschen Truppen vorzu­finden. Er verschwieg auch nicht, der Ehemann der jüngeren Frau in diesem Haus zu sein. Dass sich die beiden ukrainischen Krieger in dieser Gegend auf­hielten und nicht in der Uniform der Sowjets, war für Hasso und Georg nicht schwer zu erraten. Es waren Partisanen, für die es Pflicht war, jeden Deutschen umzubringen, der ihnen in die Hände fiel.

      Vermutlich war der Offizier, der sich in diesem weiten Ge­biet natürlich sehr gut auskannte, auftragsgemäß und vorüberge­hend mit einer Partisanengruppe in Verbindung zu bringen. Der Mann, wohl wissend um das wahrscheinlich baldige Eintreffen seiner Waffenbrüder, war sich nicht sogleich schlüssig, Hasso und Georg entweder seiner Truppe als Kriegsgefangene festzu­halten oder sie kurzerhand zu erschießen oder sie sich selbst ih­rem Schicksal zu überlassen. Er entschied sich für das Letzte­re, nachdem er sich hat überzeugen lassen, es tatsächlich mit Fah­nenflüchtigen zu tun zu haben. Hassos und Georgs Äußeres bestätigten des Kriegers Vermutung, noch bevor er eine eindeutige Erklärung entgegennehmen konnte, welchem Truppenteil die beiden Gäste angehörten. Und zuletzt war das Foto, dass Hasso vorzeigte, mit ausschlaggebend, dass der Ukrainer nicht lange überlegen musste. Er ließ sich von seiner Frau einen Füllfederhalter in die Hand geben und beschrieb die Rückseite des Fotos. Danach gab er es Hasso zu­rück und erklärte seine Dokumentation, bis sie von den bei­den Deutschen begriffen wurde. Es stehe auf der Fotorück­seite der Hinweis, dass es sich bei den beiden Deutschen um Widerstandskämpfer handele. Dieser Hinweis sollte lebensret­tend sein, falls die beiden in die Hände sowjetischer Soldaten oder Partisanen gerieten. Insgeheim war er aber überzeugt, dass Hasso und Georg auf ihrer Flucht eher umkommen werden, als in Gefangen­schaft zu geraten. Sich der beiden Deutschen mit einigen Schüssen zu entledigen, wäre nicht nur gegen seine Ehre als Offizier. Ihm stand auch vor Augen, sie als Überläufer einer sowjetischen Einheit zu übergeben, jedoch sah er als Partisanenführer darin keine gute Lösung.

      Bevor der Sowjet-Offizier sie entließ, wurden sie von den Frauen, beauftragt von dem Offizier, mit jeweils einer Hose und einer Joppe ausgerüstet. Die graubraunen Teile waren fest gewebt, vermutlich schon einige Jahre alt, aber sauber und nicht verschlissen. Ob sie passten, war den beiden Flüchtigen einerlei. Sie beschlossen, ihre Kleider noch nicht zu wechseln, erst dann, wenn es für ihre Flucht notwendig und vor allem, wenn es ohne Zeugen möglich sei. Zum andern war ihnen schnell in den Sinn gekommen, was sich ergeben könnte, wenn sie in Bauernkleidung plötzlich Partisanen gegenüberständen, nicht schnell genug des Offiziers Empfehlung hervorziehen, sich stattdessen auch sprachlich nicht erklären könnten? ... In ihrem Wehrmachtsgrau müssten sie fraglos sofort ihr Leben zur Verfügung stellen. Weder die Bekleidungsfrage noch die Frage, was könnte, wenn … war augenblicklich und unmöglich zufriedenstellend zu beantworten. Also verstauten sie die ihnen großzügig überlassenen Sachen in ihren Rucksäcken, dazu einige in einem Tuch eingeschlagene Kanten Brot, gekochte, jetzt kalte Hühnerteile und eine ziemlich harte Wurst. Sich nun auch noch die Hilfsbereitschaft der ukrainischen Familie zu erklären, dazu fehlte ihnen nicht nur die Zeit, sondern auch das Verständnis der politischen Verhältnisse. Stahlhelm und Gasmaske samt Behälter ließen sie auf Anraten des Offiziers zurück, behielten nur ihre Feldmütze auf dem Kopf. Am Ende erhielt jeder noch eine derbe braune Schlägermütze, etwas zu groß für ihre schmalen Köpfe, aber immer noch besser, sagten sie sich, als zu klein.

      4. Fluchtwege

      Solchermaßen bepackt erreichten sie den nahen und lichten Birkenwald, zwischen deren Stämmen das Gras üppig wuchs und ihre Schritte dämpfte. Diesen kilometerlangen Wald hatten sie teilweise auf dem Marsch nach Charlowka durchquert. Dichtes Buschwerk wuchs hauptsächlich nur an manchen Stellen des Waldrandes, zwischen den Birken nur spärlich. Deutsche oder sowjetische Truppenteile befürchteten die beiden Ausreißer hier nicht, allenfalls Partisanen, mit denen aber ständig zu rechnen war. Mit wachen Augen und Ohren und großer Ängstlichkeit strebten sie den Motorgeräuschen entgegen, zu erkunden, was es damit auf sich hatte, und erreichten denn auch bald den nördlichen Waldrand, wo sie aus der Deckung einer Buschreihe heraus die bereits an anderer Stelle angesprochene Rollbahn überschauen konnten. Nun also lag sie vor ihnen, die zig Meter breite Rollbahn, nur einen Steinwurf weit entfernt. Der Übergang vom Sommer in den Herbst bescherte dem Land bereits kurze anhaltende, aber heftige Regenfälle, von denen Hasso und Georg nicht mehr berührt worden waren. Seit ihrer Ankunft mit ihrem Bataillon am Westrand Charkows hatte es nicht mehr geregnet. Die sommertrockene, steinharte, zerfurchte Rollbahn indes hatte die Regenmassen nicht einsickern lassen können, sodass regelrechte kleine Seen entstanden. Erst allmählich war die hellbraune Erde aufgeweicht, und die kleinen Seen versiegten, hinterließen aber stellenweise morastige Stellen. Der Verkehr auf der Rollbahn hielt sich in Grenzen. Die Wehrmachtsfahrzeuge kamen ohne sonderlich große Probleme