die Affäre mit Jessica zeigt das was Neve mit ihren letzten Worten sagte: Sam ist ein verdammter Egoist. Immer denkt sie nur an sich, ohne an ihre Mitmenschen, oder an die Folgen ihrer Entscheidungen zu denken. Für sie gilt immer nur das, was sie denkt und glaubt. Alles andere kommt erst später.
Ihr ist bewusst, dass sie ihrer Frau vergangene Nacht eine gewaltige Last an Verantwortung überlassen hat. Wenn Neve nicht wieder auf die Beine kommt, würde Sam ihr Versprechen nicht halten können und ihrer Frau in den Tod folgen. Es wäre wieder einmal eine egoistische Handlung, mit der sie die Kinder alleine lassen würde. Es ist jetzt aber ausgesprochen und rückgängig kann sie den Gefühlsausbruch nicht mehr machen. Sie kann jetzt nur hoffen, dass Neves Gehirn zu benebelt war, als dass sie wusste was um sie herum geschah und welche Worte Sam aussprach.
»Mummys Finger bewegt sich«, quiekt Precious ganz leise. Hektisch springt sie von Sams Schoß und tritt an das Bett. Auch wenn Sam diese kleine Bewegung nicht gesehen hat, glaubt sie ihrer Tochter. Precious wird sich das nicht eingebildet haben.
Erfreut beobachtet sie die Maus dabei, wie sie Neves Hand umgreift.
»Mummy«, flüstert sie leise und blickt zu ihrer Mutter hoch. Sechs Wochen musste Precious mit ansehen, wie ihre Mutter regungslos im Bett lag und sich nicht bewegte. Die paar Zuckungen ihrer Muskeln wurden für Precious zur Gewohnheit. Sie verlor irgendwann die Hoffnung ihre Mutter würde aufwachen, weil sie verstand, dass das ohne einem neuen Herzen nicht passieren würde. Jetzt aber schlägt dieses neue Herz in Neves Brust und arbeitet daran, zum Alltag zurückzukehren.
Mit einem brummenden Laut dreht Neve den Kopf gerade. Sie beginnt schwerer zu atmen. Sam tritt ebenfalls an das Bett und beobachtet ihre Frau kritisch. Sie muss wohl träumen. Die Gesichtszüge der älteren Frau verhärten sich.
»Mummy drückt meine Hand«, flüstert Precious und blickt zu den beiden Händen hinunter. Sam schaut dort ebenfalls hin. Sie behält Neves Hand im Auge. Sie will nicht, dass Neve ihrer Tochter unbewusst wehtut und deren Hand eventuell zu stark drückt.
Die brummenden Laute gehen weiter. Die Atmung steigt. Die Maske beschlägt mit jedem ausatmen.
»Was hat Mummy?«, haucht Precious vorsichtig, nur um Neve nicht zu erschrecken.
»Ich denke, dass sie träumt«, antwortet Sam ebenso leise. Ihre Augen verweilen auf den Monitoren die Neves Vitalfunktionen überprüfen. Bis auf einen leicht erhöhten Herzschlag kann sie nichts Außergewöhnliches erkennen.
»Ich sage den Schwestern Bescheid.« Ohne darüber nachzudenken, dass sie Precious alleine bei ihrer Mutter lässt die ihre Handlungen noch keineswegs unter Kontrolle hat, verlässt Sam das Zimmer und eilt an den Tresen der Intensivstation. Nicht mal eine Minute später kehrt sie mit einer Schwester zurück, die mit Sicherheit froh sein wird, wenn Neve diese Station verlässt. Nicht wegen ihr als Patientin, sondern wegen ihrer viel zu besorgten und nervenden Frau.
Die Schwester kontrolliert sämtliche Geräte und Maschinen und würde am liebsten die Schultern zucken, beherrscht sich aber. Anstatt mit Sam zu reden, spricht sie bewusst Precious an.
»Deiner Mummy geht es gut. Sie träumt bloß. Es kann sein, dass sie stark zu schwitzen anfängt, aber das gehört zum aufwachen dazu. Mummys Körper muss sich langsam wieder an alles gewöhnen und das ist nach so langer Zeit nicht immer einfach. Verstehst du das?« Wissbegierig lauscht Precious der Schwester mit großen Augen und schaut neugierig zu ihrer Mutter zurück.
»Ja. Wie lange dauert es dann aber noch, bis Mummy wach ist?«
»Das kann niemand so genau sagen. Wenn sie aufwacht, wird sie nur für ein paar Minuten die Augen öffnen können, weil ihr Körper noch zu schwach ist. Sie wird noch sehr viel schlafen. Aber von Tag zu Tag wird das besser, bis sie irgendwann wieder ganz lange wach bleiben wird. Einige Patienten schaffen das schon nach drei Tagen und andere brauchen bis zu zwei Wochen dafür. Es kommt also ganz auf den Menschen alleine an.«
»Ok.« Verständnisvoll nickt Precious und schaut weiterhin zu ihrer Mutter, während die Schwester der Südländerin einen genervten Blick zuwirft und danach das Zimmer verlässt. Sam weiß selbst, dass sie nervt. Aber muss man das gleich so deutlich zum Ausdruck bringen?
