Alisha Mc Shaw

Rondaria


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dringend nötig gehabt.

      Schlaftrunken tastete sie sich aus ihrem Zimmer durch den Flur. Sie machte das Licht nicht an, denn überall hingen Bilder von ihr und ihrem Vater und es fiel ihr immer noch schwer, diese zu betrachten. Sie nahm sich fröstelnd eine Jacke von der Garderobe und zog sie über, ehe sie die Tür öffnete.

      Vor ihr stand Noyan.

      Aleyna kniff die Augen zusammen und blinzelte, als könne sie so das Bild vor sich verändern. Als wäre er nur eine Halluzination. Vielleicht hatten die Tabletten doch mehr Nebenwirkungen, als sie dachte? Aber nein, selbst nach mehrmaligem Blinzeln stand Noyan immer noch vor ihr.

      »Guten Abend«, sagte er leise.

      Das war doch nicht zu glauben! Was wollte er hier? Hatte er denn gar keinen Respekt? Sie starrte ihn wortlos an. Er schien sich unter ihrem Blick äußerst unwohl zu fühlen.

      »Also ich ...«, setzte er an.

      Aleyna schlug ihm die Tür vor der Nase zu, ohne ihn ausreden zu lassen. Um Fassung ringend lehnte sie sich von innen dagegen. »Verschwinde!«

      Durch die Tür konnte sie ihn seufzen hören, aber das interessierte sie nicht. Unglaublich, dass dieser Typ die Dreistigkeit besaß, hier aufzutauchen, immerhin hatte er sie heute Vormittag einfach auf dem Friedhof liegen lassen! Okay, es war nicht der Friedhof gewesen. Er hatte sie in die kleine Kapelle gebracht, auf eine Bank gelegt und sie sogar in eine Decke gewickelt. Zumindest hatte der Bestatter gesagt, dass er sie so vorgefunden habe. Aber es ging ja schließlich ums Prinzip! Dieser Kerl und seine Begleitung hatten ihr endgültig einen Tag vermiest, den sie sowieso am liebsten aus ihren Gedanken streichen wollte.

      »Aleyna, bitte ...«, es klopfte mehrmals. »Ich möchte doch nur kurz mit dir reden!«, erklang es flehentlich.

      »Aber ich will nicht mit dir reden, hörst du? Sieh einfach zu, dass du Land gewinnst!« Sie stieß sich von der Tür ab. Woher wusste er überhaupt, wo sie wohnte?

      Sie lauschte nach draußen, doch außer dem monotonen Geräusch des Regens konnte sie nichts mehr hören. Müde schlurfte sie in die Küche. Ein Tee war genau das, was sie jetzt brauchte. Während sie Wasser aufsetzte und Pfefferminzblätter ins Teesieb gab, kehrten ihre Gedanken zu dem verwirrenden Traum zurück. Er hatte sich in ihr festgesetzt und wollte sie einfach nicht loslassen. Ihr Vater – ein Bär!

      Aleyna entwich ein entrüstetes Schnauben. Was war in ihrem Kopf nur durcheinander geraten, dass sie der Gedanke an den Wolf und dass, was er gesagt hatte, einfach nicht losließ? Irgendetwas unterschied den wirren Traum von ihren übrigen Albträumen. Dieser hier wirkte irgendwie richtig.

      Genauso real wie diese Frau, wie hatte er sie noch gleich genannt – Palina? Von all den Dingen, die sie an diesem Morgen erfahren hatte, war es deren in ihren Augen dreiste Aussage, sie sei eine Freundin ihres Vaters gewesen, die sie am meisten getroffen hatte.

      Ob diese Frau auch nur im Geringsten eine Ahnung davon hatte, wie schwer die letzten Jahre gewesen waren? Sicherlich nicht! Aleyna goss heißes Wasser in die Tasse und schüttelte den Kopf. Sie hatte ihren Vater zu Grabe getragen, und war nicht sonderlich erpicht darauf, sich weiter Märchen erzählen zu lassen. Mit dem dampfenden Gefäß in den Händen machte sie sich auf den Weg ins Wohnzimmer.

      Allem Widerwillen zum Trotz blieb sie an der Eingangstür stehen und äugte durch den Spion. Verblüfft wich sie zurück. Noyan war noch immer da draußen! War das zu fassen? Erneut spähte sie hinaus. Er wanderte vor ihrer Tür auf und ab, klatschnass. Er kann einem fast leidtun, dachte sie unwillkürlich. Vielleicht sollte sie ...? Nein!

      Mit einem energischen Kopfschütteln wandte sie sich von der Tür ab und stapfte ins Wohnzimmer. Nachdem sie die Teetasse abgestellt hatte, entfachte sie mit geübten Handgriffen ein Feuer. Wie oft hatten ihr Vater und sie hier zusammengesessen, zumindest, als die Krankheit noch nicht so weit fortgeschritten war. Über dem Kamin hing ein Bild, das sie vor einigen Jahren fotografiert hatte, als noch keiner von beiden überhaupt an eine Erkrankung gedacht hatte.

