Wolfgang Fabian

HASSO - Legende von Mallorca


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sie überraschen, was dann möglicherweise wiederum das Ende ihrer Flucht bedeutete. Sie kannten das ja schon, sahen aber keine Alternative zum Bahn-fahren. Zu Fuß sich unerkannt durchzuschlagen, das könnten oder müssten sie ohnehin, nämlich dann, wenn sie Österreich oder Deutschland erreichen würden. Am besten wäre es, sagten sie sich oft, in die Schweiz zu gelangen, was aber aufgrund der dortigen Grenzüberwachungen unmöglich sei. Georg Mohr hatte es erfahren.

      Stunde um Stunde rumpelte der Zug ohne Halt Richtung rumänische Grenze. Den beiden Flüchtlingen war kalt, und sie standen immer öfter auf, ihre Beine massierend und auf der Stelle tretend zu beleben.

      An der Grenze zu Rumänien hielt der Zug zum ersten Mal, was in Hasso und Georg sofort die Angst zurückkehren ließ. Nach etwa zwei Stunden – in dieser Zeit wurden die Waggons entladen, was gehörigen Spektakel verursachte ‒ ruckte der Zug wieder an und setzte seine Fahrt fort. Zwei Stunden in hockender Stellung, gequält von der Angst, entdeckt zu werden, empfanden sie als eine Folterung. Erst dann, als der Zug wieder Fahrt aufgenommen hatte, wagten sie sich auf die Füße, wobei sie sich mangels versagender Kraft gegenseitig aufstützen mussten. Die abnormale Haltung hatte die Muskeln, Sehnen und Blutgefäße ihrer Beine bis über die Schmerzgrenze hinaus strapaziert.

      Endstation Braila an der Donau. Inzwischen war es dunkel geworden, und es regnete leicht. Eine fremde Stadt, Dunkelheit, Regen, kühle Temperaturen: Verhältnisse, die die Stimmung der beiden sich auf der Flucht Befindlichen tief hatte sinken lassen. Sie hatten sich gewünscht, der Zug legte noch viele Kilometer in Rumänien zurück, Kilometer für Kilometer näher an die bulgarische Grenze heran. Der Hunger setzte ihnen gewaltig zu. Hin und wieder nahmen sie einen Schluck Wasser aus ihrer Feldflasche. Dass sie sich bis jetzt noch keine fiebrige Erkältung eingefangen hatten, verdankten sie wahrscheinlich ihrer Jugend. Aber eine echte Grippeerkrankung, mit hohem Fieber, würden sie sicherlich nicht überleben.

      Aus ihrem Versteck gestiegen, nachdem sie glaubten, augenblicklich keiner Gefahr ausgesetzt zu sein, sahen sie in der Bahnhofshalle rumänische und deutsche Soldaten wie in Wartestellung. Eine dreiköpfige Streife von Kettenhunden schien alles im Blick zu haben. Hier sich länger aufzuhalten, um nach einem weiteren Zug, den sie hätten benutzen können, Ausschau zu halten, empfanden sie dieses Mal als gefährliches Warten.

       Also verließen sie den Bahnhofsbereich mit Ziel ins Ungewisse. Das war nicht neu für sie, denn ihre Wege führten bislang ständig ins Ungewisse. Sie bewegten sich nicht hektisch durch die regennasse Stadt, sie wollten den Eindruck erwecken, falls jemand auf sie neugierig zu sein schien, Gleiche unter Gleichen zu sein. Rumänisches oder deutsches Militär war hier zu dieser Stunde nicht unterwegs. Nach einer Weile des Marschierens vermuteten sie, dem Stadtrand nahegekommen zu sein. Die jetzt von ihnen benutzte Straße war breit, aber ungepflastert und dementsprechend vom Regen schmierig. Die ziemlich weit voneinander stehenden Häuser inmitten mit Holzlatten eingezäunter, ungepflegter Grundstücke erinnerten an russische Dörfer. Hasso und Georg waren ratlos, es schien, als seien die Häuser von ihren Bewohnern verlassen worden. Kein Mensch lief auf der Straße, keine Stimme war zu hören, kein Lichtschein drang aus schmalen, hohen Fenstern. Es herrschte eine bedrohliche, ängstlich machende Stille. Aber dann wagten es die beiden Flüchtigen: Durch einen Vorgarten drangen sie ein in ein unverschlossenes Haus. Nach einigen Minuten angestrengten Horchens, und nachdem sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, waren sie überzeugt, dass dieses Haus, gewiss auch alle anderen Häuser an dieser Straße, ohne Leben war. Sie erkundeten die wenigen Räume und sahen sich nach einer Schlafstätte um, die sich ihnen bald in Form zweier Brettergestelle mit darauf befindlichen, platt gelegenen Strohsäcken anbot. Auf dem Hof hinter dem Haus, der in einen verwahrlosten Garten mündete, entdeckten sie eine Pumpe, die sie so lange betätigten, bis sie der Meinung waren, das Wasser könne zum Trinken nun sauber genug sein. Anfangs erschreckte sie das Quietschen des Pumpenschwengels, das sie weithin verraten könnte. Doch nun war es zu spät, und sie beruhigten sich in der berechtigten Annahme, dass sie zurzeit tatsächlich die einzigen Menschen in dieser Wohngegend seien. Jetzt nur noch schlafen! ‒ Sie schliefen bis in den späten Vormittag des nächsten Tages hinein. Im Gegensatz zu ihren bisherigen Schlafstätten waren diese zusammengezimmerten, mit Strohsäcken belegten Bettgestelle der reine Luxus.

