zu kümmern. »Der Platz hier ist voll von Versprengten«, rief er. »Haltet euch draußen auf und wartet, bis irgendwann Transportfahrzeuge bereitstehen. Die kutschieren euch dann nach Dnjepropetrowsk, wo ihr Bestandteil einer neu aufzustellenden Einheit oder sonst was werdet. Oder geht zum Bahnhof, dort steht ein Zug, der fährt auch nach Dnjepropetrowsk. Fraglich aber, ob ihr da mitfahren könnt.«
Der Hunger quälte Hasso und Georg. Ob sie hier irgendwo was zu essen kriegen könnten, sie hätten seit Langem nichts gegessen; und wie weit es denn bis zu dieser Stadt sei.
»Ihr nervt mich, haltet mich nur auf«, gab sich der Feldwebel weiter ungehalten. »Im Bahnhof gibt es zu essen – falls noch was da ist. Und wie weit es ist bis Dnjepropetrowsk? So um die zweihundert Kilometer, meine ich. Und zudem: Was haben euch Entfernungen zu interessieren? Russland ist nicht Liechtenstein. Und nun haut ab!«
Bahnhof, Eisenbahn. Ein Zug in Richtung Westen vielleicht ...? ‒ Richtung Westen wäre wünschenswert.
Vor dem Bahnhof von Poltawa reihten sie sich zunächst in die Schlange vor einer Feldküche ein. Sie waren nicht die Einzigen ohne Stahlhelm und Karabiner. Sie trugen ihre Schirmmütze zwischen den Ohren und den über eine Schulter gehängten Rucksack mit dem Bauernzivil und ihren Gebrauchsutensilien, die zur normalen Grundausstattung eines jeden Soldaten gehörten wie etwa Kochgeschirr, zusammenklappbares Essbesteck, Feldflasche, Dreieckzeltplane, Unterwäsche, Rasierzeug und zwei Handtücher. Über den Rucksack hatten sie ihre Wehrmachtsdecke geschnallt. Die Decke erfuhr eine besondere Beachtung, denn die musste trocken und ohne Verschmutzung bleiben. Kamerad Mohr hatte sogar einige Bruchstücke Kernseife dabei. Alle diese kostbaren Dinge benutzten sie nur wenig, gingen sorgfältig mit ihnen um. Aus zwei Feldküchen, den sogenannten Gulaschkanonen, wurde Eintopf geschöpft. Hasso und Georg Mohr war es einerlei, um welches Eintopfgericht es sich handelte, sie waren froh, endlich mal wieder eine warme Mahlzeit zu bekommen. Dazu empfingen sie ein großes Stück Brot, das sie aber nicht sogleich aßen, sondern als Notverpflegung verstauten.
Auf dem Bahnsteig und den Wegen zwischen den Gleisen hatten sich unzählige Sowjetbürger unter die Wehrmachtangehörigen gemischt. Für Unwissende waren ordentliche Abläufe allerdings nicht zu erkennen. Hasso und Georg stießen gleich am ersten Bahnsteig auf einen Zug, der ihr Interesse weckte. Es war ein Lazarettzug, worauf auch die Rote-Kreuz-Kennzeichen auf den Seitenflächen der Waggons hinwiesen und die hier und da ein- oder aussteigenden Sanitätssoldaten. Direkt hinter der stampfenden Lokomotive waren zwei Plateauwagen angekoppelt, auf denen zwischen hochgestapelten Sandsäcken zwei Flugabwehrgeschütze standen. Den Schluss des Zuges bildeten zwei geschlossene Güterwaggons. Hasso und Georg mussten schnell eine Entscheidung treffen. Deutsche Verwundetentransporte fahren, grob gedeutet, immer in westliche Richtung.
»Jetzt müssten wir verwundet sein«, sagte Georg, »nicht allzu schwer, nur so, dass wir in ein Lazarett müssten«.
Die Aufregung zog eine starke Schwäche durch ihre Arme und Beine. Hasso antwortete schnell: »Komm, wir versuchen es.«
Zu ihrer Verwunderung gelang es ihnen, mitfahren zu dürfen. Vor dem letzten Personenwagen erfuhren sie von einem Sanitätsunteroffizier, dass dieser Zug zunächst nach Dnjepropetrowsk fahre, von da in irgendein Feldlazarett. Hasso und Georg schilderten in kurzen Sätzen ihre Situation, gaben sich als Versprengte aus und verschwiegen nicht, von SS-Soldaten aus der Gegend von Carlowka nach hier mitgenommen worden zu sein. Nun vermuteten sie ihre Einheit in Dnjepropetrowsk. Denn von dieser Stadt sei die Rede im Falle eines Rückzuges gewesen und so weiter und so fort. Anscheinend überfordert winkte der Unteroffizier ab und ließ sie einsteigen, mit dem Befehl, sich einen Fußbodenplatz zu suchen und den Dienst im Waggon nicht zu stören.
