Alisha Mc Shaw

Rondaria


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ist doch verrückt!« Aleyna schüttelte ungläubig den Kopf.

      Noyan musste wider Willen schmunzeln. »Nein, so verrückt ist es gar nicht. Wir haben noch nicht alle Dinge aus dem Traum entschlüsseln können, weil wir nicht wissen, wo wir ansetzen sollen. Aber im Großen und Ganzen geht es dabei um die Rettung durch ein Wesen mit besonderer Aura. Deiner Aura.«

      Sie schnaubte. »So faszinierend ich diese Geschichte auch finde, Noyan«, Aleyna erhob sich und sah zum Grab ihres Vaters, »ich bin, deinen Worten zufolge, ein Mischling. Wenn schon euer toller Zirkel kein Mittel gegen diese Krankheit findet, wie soll dann bitte ich euch helfen können? Ich, ein Mischling? Ich konnte doch nicht einmal meinem Vater hel...« Sie brach irritiert ab, machte einen Schritt auf das Grab zu und musterte die Umgebung.

      Er folgte ihrem Blick. »Was ist los?«

      Aleyna starrte noch einen Moment lang auf den Grabstein, seufzte leise und sah wieder zu ihm. »Ich dachte nur ...« Sie kehrte zu der Bank zurück und nahm Platz, nachdem sie noch einen letzten Blick in Richtung Wald geworfen hatte. »Also, nochmal von vorn. Was hat es mit diesem Traum auf sich, und welche Rolle spiele ich darin genau?«

      »Wie ich bereits sagte, Palina besitzt die Fähigkeit, Weissagungen zu träumen. In diesen tauchen Dinge auf, die in der Zukunft liegen. In deinem Fall ist es so, dass sie nicht dich als Person gesehen hat, sondern nur einen verschwommenen Schatten und die Farbe deiner Aura. Wir können fast nie alle Elemente eines Traumes deuten, doch in diesem war von einer Krankheit die Rede. Aber gleichzeitig wies diese Weissagung auch darauf hin, dass jenes Wesen mit der violetten Aura die Rettung sein würde.«

      Aleyna schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das alles einfach nicht, Noyan. Ich meine, Menschen, die sich in Tiere verwandeln können. Klingt an sich schon unglaublich, aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen und kann es akzeptieren. Auch, dass ich offenbar ein Mischling beider Rassen bin, klingt irgendwie nachvollziehbar. Aber die Sache mit der Aura und der Rettung - das ist mir zu hoch. Vor nicht einmal achtundvierzig Stunden war ich nur ein ganz normales Mädchen, das seinen Vater beerdigen musste, und jetzt soll ich ein ganzes Volk retten können? Eines, das ich nicht kenne und von dessen Existenz ich bis vor kurzem nicht einmal wusste?«

      »Manchmal passieren eben Dinge, die zu unwahrscheinlich klingen, um wahr sein zu können. Ich könnte dir eine weitere Geschichte erzählen, die fast genauso unglaublich ist.« Er sah ihr in die Augen und als sie nickte, schloss er für einen Moment die seinen. Er war nicht sicher, ob er das Richtige tat, aber in diesem Moment fühlte es sich so an.

      Also holte er tief Luft und begann zu sprechen. »In meinem Heimatdorf Fenwyr gab es einen jungen Wandler, der eine besondere Fähigkeit besaß. Er konnte mit dem bloßen Willen sein Gegenüber beeinflussen. So etwas nennt sich Mediator. Der Bursche war einer der Ersten, der Verluste durch die Krankheit erlitten hatte. Er sah seine gesamte Familie sterben, während er selbst offenbar verschont wurde. Der Wandler beschloss, seine Fähigkeit redlich auszunutzen. Wenn er also Hunger hatte, manipulierte er jemanden so, dass er etwas zu Essen bekam. Das funktionierte auch mit vielen anderen Dingen. Schlafplätze, etwas zu trinken, in der Menschenwelt war es Kleidung, sogar Geld. Die Liste ist endlos. Er nutzte diese Fähigkeit regelmäßig, wie ein richtiger Halunke eben. Eines Tages, als er mal wieder auf einem seiner Beutezüge war, begegnete ihm jemand, der ihn durchschaute.«

      Er schwieg kurz, knetete seine Hände nervös. »Dieser Jemand sollte sein nächstes Opfer sein, aber so weit kam es nicht mehr, denn man durchschaute ihn. Und so wurde er festgenommen, ins königliche Gefangenenlager gebracht und eingesperrt. Drei Tage saß er in einem dunklen Verlies, hatte keinen Kontakt zu anderen. Er bekam lediglich Essen und Trinken. Am vierten Tag brachte man ihn vor ein Gericht. Der Junge glaubte, sein letztes Stündlein hätte geschlagen, aber was dann geschah, war nicht das Erwartete. Einer der ältesten Gestaltwandler Rondarias, der Adler Romonix, tauchte neben ihm auf. Er besaß die Fähigkeit, seine Aura zu verbergen, daher bemerkte der junge Wandler ihn vorher nicht.«