»Alles gut, Mummy.« Precious' Stimme ertönt so ruhig, dass Sam überrascht zu ihr zurückblickt. Ihre kleine Hand liegt vorsichtig um Neves Wange, während die andere noch immer die Hand ihrer Mutter hält. Precious' Hand streichelt sanft Neves Wange. Schon nach einigen Sekunden wird Neves Atmung ruhiger und gleichmäßiger. Sam glaubt sich das einzubilden und blickt zu einem der Monitore zurück. Aber auch die Technik zeigt ihr an, dass sich Neves Herzschlag normalisiert. Und weil Precious das natürlich auch nicht entgeht, lächelt sie stolz zu Sam hoch, schaut dann aber wieder zu Neve zurück, die mit jedem Atemzug ruhiger wird, bis ihr Kopf auf die Seite rollt. Sie atmet wieder geregelter und lockert auch den Griff um Precious' Hand. Dennoch verbleiben die kleinen Finger in der großen Hand der älteren Frau, die irgendwie versucht ins Leben zurückzukehren.
»Sieh«, flüstert Sam freudig. Ihr Herz beginnt aufgeregt zu schlagen, als sie Neves bebende Augenlider sehen kann. Mit Neves Hand in ihrer eigenen, rutscht Precious zu Neves Kopf hoch und schaut ihr direkt in das Gesicht.
»Mummy?« Ihre Stimme ertönt ganz leise. Sie will ihre Mutter nicht erschrecken.
Als wenn sie auf Precious gehört hätte, öffnet Neve ganz langsam die Augen. Genau wie letzte Nacht huschen ihre Augen wild hin und her, bis sie bei Precious stehen bleiben. Auch wenn Sam sich gerne hinter Precious stellen und Neve zeigen möchte, dass sie ebenfalls da ist, verdrängt sie diese egoistische Handlung und tritt stattdessen einen Schritt zurück. Dieser Augenblick soll nur den beiden gehören. Schließlich ist sie lernfähig.
»Hallo Mummy«, haucht Precious. Ihr ganzes Gesicht strahlt, als Neve sie schwach aber mit relativ offenen Augen anschaut. Neve schluckt schwer. Ihr Blick ruht auf ihrer Tochter. Ihre Augen beginnen ganz langsam zu leuchten, Sam kann es sehen. Etwas was ihr Herz höherschlagen lässt.
»Precious.« Neves Stimme ertönt leise und kraftlos hinter der Maske. Erschrocken und schon fast geschockt, schlägt sich Sam eine Hand vor den Mund, nur um nicht vor Freude zu quieken. Neve hat es tatsächlich geschafft zu reden. Sie hat Kräfte mobilisiert, die eigentlich noch gar nicht da sind, nur um ihre Tochter zu begrüßen.
Tränen steigen in Sam auf. Das ist alles zu schön um wahr zu sein. Das muss alles ein Traum sein. Wahrscheinlich wacht sie gleich auf und stellt fest, dass sie wieder mal alles nur geträumt hat.
»Hallo Mummy«, freut sich Precious überschwänglich und drückt ihrer Mutter zahllose Küsse auf die Stirn. Dann zeigt sie zur Seite.
»Mommy ist auch hier«, bindet sie Sam mit in diese Begrüßung. Auch wenn Sam das eigentlich nicht wollte, tritt sie dennoch in Neves Blickfeld. Dieses kleine Aufeinandertreffen sollte wirklich nur Precious und Neve gehören. Die kleine Maus scheint aber ihren eigenen Plan zu haben.
Schwach hebt Neve den Blick und schaut zu Sam hoch. Die Südländerin könnte vor Glück und Freude heulen, weil sie ihrer Frau in die Augen blicken kann, verbietet sich diesen Gefühlsausbruch aber.
Neve schaut mit zittrigen Augen zu ihr hoch. Ihr Blick wird matt, er bekommt einen zerstreuten Ausdruck. Nach und nach legt sich ihre Stirn ganz langsam in mickrige Falten. Nachdenklich schaut sie Sam an, bis sie schwer ausatmet. Die Maske beschlägt, ihre Augen fallen zu. Sie bleiben geschlossen.
***
Die nächsten Tage ändert sich nichts an diesem Zustand. Neve kann nur für wenige Momente ihre Augen offenhalten. Etwas was selbst der behandelnde Arzt ungewöhnlich findet. Aber alle neu gemachten Tests erbringen gute Ergebnisse. Medizinisch betrachtet ist Neve auf dem besten Weg einer unkomplizierten Genesung, nur scheint ihre körperliche Kraft noch nicht zurückgekehrt zu sein. Der Arzt beruhigt Sams Sorge damit, dass die Wochen vor Neves Zusammenbruch offensichtlich zu anstrengend für ihren Körper waren und dieser sich nun ganz langsam von diesen Strapazen erholt. Etwas was Sam ganz und gar nachvollziehen kann.
Laura und die anderen rennen ihr auch schon seit Tagen hinterher, weil sie Neve endlich sehen wollen,