      Ängstlich schauten sie sich um, keine Stelle im Haus, das wie alle anderen Häuser hier aus Holz gezimmert worden war, ließen sie außer Acht, selbst den Spitzboden nicht, auf dem nur einige Heuballen gestapelt lagen. Doch dann meinten sie, wenn sie während ihrer Schlafenszeit unbehelligt geblieben waren, dann seien sie in diesen Stunden hier tatsächlich die einzigen Menschen. Federvieh, Schweine und andere Tiere waren verschwunden. Dass jedes Anwesen über Haustiere verfügt hatte, bewiesen angebaute Stallungen und Federviehgehege auf den Nachbargrundstücken, die die beiden Flüchtlinge jetzt am hellen Tage gut erkennen konnten. Vielleicht war diese Gegend hier zum militärischen Sperrgebiet erklärt worden, was eine Evakuierung der Bewohner zur Folge hatte, und alles Vieh ist den Feldküchen überlassen worden. Warum jedoch und für wie lange die Bewohner ihre armseligen Häuser verlassen mussten, darüber diskutierten Hasso und Georg nicht, für sie war am vordringlichsten, unentdeckt zu bleiben. Sie beabsichtigten auch nicht, sich eine längere Zeit hier aufzuhalten, wollten nur die hier vorgefundenen Gegebenheiten nutzen, um sich für den Weitermarsch möglichst gut vorbereiten zu können. Dass sie hier einmal gefahrlos ausschlafen konnten, dafür bedankte sich Georg bei Allah. Die Fluchtverhältnisse ermöglichten ihm nicht oft das demütige Niederlegen zum Gebet.

      Normale Wohnungsumzüge der Bewohner hatten hier nicht stattgefunden, was die beiden Flüchtlinge schon daran erkannten, dass im Haus und in Ställen anscheinend nichts verändert worden war. Hier hatten Menschen und Tiere, so vermuteten sie, Zwangsmaßnahmen weichen müssen.

      In der verrußten Küche, mit gemauerter Feuerstelle, erinnernd an mittelalterliche Darstellungen, fanden sich verschieden große Kessel und Töpfe. Neben der Feuerstelle lagen aufgestapelte Holzscheite sowie zerkleinertes Astwerk. Kleinere Gerätschaften und Geschirr waren in groben Wandregalen untergebracht. Vor der hinteren Längsseite des klobigen Tisches, etwa ein Meter vor der Wand mit den zwei kleinen Fenstern, standen eine tischbreite Holzbank und ihr gegenüber zwei Stühle. Neben der Bank führte eine Tür auf den Hof. Hasso und Georg fanden eine große Schachtel mit noch brauchbaren Streichhölzern vor, was ihnen sehr willkommen war. Und um einiges höher bewerteten sie, als sie im Dämmerlicht der Küche in einer Ecke einen kniehohen, nach oben offenen Verschlag entdeckten, in dem auf einer Unterlage von zusammengelegten Brettern Kartoffeln und Steckrüben in geringer Menge lagerten. Zwei nicht mehr ganz ansehnliche, aber noch nicht angefaulte Weißkohlköpfe sowie einige Hände voll Karotten mit bereits verrottetem Kraut vervollständigten dieses kleine Gemüsedepot. Die beiden Ausgehungerten besahen sich die bereits seit Längerem eingebrachte Ernte, von der ihnen ein leicht fauliger Geruch in die Nase stieg, und beschlossen spontan, dieses Geschenk zu nutzen. Also begannen sie, einen Teil der Köstlichkeiten zu putzen, zu waschen, zu zerkleinern und in einen Topf zu stapeln, dem sie das nötige Wasser aus der Pumpe im Hof zufügten. Messer und andere Besteckteile waren genügend vorhanden, sodass die beiden Köche ihre Arbeiten zügig erledigen konnten. Die herdähnliche Einrichtung wies vier Kochstellen auf, mit einer Anzahl von entfernbaren Eisenringen. Auf eine dieser Kochstellen stand nun der gefüllte Topf, dessen Inhalt bald zu kochen begann. Das Holz unter der Kochstelle brannte prasselnd und hinterließ keinerlei Rauch im Küchenraum, was bewies, dass der gemauerte eckige Schornstein, der vom Ofen aus an der Rückwand emporsteigend durch Küchendecke und Dach stieß, noch sehr gut seiner Aufgabe nachkam. Das alles brachte Hasso und Georg auf die Idee, nebenbei auch ihre Unterwäsche und Oberhemden heiß zu waschen.Und indem die Sachen in zwei großen Eisentöpfen kochten, reinigten sich die beiden mit Pumpenwasser. In einem Nebengelass, angrenzend an den Schlafraum, hatten sie in einer Truhe alte, aber saubere Bettlaken gefunden, die sie als Badetücher benutzten. Jeweils ein trockenes Laken über die nackten Schultern gehängt, fühlten sie sich rundum sauber und wohl. So bekleidet aßen sie von dem Eintopf, der ihnen auch fleischlos schmeckte. Salz war nicht zu finden gewesen, Seife oder ähnliche Reinigungsmittel auch nicht. Und als sie dann einige Stunden später ihre über der Herdwärme getrocknete Unterwäsche angenehm auf der Haut spürten und ihre Mägen gut gefüllt waren, als sie beschlossen, sich noch einmal ausschlafen zu wollen und danach ihren Fluchtplan neu zu überdenken und festzulegen, da wurden sie wieder einmal festgenommen.