Trotz ihrer Unvorsichtigkeit waren sie noch einmal davongekommen. Denn hätten sie sich ausweisen müssen, wären sie wahrscheinlich aufgeflogen. Den beiden half sicherlich auch, dass der Unteroffizier von ihnen von hilfreichen SS-Soldaten hörte. »Das waren Angehörige der Waffen-SS«, hatte er daraufhin erklärt, »andere Truppen der SS, wie die mit dem Totenkopf, gibt es auch noch. Die alle haben schwierige Aufgaben zu erledigen.« Ob dem Unteroffizier bekannt war, dass sich die SS nicht nur bei ihren Fronteinsätzen berüchtigt hervortat, sondern vor allem auch als Leiter und Aufseher in Konzentrationslagern und infolge sogenannter Gebietssäuberungen hinter den Fronten? Jedenfalls war sie zuständig für Gräueltaten aller Art. Vielleicht waren dem Unteroffizier die Einrichtungen von Konzentrationslagern fremd. Wie dem auch war, wären die Männer im Kübelwagen dahintergekommen, Angehörige eines Strafbataillons aufgenommen zu haben, wären Hasso und Georg jetzt im Gewahrsam eines Standgerichts. Zu diesem Zeitpunkt war vielen Wehrmachtsangehörigen, darunter auch Feldgendarmen, wahrscheinlich noch nichts oder nur wenig über die erst vor nicht langer Zeit aufgestellte Bewährungsdivision 500 bekannt, vielleicht auch noch nichts über ihre SS-Totenkopf-Kameraden, die damit beschäftigt waren, in manchen Dörfern hinter den Fronten im Osten Bewohner, denen Partisanenunterstützung angekreidet wurde, zusammenzutreiben, um sie vor der Kulisse der nicht beschuldigten Anwohner, darunter auch Frauen und Kinder, aufzuhängen oder zu erschießen. War das erledigt, wurden die Dörfer oftmals niedergebrannt. Vergeltungsaktionen nannten sie ihre Handlungen, Vergeltungen nach Gräueltaten, ausgegangen von der anderen Seite. Da gab es Rechenschaftsmeldungen, wonach weibliche Sowjetsoldaten nach Aufreibung eines deutschen Stoßtrupps die Überlebenden an Scheunentore genagelt und ihnen dann die Geschlechtsteile abgeschnitten hätten. Andrerseits habe man deutsche Soldaten mit aufgeschlitzten Bäuchen vorgefunden. Die Verschleppung unzähliger Juden aus den Ostgebieten in die Vernichtungslager oder Ermordung an Ort und Stelle durch nachgerückte SS-Verbände war eine weitere furchtbare Sache. Bei dieser Gelegenheit ist zu erwähnen, dass in der Ukraine von der Wehrmachtleitung sogar SS-Einheiten aufgestellt wurden, die aus ukrainischen Freiwilligen bestanden. Deren Hass richtete sich gegen das unterdrückende Sowjetregime. Die deutschen Truppen waren nach ihrem Einmarsch in die Ukraine als Befreier angesehen und mit Blumen empfangen worden. Geraume Zeit später musste dann ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung die Erfahrung machen, von den Deutschen ebenfalls als Untermenschen angesehen zu werden. Hunderttausende aus den Feindgebieten, sie alle zu Untermenschen erniedrigt, wurden in die deutschen Rüstungs- und andere Industriebetriebe deportiert, aber auch sowjetische Kriegsgefangene. Juden, zumindest die nicht voll arbeitsfähigen, schickte die SS in die Konzentrationslager, wo sie vergast wurden.
Was also blieb Ukrainern anderes übrig, als sich passiv zu verhalten oder die zuvor ersehnten und dann sie enttäuschenden Befreier zu bekämpfen oder ihnen zu dienen? Viele hofften, nach einer eventuellen Zerschlagung der Sowjetunion unter den Nazis freiheitlicher, ja besser leben zu können.
Während der Fahrt nach Dnjepropetrowsk sprachen Hasso und Georg nur wenig. Sie saßen vor der verschlossenen Verbindungstür des Waggons auf dem harten Boden, mit dem Rücken gegen ihre Rucksäcke gelehnt, über die Schultern ihre raue Wehrmachtsdecke gehängt. Die persönliche Situation, ihr allgemeines Befinden, das gelegentliche laute Stöhnen vor ihnen im Abteil, wo die Sitzplätze zu Liegestätten umfunktioniert worden waren, hauptsächlich aber die typischen Geräusche der Fahrwerke der Waggons ermöglichten den beiden unbequem Dasitzenden eine Unterhaltung, die jemand anders kaum würde verfolgen können. Doch viele Minuten lang schwiegen die beiden sich aus, dösten regelrecht vor sich hin, bis sich Georg Hasso entgegen beugte und ihm einen Vorschlag unterbreitete. Falls die Fortsetzung ihrer Flucht weiterhin möglich sei, sagte er, könnten sie doch auch in Erwägung ziehen, irgendwie nach Mekka zu gelangen, beispielsweise von Odessa aus über das Schwarze Meer und durch die Türkei. Hasso möge mal darüber nachdenken. Doch der erwiderte schnell, dass diese Idee wohl kaum zu realisieren sei, da könnten sie ebenso Mozambique ins Auge fassen, denn dort bewirtschafteten Verwandte eines seiner Schulkameraden Orangenplantagen. Er sei stattdessen der Ansicht, dass sie bei Fortsetzung ihrer Flucht nur zwei Möglichkeiten hätten: entweder sich den Russen auszuliefern oder versuchen, ein neutrales Land zu erreichen. Ersteres sei aus bereits erörterten Gründen auszuschließen. »Und außerdem«, setzte Hasso hinzu, »wo und wie könnten wir die Russen erreichen? Da wäre es bestimmt einfacher gewesen, wir hätten dem ukrainischen Offizier gesagt, nur zurückgeblieben zu sein, um uns der Roten Armee anzuschließen. Nein, nein, zuerst müssen wir versuchen, irgendwie weiter nach Westen zu gelangen. Unsere Aussichten fürs Überleben werden mit Sicherheit auch nicht besser sein,