      Sie liebte diese Fotografie sehr. Es war die Einzige, die sie betrachten konnte, ohne dass ihr das Herz zerriss. Die Augen ihres Vaters funkelten lebensfroh, er strahlte innere Ruhe aus und wirkte wie ein ... wie ihr Fels in der Brandung. Gerade in den letzten Monaten vor seinem Tod hatte sie seinen Lebensmut schmerzlich vermisst. Seufzend ließ sie sich in den Ohrensessel vor dem Kamin fallen, nippte vorsichtig am Tee und betrachtete das Bild. Sie hatte das Gefühl, das ihr Vater vorwurfsvoll auf sie herabsah. »Denk nicht einmal daran!«, maulte sie in seine Richtung. »Er hat es nicht anders verdient, was kommt er auch einfach her? Soll er doch verrotten im Regen!«

      Sie zog die Füße in den Sessel und kuschelte sich noch tiefer hinein, darum bemüht, das Bild des tropfnassen Noyan aus ihrem Kopf zu vertreiben. Doch so sehr sie sich einreden wollte, dass es sie nicht interessierte, wenn er sich da draußen den Tod holte - es gelang ihr nicht. Nachdem sie einige Minuten damit verbracht hatte, angestrengt ins Feuer zu starren, sprang sie mit einem Seufzer auf. »Ich weiß, ich werde es bereuen!«, erklärte sie in Richtung des Bildes. »Keine Ahnung, warum ich das überhaupt tue!«

      Mit missmutigem Blick ging sie an die Eingangstür und öffnete sie. »Komm rein, ehe ich es mir anders überlege!«, murrte sie in die Dunkelheit und trat zur Seite.

      Völlig durchnässt betrat Noyan ihr kleines Zuhause. »Danke«, flüsterte er.

      »Halt. Schuhe aus! Du ruinierst mir das Parkett. Ich hol ein Handtuch«, wies sie ihn an. Er sollte bloß nicht glauben, dass sie jetzt auch noch freundlich zu ihm sein würde. Noyan sah verblüfft drein, nickte aber gehorsam und ging in die Knie, um die Schuhe auszuziehen. Sie verschwand im Bad und fischte ein Handtuch aus dem Schrank. Was war sie nur für ein Esel, dass sie ihrem Gewissen nachgegeben und ihn ins Haus gelassen hatte!

      Aber sie musste Klarheit über die Dinge haben, die sie heute Morgen gehört und vor allem glaubte, gesehen zu haben. Nur aus diesem Grund würde sie ihm die Chance geben, sich zu erklären. Sie betrachtete sich im Badezimmerspiegel und seufzte. Ihr Gesicht wirkte bei weitem nicht mehr so müde wie noch heute Morgen. Dank der Tablette hatte sie wenigstens ein bisschen schlafen können. Das hatte gut getan, sie fühlte sich ausgeruhter und ihre Wangen wiesen etwas Farbe auf.

      Mit dem Handtuch unter dem Arm verließ sie das Badezimmer. Noyans Schuhe standen ordentlich aufgereiht auf dem Fußabtreter, von ihm keine Spur, doch sie hörte das leise Knarzen des Dielenbodens im Wohnzimmer, wenn er sich bewegte. Ein kurzes Zögern, doch dann gab sie sich einen Ruck und betrat das Schlafzimmer ihres Vaters. Mit zittriger Hand holte sie ein Hemd und eine Hose aus dem Schrank.

      Sie huschte zur Wohnzimmertür und spähte hinein. Noyan saß mit nacktem Oberkörper auf dem Fell vor dem Kamin und breitete sein nasses Hemd vor sich auf dem Boden aus, damit es schneller trocknen konnte. Neugierig musterte sie ihn. Seine dunklen Haare hatten eindeutig einen Schnitt nötig, seine Haut war von der Sonne gebräunt und um seinen muskulösen Körperbau würde ihn vermutlich so mancher beneiden. Er war genau richtig proportioniert. Aber das wirklich faszinierende an ihm jedoch waren seine Augen. Als er sich zu ihr und sie ansah, war sie aufs Neue überrascht, wie tief sie zu blicken glaubte.

      »Soll ich mich einmal im Kreis drehen?« Ein amüsiertes Grinsen umspielte seine Lippen, dann stand er auf und drehte sich mit ausgebreiteten Armen.

      Hitze schoss in Aleynas Wangen. Sie warf ihm das Handtuch entgegen, dass er leise lachend auffing. »Blödmann!«, murmelte sie.

      Nachdem er sich umgezogen hatte - sie hatte mit hochrotem Kopf das Zimmer verlassen, um ihm einen Tee zu machen - seufzte Noyan sichtlich zufrieden auf und setzte sich auf das Sofa. »Danke!«, murmelte er, als sie ihm die dampfende Tasse reichte. Aleyna kletterte wieder in den Ohrensessel und starrte ins Feuer.

      »Kennst du das, wenn du aufwachst und einen Traum hattest, der sich so real anfühlt, dass du glaubst, noch den Geschmack dessen, was du verzehrt hast, auf der Zunge spüren zu können?«, fragte sie nach einer Weile angespannten Schweigens.

      Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Noyan zusammenzuckte und den Kopf zu ihr drehte. »Wie meinst du das?«

      »Na