      Wieder stockte er und für einen Moment glitt sein Blick ins Leere. »Romonix steckte den Jungen nicht erneut in ein Verlies, wie er befürchtet hatte, sondern machte ihm ein Angebot. Er zeigte ihm eine Alternative zu seinem bisherigen Lebenswandel auf.«

      Bis hierher hatte Aleyna schweigend gelauscht, doch jetzt hob sie die Hand. »Du redest vom Zirkel, oder?«

      Noyan lächelte. »Genau. Romonix bot dem Jungen an, dem Zirkel beizutreten. Dort würde man seine Fähigkeiten fördern und ihm die Möglichkeit geben, sein Leben in eine neue Richtung zu lenken.«

      Aleyna musterte ihn aufmerksam. Ihm wurde klar, dass sie ihn längst durchschaut hatte und wusste, dass er von sich selbst erzählte. »Und was hat der Junge getan? Hat er die Chance ergriffen?«, fragte sie leise.

      Noyan nickte. »Natürlich! Immerhin besaß er noch so viel Verstand, um zu begreifen, was ihm da angeboten wurde. Und er hat es bis heute nicht bereut.«

      Sie seufzte. »Ich vermute, was du mir sagen willst, ist Folgendes: Man kann alles erreichen, wenn man nur ausreichend an sich glaubt? Ein Wesen zu retten ist vielleicht möglich, Noyan. Du aber bist davon überzeugt, dass ich ein ganzes Volk retten kann!«

      »Wer nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt, oder in unserem Fall eher Rondaria!« Die Stimme, die urplötzlich aus dem Wald drang, ließ beide zusammenzucken. »Was Noyan damit sagen möchte: Wer kämpft, kann verlieren. Wer aber nicht den Mut besitzt, überhaupt zu kämpfen, hat auf jeden Fall verloren!«

       Aleyna

      Sie starrte zum Waldrand. Aus dem Dunkel hinter dem Grab trat ein alter Mann ins Sonnenlicht und sie blinzelte. Schlohweiße Haare umrahmten sein Gesicht, er ging mit gebeugtem Rücken und kam langsam auf sie zu. So gebrechlich sein Körper wirkte, seine Augen aber musterten die Umgebung und sie selbst aufmerksam. Aleyna erholte sich langsam von ihrem Schrecken.

      Bereits vor einigen Minuten hatte sie das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden, aber da sich Noyan ganz normal verhalten hatte ... war sie davon ausgegangen, sich geirrt zu haben. Nun aber ergab das Ganze einen Sinn.

      Noch während sie den Neuankömmling argwöhnisch betrachtete, kam ihr auf einmal etwas in den Sinn. Ein Name. Sein Name. »Guten Morgen, Romonix«, sagte sie und es ging ihr so leicht über die Lippen, als würden sie sich schon ewig kennen.

      Ein Lächeln glitt über das Gesicht des alten Mannes. »Kluges Köpfchen!«, sagte er und kam noch ein wenig näher.

      Hinter sich konnte sie Noyan überrascht keuchen hören. »Woher wusstest du ...?«

      »Ich habe dir und deiner Geschichte zugehört.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Du sagtest, dass der Adler plötzlich neben dir aufgetaucht ist und ebenfalls ein Mitglied des Zirkels ist. Und da du erneut nichts von seiner Anwesenheit bemerkt hast, habe ich einfach Eins und Eins zusammengezählt.«

      »Ich bin in der Tat Romonix, meines Zeichens der Älteste von Rondaria. Es freut mich, dich kennenzulernen, Aleyna! Ich kannte deinen Vater zwar nicht, aber es tut mir ehrlich leid, dass auch er von der Seuche betroffen war.« Der Alte hielt ihr die Hand hin und nach kurzem Zögern ergriff sie diese. Sein Griff war fester, als sie es erwartet hatte angesichts seines hohen Alters. »Ich bin von deiner Auffassungsgabe beeindruckt.«

      Er blickte an ihr vorbei zu Noyan, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte und nicht recht zu wissen schien, was er von all dem halten sollte. »Deine Geschichte zu erzählen, war der richtige Ansatz, Noyan.«

      Der junge Gestaltwandler schnaufte leise.

       Romonix

      »Und du bist hier, weil ...?« Der schnippische Unterton in der Stimme des Wolfes war kaum zu überhören. Er dachte, sie misstrauten ihm.

      Romonix lachte. »Das war eine Entscheidung des Zirkels. Die Königin weiß davon nichts. Ich bin hier, um dich zu unterstützen.« Das Palina vorhatte, Chiron auf die Erde zu schicken, sollte Noyan scheitern, verschwieg er vorerst. Der Adler hatte mitbekommen, das Aleyna nicht besonders positiv auf die Königin reagiert